Ein Strafverfahren gibt dem EuGH Gelegenheit, sich mit dem EU-Zulassungssystem für Pflanzenschutzmittel zu beschäftigen. Die Schlussanträge enttäuschen aber und zeigen: Das "Vorsorgeprinzip" bleibt unscharf, so Daniela Winkler und Kristina Schmidt.
Das europäische Zulassungssystem für Pflanzenschutzmittel ist "solide". Zu diesem Ergebnis kommt die Generalanwältin am Europäischen Gerichtshof (EuGH) Eleanor Sharpston in ihrem Schlussantrag vom 12. März 2019. Und zwar insbesondere weil dieses - durch die Pflanzenschutzmittelverordnung (EG-VO Nr. 1107/2009) eingeführte - System auf dem Vorsorgeprinzip beruhe und die zuständigen Behörden nicht daran hindere, einen Antrag auf Zulassung in Anwendung des Vorsorgeprinzips abzulehnen, bestünden keine Zweifel an der Gültigkeit der Verordnung. Mit deren (Un-)Gültigkeit muss sich der EuGH erstmals nach einem Vorabentscheidungsersuchen aus einem französischen Strafverfahren beschäftigen (Az.: C-616/17).
Mehrere Mitglieder einer französischen Anti-Gentechnik-Gruppe hatten Kanister mit Unkrautvernichtungsmitteln, die "Roundup" – eine Glyphosat-Chemikalie – enthielten, beschädigt. Sie wollten damit auf die Gefahren aufmerksam machen, denen die menschliche Gesundheit und die Umwelt durch den Einsatz von Glyphosat ausgesetzt wird. In der Folge wurden sie wegen Sachbeschädigung angeklagt. Ein zweites Vorabentscheidungsersuchen ebenfalls aus einem französischen Strafverfahren ist noch anhängig (Az.: C-115/18).
Das vorlegende französische Gericht ist der Ansicht, dass die Strafbarkeit der Angeklagten von der Gültigkeit der Pflanzenschutzmittelverordnung abhängt. Sollte sich herausstellen, dass glyphosathaltige Produkte Risiken für Gesundheit und Umwelt bergen, die Verordnung insofern mit dem Vorsorgeprinzip unvereinbar sein, wären die Angeklagten freizusprechen. Die auf der Grundlage dieser Verordnung erfolgten Zulassungen wären dann nichtig. Aus diesem Grund hat das Gericht beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem EuGH mehrere Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen. Damit ist der EuGH ein weiteres Mal berufen, sich zur Reichweite und Umfang des Vorsorgeprinzips zu äußern.
Vorsorge heißt vor allem Verfahren
Die Schlussanträge der Generalanwältin zeigen, wie schwer es ist, das Vorsorgeprinzip in handhabbare Begriffe zu fassen. Vorsorge meint präventives, vorausschauendes Handeln: Die Wirkungen menschlichen Handelns sind bereits im Vorfeld auf mögliche Auswirkungen zu prüfen. In der konkreten Rechtsanwendung ist der Vorsorgegrundsatz insbesondere deshalb besonders anspruchsvoll, da er sich in einem Spannungsverhältnis von wissenschaftlicher (Un-)Kenntnis, gesellschaftlicher Wahrnehmung und politischer Entscheidungsnotwendigkeit bewegt. Vorsorge ist gerade nötig, wenn wissenschaftliche Sicherheit über das Toxizität und Auswirkungen neuer Stoffe auf Leben, Gesundheit und Umwelt fehlen.
Da inhaltliche Maßstäbe schwer aufzustellen sind, gewinnt das europäische Vorsorgeprinzip insbesondere prozedurale Bedeutung. Entsprechend der Mitteilung der Kommission vom 2. Februar 2000 und entsprechenden sekundärrechtlichen Umsetzungen erfolgt Risikovorsorge durch wissenschaftliche Risikobewertung und politisches Risikomanagement. Ersteres meint das wissenschaftliche Verfahren, welches eine Gefahr ermittelt und beschreibt, die Exposition bewertet und das Risiko bezeichnet. Im Rahmen des Risikomanagements werden auf der Grundlage einer Nutzen-Risiko-Analyse die zu ergreifenden Maßnahmen ermittelt.
Wie muss das Zulassungsverfahren für gefährliche Stoffe aussehen?
Die Anwendung von Glyphosat ist politisch wie wissenschaftlich hoch umstritten. Dennoch wurde es erst 2017 auf europäischer Ebene für weitere fünf Jahre zugelassen. Die konkrete Genehmigung erfolgt auf mitgliedstaatlicher Ebene. Das von der Verordnung vorgesehene Genehmigungsverfahren ist grundsätzlich im Sinne des Vorsorgeprinzips ausgestaltet (vgl. Erwägungsgrund Nummer 8). Gegenstand der Vorabentscheidung waren Fragen nach der Unparteilichkeit, der Transparenz und der wissenschaftlichen Tragfähigkeit des in der Verordnung (EG) Nr. 1107/2009 vorgesehenen Zulassungsverfahrens.
Während auf der politischen Ebene ein weiter Ermessensspielraum besteht, der auch in den Schlussanträgen der Generalanwältin Sharpston besonders betont wird, erfordert die wissenschaftliche Ebene eine Prüfung, die sich auf das konkret in Rede stehende Risiko bezieht und unter Ausschöpfung aller zugänglichen Erkenntnisquellen erfolgt. Allgemein spricht die Generalanwältin ebenfalls davon, dass die Risikobewertung "auf der Grundlage der zuverlässigsten verfügbaren wissenschaftlichen Daten und der neuesten Ergebnisse der internationalen Forschung" erfolgen müsse. Diesen Maßstab hatte der EuGH schon in früheren Entscheidungen angelegt.
Die in der Rs. C 616-17 aufgeworfenen Vorlagefragen belegen, wieder einmal, dass über die konkreten Voraussetzungen und die Rechtswirkungen des Vorsorgeprinzips noch keine abschließende Einigkeit herrscht. Vor diesem Hintergrund sind die Schlussanträge von Generalanwältin Sharpston ernüchternd. Die konkreten Fragen werden nicht nur sehr allgemein beantwortet. In der genaueren Analyse zeigt sich zudem, dass die Schlussanträge dem Grundgedanken des Vorsorgeprinzips in Teilen zuwiderlaufen: Soll das Vorsorgeprinzip nicht inhaltsleer werden, bedarf es einer detaillierten Ausfüllung des Verfahrensrahmens, insbesondere der wissenschaftlichen Bewertung. Wissenschaftlichkeit setzt nicht nur – wie vielfach betont – eine Berücksichtigung der "neuesten Ergebnisse der internationalen Forschung", sondern auch Objektivität und Transparenz der wissenschaftlichen Vorarbeiten voraus.
Schlussanträge zu Glyphosat bleiben unbefriedigend
Erst auf diesem Weg erfolgt die notwendige Rationalisierung, welche ein diffuses Unwissen oder auch nur Unbehagen in eine überprüfbare Risikoabschätzung ermöglicht. Die Bedenken der Kläger sind aus dieser Perspektive zumindest beachtenswert. Die Antworten der Generalanwältin bleiben hingegen unbefriedigend: So prüft sie die Vorschriften der Verordnung nur auf einen "offensichtlichen" Widerspruch zum Vorsorgegrundsatz, dem vor allem verbleibende Handlungsoptionen der zuständigen Behörden entgegenstehen. Verschwiegenheitspflichten und wirtschaftliche Erwägungen erscheinen zudem – in ihrer Argumentation – als abwägungsrelevante Faktoren.
Eine weitere wesentliche – hier am Rande aufgeworfene und soweit ersichtlich in der EuGH-Rspr. bislang noch nicht beantwortete – Frage betrifft die Ableitung von Schutzpflichten aus dem Vorsorgegrundsatz. Diesbezüglich stellt Generalanwältin Sharpston fest, dass "Nichtigkeitsklagen nach Art. 263 AEUV auf der Grundlage des Vorsorgeprinzips gegen eine als zu einschränkend angesehene Maßnahme, nicht jedoch gegen eine als nicht hinreichend einschränkend angesehene Maßnahmen erhoben werden" können. Sie bleibt indes eine Erklärung schuldig, wie Nichtigkeitsklage und Vorabentscheidungsverfahren miteinander zusammenhängen.
Sharpston könnte etwa vorgehalten werden, dass gerade für diesen Fall die Untätigkeitsklage nach Art. 265 AEUV vorgesehen ist, an dessen Prüfung ihre weiteren Ausführungen erinnern. Sie legt nämlich dar, dass eine Maßnahme dann für nichtig erklärt werden könne, wenn sie "offensichtlich" ungeeignet sei oder wenn den Organen, gemessen an dem verfolgten Ziel, offensichtliche Fehler unterlaufen seien. Die Frage bleibt offen, ob sie hiermit ein Recht auf Vorsorge anerkennen will. Dessen Durchsetzungskraft bliebe jedenfalls aufgrund des Offensichtlichkeits-Dogmas wie die obigen Ausführungen zeigen marginal.
Die Autorin Daniela Winkler ist Professorin für öffentliches Recht am Institut für Volkswirtschaftslehre und Recht der Universität Stuttgart. Die Autorin Kristina Schmidt ist ebendort Mitarbeiterin.
EuGH-Schlussanträge zu Glyphosat: . In: Legal Tribune Online, 15.03.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/34385 (abgerufen am: 10.12.2024 )
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