Druckversion
Dienstag, 10.06.2025, 22:37 Uhr


Legal Tribune Online
Schriftgröße: abc | abc | abc
https://www.lto.de//recht/hintergruende/h/ermittlungen-gegen-kz-aufseher-hans-lipschis
Fenster schließen
Artikel drucken
11754

Strafverfahren gegen ehemalige KZ-Aufseher: "Wir können gar nicht anders als ermitteln"

Interview mit Dr. Ralf Dietrich

22.04.2014

Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau

© Roman Brinkmann - Fotolia.com

In Auschwitz ermordeten die Nazis mindestens 1,1 Millionen meist jüdische Häftlinge. Vor rund 50 Jahren wurden deshalb in Frankfurt 22 Männer zu Haftstrafen verurteilt. Danach geschah lange nichts. Nun sollen wieder Täter zur Verantwortung gezogen werden. Mit tapetengroßen Excel-Tabellen und einer 3D-Visualisierung des Lagers versucht Staatsanwalt Ralf Dietrich den Tatnachweis zu führen.

Anzeige

LTO: Herr Dr. Dietrich, Sie haben die Ermittlungen gegen Hans Lipschis geleitet. Ein knappes Jahr hat es gedauert, bis Sie Ihre Anklage wegen Beihilfe zum Mord formulieren konnten. Ende Februar lehnte das Landgericht (LG) Ellwangen die Eröffnung des Hauptverfahrens ab, weil es den 94-Jährigen wegen seiner Demenzerkrankung für verhandlungsunfähig hielt (Beschl. v. 27.02.2014, Az. 1 Ks 9 Js 94162/12). Angehörige der Opfer hatten sich zunächst noch dagegen gewehrt, haben ihre Beschwerde mittlerweile aber zurückgenommen. Sind Sie enttäuscht, dass es nun nicht zu einem Prozess kommen wird?

Dietrich: Als Staatsanwalt will man natürlich immer, dass Straftaten auch geahndet werden. Das ist das Ziel unserer Arbeit. Allerdings geht es nicht um Strafe um jeden Preis, sondern um ein rechtsstaatliches Verfahren. Und das setzt eben voraus, dass sich der Angeklagte verteidigen kann. Wenn das nicht möglich ist, muss man von einem Verfahren absehen. Denn der Rechtsstaatsgrundsatz besagt: Nur ein gerechtes Verfahren kann zu einer gerechten Strafe führen.

LTO: Können Sie Ihre Arbeit denn für andere Verfahren nutzen?

Dietrich: Zur Orientierung können unsere Arbeiten sicherlich dienen. Vor allem müssen andere ja nicht in dieselben Sackgassen laufen wie wir.

LTO: In was für Sackgassen sind Sie denn geraten?

Dietrich: Am Anfang dachten wir, dass Auschwitz als das Symbol des Holocausts schlechthin bereits vollständig erforscht sei. Das taucht so häufig in den Medien auf und wird ausführlich in der Schule besprochen, da hat man das Gefühl, da ist alles bekannt, man kann aus dem Vollen schöpfen. Wenn man dann aber richtig bohrt, merkt man, dass es doch nicht so ist.

Ein Beispiel: Um dem BeDr. Ralf Dietrichschuldigten Haupttaten zuordnen zu können, mussten wir wissen, wie viele Menschen wann ermordet wurden. Diese Fakten sind aber nach wie vor nur vage bekannt. Da mussten wir 70 Jahre nach den Taten absolutes Neuland betreten. Wir haben versucht, die Haupttaten mit Hilfe der Tätowiernummern der Häftlinge einzugrenzen. An jeden Häftling wurde eine eindeutige Nummer vergeben. Das haben wir jedenfalls gedacht, bis wir gemerkt haben, dass die Nummern jeweils für Männer und Frauen vergeben worden sind. Ein Mann und eine Frau konnten also dieselbe Nummer haben. Das hat uns viel Zeit gekostet und an unserem System zweifeln lassen.

"Die SS war keine Chaostruppe"

LTO: Als Beweismittel haben Sie Tagebucheinträge des Lager-Führers ausgewertet und in umfangreichen Excel-Tabellen dargestellt. In den Einträgen ist etwa notiert: "Um 18:00 traf ein Transport ein, die Begleitmannschaft wurde von der 6. Kompanie gestellt" oder "4.20 wurde Häftling 36455 beim Fluchtversuch vom Turmposten E, SS-Schütze Jarosinsicz, 2. Komp. erschossen", aber auch "SS-Rottf. Schiedrumpf schlafend auf Turm G angetroffen". Wie konnten Ihnen diese Einträge beim Tatnachweis helfen?

Dietrich: In zweierlei Hinsicht: Erstens zeigt uns der einzelne Tagebucheintrag, dass eine konkrete Kompanie in einer bestimmten Schicht im Einsatz war. Das muss natürlich nicht unbedingt ein Moment gewesen sein, an dem auch nachweisbare Morde geschahen. Deshalb reicht das noch nicht zum Nachweis der  Beihilfe zum Mord.

Zweitens kann sich aber in der Gesamtbetrachtung aller Einträge eine Einsatzstruktur zeigen. Wenn man auf 1.000 Seiten Akten liest, in welcher Nacht was passiert ist, kann man noch keine Struktur ausmachen. Die Excel-Tabellen haben wir erstellt, um optisch übersichtlich zu erkennen, nach welchem Schema wann welche Truppe eingesetzt worden ist.

Die schematische Darstellung konnte neben anderen Hinweisen unsere Annahme stützen, dass die Einheiten im Wochenrhythmus tätig waren. Die SS war keine Chaostruppe, das war ein organisiertes und industrielles Geschehen, das lief alles nach demselben Schema.

Vor dem Hintergrund dieses wochenweisen Einsatzschemas konnten wir daher aus einem einzelnen Tagebucheintrag auf einen wochenweisen Einsatz schlussfolgern. In Ihrem genannten Beispiel, in dem die 6. Kompanie  in der Schicht vom 15./16.12.1942 die Begleitmannschaft stellte, heißt das, dass sie während der gesamten Woche das Lager bewacht und unterstützt hat – und das war dann Beihilfe für alles, was im Lager geschah, auch für die Vergasungen.

"3D-Visualisierung soll Gericht Eindruck vom Lager vermitteln"

LTO: Bei Ihren Ermittlungen haben Sie auch auf eine 3D-Visualisierung des Lagers gesetzt. Wie haben Sie das gemacht und wieso?

Dietrich: 3D-Vermesser haben die zentralen Lager Auschwitz I und Auschwitz II (Birkenau) vermessen – also die beiden Lager, in denen die Vernichtungen stattgefunden haben, nicht die Außenlager. Auf dieser Basis wurden die Visualisierungen erstellt, das heißt man kann das Lager virtuell begehen.

So wollten wir das Argument widerlegen, das Lager sei so groß, komplex und weitläufig gewesen, dass der einzelne Wachmann gar nicht hätte wissen können, was da abläuft. Über 120.000 Insassen, das sei ja wie eine Kleinstadt, da wisse man doch nicht, was am anderen Ende der "Stadt" passiert. Wir wollten zeigen – was sich für uns selber vor Ort sehr deutlich gezeigt hat – dass das nicht stimmt. Das Lager ist groß, aber ganz klar und einfach strukturiert. Es gibt dort nur vier Arten von Gebäuden: Wohnbaracken, Verwaltungsgebäude, Wachtürme und die Krematorien, die durch ihre Schornsteine optisch herausstechen. Da sieht auch der einfache Wachmann, dass das etwas Besonderes ist und muss sich fragen, was da passiert. Diesen Eindruck wollen wir in den Gerichtssaal bringen, weil es für die Verfahrensbeteiligten  während des Verfahrens nur bedingt möglich ist, den Tatort zu begehen.

Wenn das gleichzeitig den Effekt hat, dass man im Gerichtssaal nicht nur diesen armen, alten, kranken Mann vor sich hat, sondern eben auch den Tatort sieht, dann nehmen wir das gerne hin.

LTO: Können Sie diese Visualisierung in anderen Verfahren verwenden?

Dietrich: Wir haben das anderen Ermittlungsgruppen zur Verfügung gestellt. Eine virtuelle Begehung kann natürlich auch bei einer Vernehmung helfen. Den Täter, der seit 70 Jahren nicht mehr vor Ort war und die Geschehnisse emotional beiseite geschoben hat, mit einer Visualisierung des Lagers zu konfrontieren, kann ihn durchaus aufwühlen. Man kann damit auch Schutzbehauptungen infrage stellen. Wenn er sagt, er war auf einem Wachturm fernab im Wald, kann man sich den Turm zeigen lassen und gegebenenfalls darauf hinweisen, dass er von dort aus tatsächlich bis zum Krematorium sehen konnte.

Seite 1/2
  • Seite 1:

    Sackgassen, Excel-Tabellen und 3D-Visualisierung

  • Seite 2:

    Das Demjanjuk-Urteil und die Sinnhaftigkeit der Ermittlungen

  • Drucken
  • Senden
  • Zitieren
Zitiervorschlag

Strafverfahren gegen ehemalige KZ-Aufseher: . In: Legal Tribune Online, 22.04.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/11754 (abgerufen am: 15.06.2025 )

Infos zum Zitiervorschlag
  • Mehr zum Thema
    • Strafrecht
    • Holocaust
    • Kriegsverbrechen
    • Nationalsozialismus
    • Straftaten
    • Strafverfahren
Autos auf einer Straße 13.06.2025
Straftaten

Staatsanwaltschaft ließ Anklage teilweise fallen:

Ver­bo­tenes Kraft­fahr­zeug­rennen, kein ver­suchter Mord

Erst ein Streit mit den Chefs, dann eine Raserfahrt durch Darmstadt: Zunächst klagte die Staatsanwaltschaft wegen versuchten Mordes an, ließ das aber fallen. Das LG verurteilte den Raser nun wegen verbotenen Kraftfahrzeugrennens.

Artikel lesen
Der Hannoveraner Finanzprofessor Stefan Homburg hält 2015 einen Vortrag auf einem AfD-Parteitag in Bremen 13.06.2025
Meinungsfreiheit

Stefan Homburg wegen "Alles für Deutschland" verurteilt:

Wenn auch die Kritik am Tabu tabu ist

Corona-Kritiker Stefan Homburg kritisierte öffentlich, der Spruch "Alles für Deutschland" werde zu Unrecht als SA-Parole kriminalisiert, und kassierte dafür eine Geldstrafe. Der Fall entblößt den zweifelhaften Schutzzweck der Strafnorm.

Artikel lesen
Die Leibniz Universität in Hannover 12.06.2025
Strafprozess

Geldstrafe nach "Alles für Deutschland"-Tweets:

Amts­ge­richt ver­ur­teilt Corona-Kri­tiker Stefan Hom­burg

10.400 Euro Geldstrafe: Das AG Hannover hat den pensionierten Professor der Leibniz Universität wegen des Verwendens einer SA-Parole verurteilt. Er selbst spricht von einem politischen Prozess und sieht seine Meinungsfreiheit verletzt.

Artikel lesen
Demonstration am Rande der Urteilsverkündung des OLG München 2018 im NSU-Verfahren 10.06.2025
NSU

Beschwerde beim BGH erfolgreich:

Doch NSU-Unter­stützer-Pro­zess vorm Ober­lan­des­ge­richt Dresden

Wie weit reichte Susann Emingers Unterstützung für die rechtsterroristischen Taten des NSU? Darüber wird das OLG Dresden nun doch zu verhandeln haben, nachdem es die Eröffnung eines Verfahrens wegen Terrorunterstützung zuvor abgelehnt hatte.

Artikel lesen
Einsatzfahrzeuge an Tatort in Berlin-Marzahn 04.06.2025
Mord

Wenn Männer Frauen töten:

Ein Mord­merkmal, um Femi­zide zu erfassen?

Der Femizid ist bisher kein Rechtsbegriff – aber angesichts der erschreckend häufigen Tötungsdelikte von Männern an Frauen wird nun diskutiert, ein weiteres Mordmerkmal zu schaffen. Wie könnte das aussehen?

Artikel lesen
Das Bild zeigt ein Fahrzeug an einer roten Ampel, symbolisiert rechtliche Fragen zu Diplomaten und Straftaten. 02.06.2025
Podcast

Täterherkunft mit DNA ermitteln / Straftaten für Diplomaten ohne Folgen / BGH zur Smartphone-Entsperrung:

Dürfen Dip­lo­maten wir­k­lich alles?

Soll die Polizei durch Tatortspuren die Herkunft des Täters feststellen dürfen? Wie weit reicht die Immunität von Diplomaten? Was hat der BGH zur zwangsweisen Entsperrung von Smartphones entschieden und was nicht? Die Folge 33 von "Die Rechtslage". 

Artikel lesen
ads lto paragraph
lto karriere logo
ads career people

Wir haben die Top-Jobs für Jurist:innen

Jetzt registrieren
logo lto karriere
TopJOBS
Logo von ARQIS
Prak­ti­kan­ten (m/​w/​d) AR­QIS Sum­mer School 2025

ARQIS , Düs­sel­dorf

Logo von ADVANT Beiten
Re­fe­ren­da­re (w/m/d) - Wirt­schafts­straf­recht & Com­p­li­an­ce

ADVANT Beiten , Düs­sel­dorf

Logo von Evangelische Hochschule Freiburg
Pro­fes­sur für Recht in der So­zia­len Ar­beit (m/w/d)

Evangelische Hochschule Freiburg , Frei­burg im Breis­gau

Logo von Personalamt der Freien und Hansestadt Hamburg
Voll­ju­rist:in­nen (m/w/d) - Trainee­pro­gramm für an­ge­hen­de...

Personalamt der Freien und Hansestadt Hamburg , Ham­burg

Logo von Oppenhoff
Re­fe­ren­da­re (m/w/d) al­le Fach­be­rei­che

Oppenhoff , Köln

Logo von FPS Rechtsanwaltsgesellschaft mbH & Co. KG
Re­fe­ren­da­re (m/w/d) für al­le Rechts­be­rei­che

FPS Rechtsanwaltsgesellschaft mbH & Co. KG , Ham­burg

Logo von Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg
Staats­an­wäl­tin (Rich­te­rin auf Pro­be) / Staats­an­walt (Rich­ter auf Pro­be)...

Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg , Cott­bus

Logo von Wolters Kluwer
Ju­rist als Pro­dukt­ma­na­ger im Be­reich Con­tent - Straf­recht (m/w/d)

Wolters Kluwer , Hürth

Mehr Stellenanzeigen
logo lto events
ADR als Kostenfaktor – oder Wettbewerbsvorteil? Der ökonomische Blick auf Konfliktlösung

23.06.2025

Digital Dialog: Arbeitsrechtliche Restrukturierungsmaßnahmen

24.06.2025

Logo von Georg-August-Universität Göttingen
Kolloquium "Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Digitalisierung der Gerichtsbarkeiten"

23.06.2025

NomosWebinar: Cyber Resilience Act

25.06.2025

Alles nach Plan – Unternehmenssanierung durch Insolvenz- und Restrukturierungsplan (§ 15 FAO)

24.06.2025

Mehr Events
Copyright © Wolters Kluwer Deutschland GmbH