Die deutsche Justiz genießt ein gutes Ansehen und ist finanziell solide ausgestattet. Die Verfahrensdauer ist allerdings mäßig und beim Einsatz von IT sind die Gerichte geradezu rückständig. Dies und mehr zeigt das Justizbarometer der EU.
Die EU-Kommission hat die fünfte Auflage des EU-Justizbarometers vorgestellt. Dabei handelt es sich um eine jährlich herausgegebene statistische Auswertung, die sich aus Angaben der EU-Mitgliedstaaten sowie etlicher europäischer Vereinigungen aus dem Bereich der Justiz und Rechtspflege speist. Auf Grundlage dieser Daten versucht das Justizbarometer, die Gerichtswesen der Mitgliedstaaten hinsichtlich ihrer Effizienz, Qualität und Unabhängigkeit zu beurteilen.
Die Untersuchung gibt einen interessanten Eindruck von der relativen Leistungsfähigkeit europäischer Justizsysteme. Sie ist allerdings mit Vorsicht zu genießen, da nicht zu allen Metriken Daten sämtlicher Mitgliedstaaten vorliegen und eine Einteilung der sehr unterschiedlichen nationalen Systeme in die einheitlichen Kategorien des Justizbarometers zudem nicht immer mit der wünschenswerten Trennschärfe möglich ist.
105 Tage für ein Verwaltungsverfahren in Schweden, 1.391 in Zypern
Bei den Effizienzkennzahlen, die von 2010 bis einschließlich 2015 reichen, zeigte sich für Deutschland nur wenig Veränderung: Das Aufkommen erstinstanzlicher Zivilverfahren sank von 1,9 Zivilverfahren pro 100 Einwohner im Jahr 2010 auf 1,7 pro 100 Einwohner im Jahr 2015. Die durchschnittliche Erledigungsdauer dieser Verfahren stieg im selben Zeitraum von 184 auf 190 Tage. Für ein erstinstanzliches Verwaltungsgerichtsverfahren war noch einmal deutlich mehr Zeit nötig, im Schnitt 349 Tage. Beide Werte entsprechen einem Platz im Mittelfeld der EU-Staaten, deutlich hinter Luxemburg (86 Tage für ein Zivilverfahren) oder Schweden (105 Tage für ein Verwaltungsverfahren), aber noch sehr viel deutlicher vor Italien (527 Tage für ein Zivilverfahren) oder Zypern (1.391 Tage für ein Verwaltungsverfahren).
Eher mäßig wirken die deutschen Verfahrenszeiten vor allem dann, wenn man sie in Relation zu den Ausgaben für das Gerichtswesen setzt. Hier liegt Deutschland wie in den Vorjahren an dritter Stelle hinter Luxemburg und Großbritannien (setzt man die Ausgaben in Relation zum Bruttoinlandsprodukt, belegt Deutschland immer noch den sechsten Rang).
Seit 2010 hat Deutschland seine Ausgaben für das Gerichtswesen zudem um fast zwölf Prozent erhöht. Diese zusätzlichen Ausgaben sind allerdings augenscheinlich nicht dem Justizpersonal zugutekommen: Die Zahl der deutschen Richter ist mit 24 pro 100.000 Einwohner seit 2010 unverändert und liegt damit im oberen Mittelfeld. Die Frauenquote, die in Deutschland allerdings nur für die Bundesgerichte erfasst wurde, liegt mit 31 Prozent Richterinnen ebenfalls in etwa im Mittelfeld.
Polen halten ihre Gerichte für leidlich unabhängig
Gut schneidet die deutsche Justiz in der öffentlichen Wahrnehmung ab: Die allermeisten deutschen Privatpersonen und Unternehmen halten die Gerichte des Landes für unabhängig, wobei insbesondere bei Privatpersonen das Vertrauen von 2016 auf 2017 noch einmal um ein gutes Stück gewachsen ist. Nur Dänemark, Finnland und Österreich (bei Privatpersonen) beziehungsweise Luxemburg (bei Unternehmen) kommen auf noch (geringfügig) bessere Werte.
Ein krasses Gefälle zeigt sich in diesem Bereich insbesondere gegenüber Portugal, Slowenien, Italien, Kroatien, Spanien, Bulgarien und der Slowakei, wo das Mistrauen in die Justiz beinahe genauso stark ausgeprägt ist wie hierzulande das Vertrauen.
Polen, dessen rechtskonservative Regierung seit Ende 2015 entgegen heftigen Protests der EU die legitimen Verfassungsrichter des Landes daran hindert, ihre Arbeit zu tun, landet in dieser Metrik übrigens im (unteren) Mittelfeld.
2/2: Wenig IT-Einsatz bei deutscher Justiz
Schwache Werte verzeichnet Deutschland wiederum beim Einsatz digitaler Kommunikationstechnologie: Gemäß einer Umfrage nutzen nur knappe 20 Prozent der deutschen Anwälte elektronische Kommunikationsmittel im Austausch mit Gerichten, noch weniger zur elektronischen Signatur von Dokumenten oder zur Klageerhebung. Eine geringere Nutzung digitaler Technologien liegt nur noch in Luxemburg, Griechenland und Zypern vor.
Demgegenüber liegt der Anteil elektronischer Gerichtskommunikation in Estland, Portugal, Italien, Tschechien, Spanien, Dänemark, Ungarn, Litauen, Schweden und Frankreich jeweils zwischen 80 und 99 Prozent.
Als Gründe für die nur wenig ausgeprägte Nutzung gaben die befragten Anwälte der schwach abschneidenden Staaten vor allem mangelnde Verfügbarkeit entsprechender Angebote beziehungsweise schlechte Erfahrungen mit deren Nutzung an. Einige verwiesen auch auf fehlende rechtliche Rahmenbedingungen oder fehlendes Vertrauen.
Erst Recht ist hierzulande nicht an innovative Ansätze zu denken, etwa die Information der Parteien über den Fortgang des Verfahrens via Internet oder die Mitteilung von Terminverschiebungen per SMS oder E-Mail, wie sie laut Justizbarometer bereits in etlichen Mitgliedstaaten praktiziert wird.
Deutschland Spitzenreiter bei den Gerichtskosten
Erstmals wurde in diesem Jahr auch die Höhe der Gerichtsgebühren in den EU-Staaten erfasst. Hier schneidet Deutschland schwach ab: Die Gebühren für einen Zivilrechtsstreit mit einem höheren Streitwert (das Justizbarometer veranschlagt 6.000 Euro) liegen in keinem anderen EU-Staat so hoch wie hier. Die Gebühren für einen Streit über einen geringen Betrag (das Justizbarometer veranschlagt die Summe, die als monatliches Einkommen der Armutsgrenze entspricht) liegt in Deutschland am sechsthöchsten – noch teurer sind solche Verfahren nur in Finnland, Lettland, Estland, Portugal und Ungarn.
Ebenfalls zum ersten Mal in diesem Jahr enthält das Justizbarometer Angaben zur Häufigkeit, mit der Verbraucher die Schlichtungsstelle der EU für Streitigkeiten im Online-Versandhandel nutzen. Online-Händler und andere Dienstanbieter müssen auf diese Möglichkeit seit Anfang 2016 hinweisen. In Deutschland liegt die Nutzungsquote derzeit bei acht pro 100.000 Einwohner, was hinter Litauen, Großbritannien, Estland und Malta der fünfthöchste Wert ist. In Tschechien , Polen, der Slowakei und Finnland machen hingegen nicht einmal 2 von 100.000 Einwohnern vom Streitschlichtungsangebot der EU Gebrauch.
Constantin Baron van Lijnden, Justizbarometer 2017: Deutsche Gerichte sind unabhängig und unmodern . In: Legal Tribune Online, 18.04.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/22669/ (abgerufen am: 19.04.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag