Vor allem der Absturz der Germanwings-Maschine hat der Diskussion über ein Schmerzensgeld für Angehörige neue Brisanz verliehen. Ein entsprechendes Gesetzesvorhaben soll noch vor der parlamentarischen Sommerpause auf den Weg gebracht werden. Vermutlich wird die Regierung einem Gesetzentwurf Bayerns folgen. Die Vorschläge gehen allerdings nicht weit genug, findet Elmar M. Giemulla.
Seit dem Absturz der Germanwings-Maschine beschäftigt sich die Regierung mit der seit Langem fälligen Verbesserung der Rechte Hinterbliebener. Die gewaltsame Tötung eines Menschen ist für dessen nächste Angehörige in den meisten Fällen mit großem seelischem Leid und anderen schwerwiegenden Folgen verbunden. Daher ist eine finanzielle Entschädigung unabhängig vom darüber hinaus zu zahlenden Schadensersatz folgerichtig. In den meisten europäischen Staaten und vor allem in den USA wird eine solche bereits in unterschiedlichen Formen gewährt.
Nach einem Gesetzentwurf aus Bayern soll der Anspruch allerdings nur bei Vorsatz oder Fahrlässigkeit des Unfallverursachers bestehen. Der entsprechende Nachweis liegt danach bei den Hinterbliebenen. Das mag für den Fall eines Mordes oder anderer Situationen angemessen sein, in denen sich der Tod eines Menschen kausal auf die konkrete Handlung eines anderen Menschen zurückführen lässt. Solche Konstellationen sollten aber eher vom Opferentschädigungsgesetz als von einem Haftungsgesetz abgedeckt sein.
Denn die dem modernen Haftungsrecht zugrunde liegende Lebenswirklichkeit ist von Situationen geprägt, in denen Menschen als Folge des Versagens von Technik oder durch das zufällige und eigentlich unwahrscheinliche Zusammentreffen unglücklicher Umstände sterben, also durch das, was man landläufig und auch juristisch als "Unfall" bezeichnet. Natürlich können auch solche Unfälle durch menschliches und vorwerfbares Fehlverhalten ausgelöst worden sein. Dies nachzuweisen ist allerdings oftmals unmöglich, zumindest für den Außenstehenden. Es dennoch zu verlangen, würde den Anspruch deshalb im Ergebnis vielfach ins Leere laufen lassen.
Abkehr von der Gefährdungshaftung
Nicht zufällig gelten deshalb bei der Entschädigung materieller Schäden beispielsweise im Straßenverkehr, im Luftverkehr oder im Eisenbahnverkehr die Grundsätze der Gefährdungshaftung. Dabei muss dem Schädiger aus guten Gründen kein Verschulden nachgewiesen werden.
Zumutbar ist der Verschuldensnachweis durch die Hinterbliebenen etwa bei Unfällen im Straßenverkehr. Dort sind Vorgänge und das Umfeld durchschaubar, es ist für Geschädigte in aller Regel erkennbar, wer welche Vorschriften missachtet hat.
Im Luft- oder Eisenbahnverkehr ist den Hinterbliebenen der Nachweis von Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit hingegen unmöglich. Menschen bewegen sich dort passiv in einem System, das sie für ihre Nutzung nicht durchschauen müssen, auf dessen Funktionieren sie sich aber gerade deshalb umso mehr verlassen müssen. Doch gerade in diesen Fällen müssten die Geschädigten nach der Bayerischen Initiative beweisen, welche Person im Rahmen einer komplexen technischen, organisatorischen und arbeitsteiligen Gesamtheit konkret welchen Fehler gemacht hat und dass dieser Fehler vorsätzlich oder unter Missachtung der "im Verkehr erforderlichen Sorgfalt" begangen wurde.
Dies kann zumeist nicht gelingen, und sollte das Gesetz in der jetzigen Form verabschiedet werden, entstünde unweigerlich der Eindruck, dass der Gesetzgeber zwar formal einen Anspruch gewährt, ihn allerdings materiell so ausgestaltet, dass er praktisch wirkungslos bleibt.
2/2: Ungleiches nicht gleich behandeln
Der bayerische Gesetzentwurf krankt daran, dass er alle Formen von Tötungen und somit auch sämtliche denkbaren Unfallgeschehen in einen Topf wirft und zudem keinen Unterschied macht zwischen individuellen und systemischen Verkehrsformen. So lässt auch die beabsichtigte "billige Entschädigung" für die Bemessung des Angehörigenschmerzensgeldes befürchten, dass man hier Maßstäbe des Straßenverkehrs anlegen könnte, die der Sache nicht gerecht werden. Zwar bleibt die Bemessung dem Gericht überlassen; allerdings dürfte der in der Gesetzesbegründung genannte durchschnittliche Entschädigungsbetrag von 7.500 Euro gleichsam als Empfehlung verstanden werden.
Dieser Betrag ist besser als das "Nichts", das Angehörige nach der aktuellen Gesetzeslage bekommen. Für Unfälle im Individualverkehr wie etwa Verkehrsunfälle, bei denen der Verschuldensnachweis immerhin als möglich erscheint, ist der Vorschlag insofern akzeptabel; auch vor dem Hintergrund der Kosten der privaten Autohaltung für jeden Verkehrsteilnehmer, die mit einer zwangsläufigen Anhebung der Haftpflichtversicherungsprämien die private Kfz-Nutzung wesentlich verteuern würden. Denn Unfälle sind im Straßenverkehr mit knapp 4.000 Toten im Jahr allein in Deutschland weitaus häufiger als im Luftverkehr, wo schon bei 1.000 Toten jährlich weltweit von einem "schwarzen Jahr" gesprochen wird.
Für Opfer von Luftfahrt- oder auch Eisenbahnkatastrophen wären solche Beträge indes völlig unakzeptabel; das mögliche Schmerzensgeld ist im Verhältnis zum Problem des Verschuldensnachweises und dem Prozessrisiko mit teuren Gutachten zu niedrig. Dieses Missverhältnis könnte Geschädigte davon abhalten, das Angehörigenschmerzensgeld gerichtlich zu erstreiten. Auch deshalb sollte auf das Erfordernis des Verschuldensnachweises verzichtet werden. Die Höhe der Entschädigungsleistung könnte man nach den Maßstäben ausländischer Rechtsordnungen ausrichten, in denen sie bereits gewährt wird; sicherlich sollte sie das Zehn-, wenn nicht das Zwanzigfache der avisierten 7.500 Euro betragen.
Mut zu differenzierten Regelungen
Dabei wäre es rechtlich vertretbar, Hinterbliebene, die einen Angehörigen als Opfer eines Straßenverkehrsunfalls zu beklagen haben, anders zu behandeln als Hinterbliebene einer Flugzeug- oder Eisenbahnkatastrophe. Denn abgesehen von den eben dargelegten Argumenten wäre dies auch vor dem Hintergrund der deutlich höheren statistischen Wahrscheinlichkeit, im Straßenverkehr zu Tode zu kommen, und der unterschiedlichen Handlungs-, Entscheidungs- und Einwirkungsmöglichkeiten als Verkehrsteilnehmer, gerechtfertigt.
Wer sich in ein Auto setzt, nimmt aktiv und als eines von Tausenden ihn umgebender Individuen am Geschehen um ihn herum Teil; er ist im wörtlichen Sinne "Verkehrsteilnehmer". Der Autofahrer hat deshalb auch vielfältige Handlungsoptionen, das Unfallrisiko entscheidend zu minimieren. Er hat die Möglichkeit, eine mehr oder weniger sichere Fahrtroute zu wählen und er kann mit einer behutsamen und umsichtigen Fahrweise seine Unfallwahrscheinlichkeit auch für den Fall eines Fremdverschuldens nachhaltig reduzieren.
Wer ein Flugzeug oder die Bahn besteigt, begibt sich dagegen so vollständig seines Einflusses auf sein Schicksal wie kaum in einer anderen Lebenssituation. Er kann nichts dazu beitragen, sicher ans Ziel zu kommen und vertraut sich und sein Leben vorbehaltlos anderen an. Mehr noch: Er begibt sich in ein hochkomplexes, technisch und organisatorisch in sich verwobenes System verschiedenster Einflussgrößen mit den entsprechenden Schnittstellenrisiken. Umso mehr muss er sich darauf verlassen können, dass das System alles daran setzt, ein Höchstmaß an Sicherheit herzustellen.
Der Ansatz für das Angehörigenschmerzensgeld sollte deshalb nicht eine vorwerfbare vorsätzliche oder fahrlässige Einzelhandlung sein, sondern die Enttäuschung des Vertrauens in die Funktionsfähigkeit des Systems und in die Effektivität seiner staatlichen Kontrolle. Hohe Entschädigungsbeträge für das Angehörigenschmerzensgeld würden durch ihre missbilligende Wirkung helfen, dieses Vertrauen wiederherzustellen und diese Verkehrsträger zudem dazu veranlassen, noch mehr als bisher in die Sicherheit des Verkehrsablaufs zu investieren.
Der Autor Prof. Dr. Elmar M. Giemulla ist Honorarprofessor für Luftrecht an der Technischen Universität Berlin
Prof. Elmar M. Giemulla, Schmerzensgeld für Angehörige: Bayerns Vorschläge gehen nicht weit genug . In: Legal Tribune Online, 15.05.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/15535/ (abgerufen am: 30.05.2023 )
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