"Pelham vs. Kraftwerk" und "Pressesnippets" wurden seit Jahren erwartet, schlugen aber gar nicht besonders ein. Dafür kippte der EuGH die Pkw-Maut, kritisierte das Weisungsrecht für Staatsanwälte und grenzte das Recht auf Vergessen ein.
1/11: Keine Angst vor CETA
Gleich zu Beginn des Jahres zogen die Richter in Luxemburg einen Schlussstrich unter eine hitzige Debatte: Der EuGH hatte keine unionsrechtlichen Bedenken gegen den Streitschlichtungsmechanismus im CETA-Abkommen (EuGH-Gutachten 1/17 v. 30.04.2019).
Auf Antrag Belgiens sollten die Richter mit dem Gutachten wesentliche Fragen zur vorgesehenen Investor-Staat-Streitbeilegung klären. Im Ergebnis sahen sie keine Gefahr für die Autonomie des Unionsrechts. Auch der Zugang zu unabhängigen Gerichten werde nicht beeinträchtigt. Die Richter hatten auch keine grundlegenden Bedenken, was den Grundsatz der Gleichbehandlung und das Gebot der Wirksamkeit des Unionsrechts angeht.
2/11: Eine Stechuhr für alle?
Die tatsächlich geleistete Arbeitszeit muss erfasst und dokumentiert werden. Nur so wird effektiver Arbeitnehmerschutz gewährleistet, entschied der EuGH (Urt. v. 14.05.2019, Az. C-55/18). Das sorgte erstmal für ziemlich viel Aufregung: Wird nun die Vertrauensarbeitszeit abgeschafft? Regiert bald überall die Stechuhr?
Ganz so drastische Folgen hatte das Urteil dann doch nicht. Zwar verlangt der EuGH damit klare Regeln zur Erfassung und Dokumentation der Arbeitszeit. Dennoch bleibt dem deutschen Gesetzgeber bei der Umsetzung der EU-Arbeitszeit-Richtlinie (2003/88/EG) ein gewisser Spielraum.
3/11: Deutsche Staatsanwälte nicht unabhängig genug
Der EU-Haftbefehl soll eigentlich dazu führen, dass Tatverdächtige und gesuchte Straftäter schnell und unkompliziert in einen anderen EU-Land überstellt werden können, weil die Justizbehörden Entscheidungen untereinander anerkennen. Doch dieses System wackelt seit einer Entscheidung des EuGH: Die deutschen Staatsanwälte sind nicht unabhängig genug, um einen EU-Haftbefehl auszustellen (Urt. v. 27.05.2019, Az. C-508/18), entschied er. In Deutschland sei nämlich nicht gesetzlich ausgeschlossen, dass die Justizminister mit Weisungen im Einzelfall Einfluss auf die Arbeit der Staatsanwaltschaft nehmen könnte. Die sei deshalb nicht als unabhängige "Justizbehörde" im Sinne des EU-Rahmenbeschlusses zum Haftbefehl (2002/584/JI) anzusehen.
In Deutschland wird seitdem jeder EU-Haftbefehl auch von einem Richter unterzeichnet. Doch die Entscheidung hat auch dazu geführt, dass Haftbefehle aus anderen EU-Ländern ebenfalls in Frage gestellt werden. So hat der EuGH kürzlich zwar die Vorgehensweise in Österreich gebilligt, musste nun aber auch prüfen, ob Frankreich, Schweden und Belgien bei der Ausstellung von EU-Haftbefehlen den Vorgaben genügen.
4/11:Strenge Vorgaben für die Schadstoffmessung
Schlechte Luft in den Innenstädten und drohende Fahrverbote: In Dutzenden Städten wird der EU-Grenzwert für Stickstoffdioxid überschritten. Aber wird überhaupt richtig gemessen? Das klärte der EuGH im Juni und machte den Mitgliedstaaten dabei strenge Vorgaben (Urt. v. 26.06.2019, Az. C-723/17): Es kommt nicht auf den Durchschnittswert der städtischen Messstationen an, schon die Überschreitung von Grenzwerten an einzelnen Messstationen stellt einen Verstoß dar.
Ob richtig gemessen wird, können die betroffenen Bürger gerichtlich überprüfen lassen. Geklagt hatten in dem Fall Bürger aus der Region Brüssel. Doch auch für deutsche Gerichte gilt damit, dass sie überprüfen müssen, ob die Behörden ihr Ermessen bei der Auswahl der Messstationen richtig ausgeübt haben.
5/11: Moses Pelham durfte Kraftwerk-Song samplen
Rund 20 Jahre dauerte der Streit zwischen der Band Kraftwerk und dem Komponisten Moses Pelham um eine zwei-Sekunden-Tonsequenz, die Pelham aus dem Kraftwerk-Song "Metall auf Metall" für "Nur mir" mit Sabrina Setlur übernommen hatte. Dreimal landete der Streit vor dem BGH, zwischenzeitlich entschied das BVerfG, dass ein Sampling-Verbot unzulässig sei, aber auch damit waren noch nicht alle Fragen geklärt.
Schließlich urteilte der EuGH (Urt. 29.07.2019, Az. C-476/17): Zwar sei auch die Übernahme kürzester Rhythmussequenzen bereits eine Vervielfältigung eines Songs, die grundsätzlich nur dem Inhaber der Rechte an diesem zustehe. Allerdings liege im Fall des Samplings durch andere Künstler keine Vervielfältigung im Sinne der Richtlinie vor, wenn die Sequenz in geänderter und beim Hören nicht wiedererkennbarer Form in ein neues Werk eingefügt werde.
6/11: Pkw-Maut gekippt
Aus dem Prestigeprojekt der CSU in der großen Koalition wurde nichts: Der EuGH kippte die geplante PKw-Maut, weil sie Autofahrer aus dem Ausland benachteilige (Urt. v. 18.08.2019, Az. C-591/17).
Zwar sah das sogenannte Infrastrukturabgabegesetz vor, dass deutsche Autofahrer ebenso wie ausländische die Pkw-Maut entrichten müssten. Allerdings sollten Inländer zugleich über eine Erleichterung bei der Kfz-Steuer entsprechend entlastet werden.
Das im Zusammenhang betrachtet stelle eine mittelbare Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit dar und verstoße gegen die Grundsätze des freien Warenverkehrs und des freien Dienstleistungsverkehrs, so der EuGH. Nun drohen Auseinandersetzungen um die Kündigung der Mautverträge und es ist weitgehend unklar, welche finanziellen Folgen die Entscheidung für den Bund haben wird.
7/11: Kein "ewiges Widerrufsrecht"
Es ging um die Eheleute Romano, einen Kredit für den Hausbau und das "ewige Widerrufsrecht", das nach der verbraucherfreundlichen Rechtsprechung des BGH bestehen sollte, sobald ein Unternehmer nicht ordnungsgemäß über Widerrufsrechte bei Fernabsatzverträgen unterrichtet hat.
Der EuGH setzte dem allerdings ein Ende (Urt. v. 11.09.2019, Az. C-143/18): Auch bei Fernabsatzverträgen erlösche ein Widerrufsrecht, wenn der Vertrag auf ausdrücklichen Wunsch des Verbrauchers vollständig erfüllt werde. Und um zu diesem Ergebnis zu kommen, habe der BGH eben "erforderlichenfalls eine gefestigte nationale Rechtsprechung abzuändern", um zu einer Auslegung des BGB zu kommen, die mit der EU-Richtlinie zum Fernabsatz vereinbar ist.
8/11: Pressesnippets nicht ohne die EU-Kommission
Die Bundesregierung hätte das deutsche Leistungsschutzrecht für Presseverlage der EU-Kommission zur Prüfung vorlegen müssen. Hat sie aber nicht und deshalb erklärten die Luxemburger Richter die 2013 von CDU/CSU und FDP beschlossene Regelung, die es Suchmaschinen untersagt, kurze Ausschnitte und Zusammenfassungen von Pressetexten (sog. Snippets) zu veröffentlichen, für nicht anwendbar (Urt. v. 12.9.2019, Az. C-299/17).
Überraschend war die Entscheidung des EuGH nicht. Umstritten ist das Thema allerdings nach wie vor: Inzwischen geht es aber vor allem darum, im Rahmen der EU-Urheberrechtsreform ein europäisches Leistungsschutzrecht umzusetzen.
9/11: Europäische Grenzen für das Recht auf Vergessen
Vor fünf Jahren hatte der EuGH mit einem Grundsatzurteil ein "Recht auf Vergessenwerden" im Internet eingeführt. Nun präzisierte er das in zwei Entscheidungen (Urteile vom 24.09.2019, Az. C-136/17 und C-507/17) und setzte ihm dabei gewissermaßen geographische Grenzen: Suchmaschinenbetreiber wie Google müssen Links aus ihrer Ergebnisliste zwar nicht weltweit, aber in allen EU-Versionen der Suchmaschine löschen. Außerdem sollen sie Internetnutzer möglichst davon abzuhalten, von einem EU-Staat aus auf die entsprechenden Links in Nicht-EU-Versionen der Suchmaschine zuzugreifen.
Zudem müssten Links, die zu Webseiten mit heiklen Informationen führen, auf Antrag nicht zwingend gelöscht werden. Suchmaschinenbetreiber müssten aber prüfen, ob die Aufnahme in die Ergebnisliste unbedingt erforderlich sei, um die Informationsfreiheit anderer Internetnutzer zu schützen.
10/11: Mehr als bloßes "Notice and take down"
Dürfen die sozialen Netzwerke wie Facebook dazu verpflichtet werden, rechtswidrige Äußerungen auf ihren Plattformen nicht nur zu löschen, sondern selbst nach weiteren wort- bzw. sinngleichen Inhalten zu suchen und diese ebenfalls zu entfernen? Das wollte der Österreichische Oberste Gerichtshof vom EuGH wissen. Der sagte: Ja, das ist schon möglich (Urt. v. 04.10.2019, Az. C-18/18).
Zwar gilt nach der europäischen E-Commerce-Richtlinie weiterhin, dass die Plattformbetreiber nicht allgemein verpflichtet sind, die von ihnen übermittelten oder gespeicherten Informationen "zu überwachen oder aktiv nach Umständen zu forschen, die auf eine rechtswidrige Tätigkeit hinweisen". Aber das was technisch möglich ist, könne man durchaus verlangen: Dazu gehöre es, wortgleiche Äußerungen zu löschen, unter Umständen aber auch sinngleichen Inhalte zu sperren. Für letzteres gelten allerdings enge Grenzen: Die Aussage muss im Vergleich zum Inhalt der Ursprungsäußerung im Wesentlichen unverändert geblieben sein und die Einzelheiten umfassen, die in der gerichtlichen Verfügung genau bezeichnet sind.
11/11: Polen: Es darf nicht nach Willkür aussehen
Ein polnisches Gesetz, mit dem das Ruhestandsalter von Richtern an den ordentlichen Gerichten herabgesetzt werden sollte, verstieß gegen EU-Recht, so der EuGH. Zwar hatte Polen das umstrittene Gesetz zwischenzeitlich bereits geändert (und dabei eine einheitliche Altersgrenze für Männer und Frauen vorgesehen, nachdem zunächst Frauen mit 60, Männer jedoch erst mit 65 in den Ruhestand geschickt werden sollten). Dennoch gaben die Richter einer Vertragsverletzungsklage der EU-Kommission statt (Urt. v. 05.11.2019, Az. C-192/18).
Die Entscheidung kann als ein klares Signal an die rechtskonservative PiS-Regierung in Polen gesehen werden, die das Justizsystem seit Jahren mit etlichen Gesetzen umbaut. Es dürfe nicht so aussehen, als ob der Justizminister missliebige Richter einfach in den Ruhestand schicken kann, erklärte der EuGH. Schon zuvor hatte er ein Gesetz zum Ruhestandsalter für Richter an Polens Oberstem Gericht für europarechtswidrig erklärt (Urt. v. 24.06.2019, Az. C-619/18).
Sollten Juristen kennen: 11 wichtige Urteile des EuGH aus 2019 . In: Legal Tribune Online, 13.12.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/39207/ (abgerufen am: 29.11.2023 )
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