Strafverfahren gegen ehemalige KZ-Aufseher: "Wir können gar nicht anders als ermitteln"

Interview mit Dr. Ralf Dietrich

22.04.2014

2/2: "Anwesenheit im Lager reicht nicht – auch nicht nach Demjanjuk-Urteil"

LTO: Es heißt immer wieder, dass erst das Demjanjuk-Urteil des LG München die aktuellen Ermittlungen gegen mutmaßliche NS-Täter rechtlich ermöglicht habe. Hat sich an der Rechtslage tatsächlich etwas geändert?

Dietrich: Wir haben hier die Entscheidung des LG München analysiert und wir sehen darin einen faktischen Wendepunkt, weil es in der Wahrnehmung das erste Urteil gegen einen KZ-Wärter nach langer Zeit war. Ob es auch rechtlich ein Wendepunkt war? Es ist ja nie rechtskräftig geworden. Für meine Anklage habe ich eher versucht, mich auf allgemeine Strafrechtsgrundsätze zu besinnen, um zu klären, wie man die Strafbarkeit Lipschis' heute sehen muss.

Außerdem bezieht sich das Münchner Urteil auf das KZ Sobibor und ist nicht unbedingt auf Auschwitz übertragbar. Sobibor war ein Lager, in dem es laut dem LG München – etwas verkürzt – lediglich vier Aufgaben gab: Entweder man bewachte das ganze Lager von außen, man entlud die Gefangenen an der Rampe, man führte sie von der Rampe zum Krematorium oder man vergaste sie. Es kommt demnach nicht darauf an, welche der vier Funktionen ein Wachmann innehatte, weil alles Beihilfe zum Mord ist.

LTO: Man kann also auch nach dem Urteil des LG München nicht generell sagen, dass sich jeder KZ-Wärter wegen Beihilfe zum Mord strafbar gemacht hat?

Dietrich: Nein, da ist die Rechtsprechung eindeutig. Bloße Anwesenheit reicht nie. In das Demjanjuk-Urteil ist viel hineingelesen worden. Das deutsche Strafrecht basiert auf einem individuellen Schuldvorwurf. Daran wollte auch das LG München sicher nichts ändern. Das Urteil sagt nicht, Anwesenheit reicht. Es sagt in tatsächlicher Hinsicht, wer im KZ Sobibor anwesend war, war da nicht in einem Feriencamp, sondern war beruflich dort und dann gab es eben nur vier Tätigkeiten, die alle Beihilfe zum Mord sind. Also muss man rechtlich nicht differenzieren, welche Tätigkeit es war, um zur objektiven Strafbarkeit zu kommen.

In Auschwitz liegen die Fakten aber entscheidend anders: Ein pauschaler Vorwurf reicht nicht, sondern ich muss zeitlich, räumlich und opferbezogen eingrenzen. Gleichzeitig geht das aber nicht so weit, dass ich für individuelle Schuld nachweisen muss, dass der Beschuldigte selbst die Gaskammer bedient hat. Seine persönliche Schuld kann auch darin liegen, dass er sich bereitgehalten hat, im Bedarfsfall aktiv zu unterstützen, während andere die Gaskammer bedienten.

"Wenn man solche Verfahren nicht möchte, muss der Gesetzgeber das so regeln"

LTO: Erst Ende Februar wurden in ganz Deutschland Durchsuchungen bei mutmaßlichen ehemaligen SS-Angehörigen des Konzentrationslagers Auschwitz durchgeführt, sechs davon in Baden-Württemberg, davon sind drei Beschuldigte in Untersuchungshaft gekommen. Ist in diesen sechs Fällen mit einer Anklage und einem Prozess zu rechnen?

Dietrich: Zu laufenden Verfahren kann ich nichts sagen.

LTO: Auch diese Beschuldigten sind alle bereits um die neunzig. Machen die Ermittlungen da überhaupt noch Sinn?

Dietrich: Ich verstehe völlig, dass man sich diese Frage stellt. Wenn man solche Verfahren nicht möchte, dann muss der Gesetzgeber das so regeln, entweder mit einer Änderung der Verjährung oder einer Amnestie. Solange das aber nicht geschieht, sind das rechtlich Straftaten, die ermittelt werden müssen. Da können wir gar nicht anders. Wir müssen uns an das Legalitätsprinzip halten. Wir können auch nicht generell die Prognose treffen, dass sich eine Verfolgung ohnehin nicht mehr lohnt. Außer wenn wir natürlich akut sehen, dass jemand verhandlungsunfähig ist, dann ist das auch für uns ein Ermittlungshindernis.

LTO: Das Legalitätsprinzip galt aber auch schon vor zehn, zwanzig, dreißig Jahren.

Dietrich: Wir ermitteln jetzt, weil uns die Zentrale Stelle in Ludwigsburg, die die Vorermittlungen durchführt, die Verfahren jetzt gegeben hat. Was da früher passiert ist, dazu kann ich nichts sagen, das war vor meiner Zeit.

LTO: Ist es bei diesen Fällen immer so, dass zuerst die Zentrale Stelle ermittelt und dann die normale Staatsanwaltschaft?

Dietrich: Die Zentrale Stelle wurde dazu geschaffen, genau diese Vorermittlungen zu führen. Wenn man Fakten auf den Tisch bekommt, auf eine andere Art und Weise, dann schaut man sich diese natürlich auch an. Aber das war eben nicht so.

LTO: Haben Sie auch mal dort gearbeitet?

Dietrich: Nein.

LTO: Würden Sie gerne?

Dietrich: Da bietet sich ein spannendes und auch heute noch wichtiges Thema. Aber über meinen Einsatz entscheiden andere.

LTO: Vielen Dank für das Gespräch.

Dr. Ralf Dietrich ist Staatsanwalt in Stuttgart und hat das Ermittlungserfahren gegen Hans Lipschis geleitet.

Das Interview führte Claudia Kornmeier.

Zitiervorschlag

Strafverfahren gegen ehemalige KZ-Aufseher: . In: Legal Tribune Online, 22.04.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/11754 (abgerufen am: 14.12.2024 )

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