Das zwischenmenschliche Reibungsverhältnis, das als "Kuscheln" bezeichnet wird, wird von der Justiz nur in Ausnahmebereichen gern gesehen. Trotzdem werden Gerichte mitunter als Veranstalter von "Kuscheljustiz" beschimpft. Man sollte das lieber bleiben lassen.
Die zumeist im Brustton moralischer Empörung vorgetragene Behauptung, in Deutschland werde eine sogenannte "Kuscheljustiz" betrieben, könnte zutreffend sein, wenn sich in der Rechtsprechung ein positives Verhältnis zum Vorgang des Kuschelns nachweisen ließe.
Ein rein wörtliches Verständnis scheint dabei ausgeschlossen. Wortgeschichtlich ist das Verb "kuscheln" mit dem alten Wort "Gutsche" für "Ruhebett" oder dem rheinischen "Kutsch" für das "(Kinder)bett, Lager von Tieren" verbunden. Derartiges Mobiliar findet sich in deutschen Gerichtsräumen regelmäßig nicht.
Zwar hat sich eine Kammer des Landesarbeitsgerichts Baden-Württemberg (LAG) laut Urteil vom 8. September 2004 (Az. 2 Sa 66/04) in einem Kündigungsschutzprozess, den ein wiederholt zu spät zur Arbeit erschienener Beschäftigter eines Kfz-Zuliefererbetriebs angestrengt hatte, Teile des Schlafzimmers des Mannes bei Gericht aufbauen lassen. Dies zur Klärung der Streitfrage, ob das damals achtjährige Kind des Klägers in der Nacht den Stecker des Elektroweckers aus der Steckdose habe ziehen können.
Keine Inaugenscheinnahme von Kuschelei
Zur Prüfung der Behauptung, dass "eine derartige kindliche Verhaltensweise höchst ungewöhnlich" sei, ließ sich das LAG Baden-Württemberg allerdings nur "die Originalelektrogeräte des Klägers" bei Gericht aufbauen, um festzustellen "dass sich die Stecker nur mit erheblichem Kraftaufwand aus der Steckdose ziehen lassen". Darüber hinaus stellte das Gericht fest: "Entweder ist ein Kind aus dem Schlaf erwacht und geht dann zum 'Kuscheln' oder Wiedereinschlafen ins Bett der Eltern. Dann zieht es keinen Stecker." Oder das Kind gehe zum "Spielen und Basteln" ins elterliche Schlafzimmer. Dann mache es mehr Lärm als der beste Wecker.
Die Inaugenscheinnahme des Gerichts beschränkte sich also auf die Funktion des Weckers. Ein Aufbau von Schlafzimmermöbeln im Gericht, um auch das Verhältnis von kindlichem Kuschelbedürfnis und verspätetem Arbeitsantritt zu überprüfen, hätte die Grenzen der richterlichen Erkenntnis überschritten.
Immerhin findet sich eine ganze Anzahl von Entscheidungen insbesondere des Oberlandesgerichts Brandenburg (OLG), die dem "Kuscheln" kein neutrales oder abwertendes, sondern ein positives Verständnis entgegenbringen. Nicht ausschließlich, aber gehäuft in diesem Gerichtssprengel wird die Bereitschaft, namentlich von Kindsvätern, mit ihrem Nachwuchs zu "kuscheln" als Indiz für eine vertrauensvolle Vater-Kind-Beziehung herangezogen. Allerdings beschränkt man sich auch hier auf gutachterliche Beobachtungen beziehungsweise die persönliche Anhörung des Kindes (beispielsweise OLG Brandenburg, Beschl. v. 14.01.2010, Az. 9 UF 66/09; Beschl. v. 22.03.2011, Az. 10 UF 2/11 und weitere).
Kuscheln als Indiz für zwischenmenschliches Unheil
Zudem ist der behauptete oder vollzogene Tatbestand des "Kuschelns" zwischen Kindern und Eltern, namentlich Vätern, der nahezu einzige Bereich, in dem deutsche Gerichte zu einem positiven Begriffsverständnis kommen.
In anderen zwischenmenschlichen Handlungsfeldern haben die Gerichte mit "Kuscheln" in zumeist negativen, wenn nicht verbrecherischen Zusammenhängen zu tun. Beispielsweise wurde das Bundessozialgericht (BSG) in dem Sachverhalt, den es seinem Urteil vom 26. Juni 2001 (Az. B 2 U 25/00 R) zugrunde legte, mit dem Fall einer Auszubildenden Chemielaborantin konfrontiert, deren Ausbilder ihr unter Drohungen gemeinsame Freizeitaktivitäten wie Sauna- und Schwimmbadbesuche abnötigte, um ihr später vorzuschlagen, "ins Bett kuscheln zu gehen". Dem folgten weitere Nötigungen, später die Vergewaltigung der jungen Frau. Das BSG verneinte übrigens recht wortreich die Anerkennung dieser Vorgänge als Arbeitsunfall.
Bundeswehrkuscheln mit Kugelschreiber
Ebenfalls kein gutes Licht aufs "Kuscheln" werfen Fallgestaltungen in einer Personengruppe, in der eher die Fähigkeit zur fachgerechten Gewaltanwendung erwartet wird. So musste ein langjährig von seinen Vorgesetzten als tadellos beurteilter Soldat straf- und truppendienstgerichtlich zur Räson gebracht werden, weil er Soldatinnen dem Wunsch ausgesetzt hatte, mit ihnen "Händchen zu halten" oder mit ihnen in der Kaserne "zu kuscheln".
Der 2. Wehrdienstsenat des Bundesverwaltungsgericht fand hierfür kein Verständnis (Urt. v. 24.01.2002, Az. 2 WD 33.01), und ließ sich dabei auch nicht durch eine sehr merkwürdige Praxis des "Kuschelns" in der Bundeswehr irritieren. Es hieß in dem Urteil, dass der Soldat der Soldatin "ohne ihr Einverständnis ihren Reißverschluss der Uniformjacke" öffnete, dieser einen Kugelschreiber entnahm, und diesen dann wieder in die Brusttasche zurückzustecken. Man müsste wohl Anhänger der Freudianischen Psychoanalyse sein, um darin einen (sexuellen) Sinn zu erkennen.
2/2: Homosexuelles Kuschelbedürfnis zu milde beurteilt
Dass die Gerichte dem außerfamiliären "Kuscheln" wenig abgewinnen können, zeigt der 2. Wehrdienstsenat des Bundesverwaltungsgerichts auch noch in einem weiteren Fall. Das Gericht bestätigte die Degradierung eines bis dahin vorbildlichen Soldaten vom Oberfeldwebel zum Hauptgefreiten. Intimer Körperkontakt sowie der erklärte Wunsch, mit seinen Kameraden "zu kuscheln", veranlassten das Truppendienstgericht zur Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Frage: "Liegt bei dem angeschuldigten Soldaten eine persönlichkeitsprägende Neigung zur Homosexualität oder eine andere Homosexualität vor? Falls ja, ist diese geeignet, die Schuldfähigkeit des Soldaten zu beeinflussen?" Einer entsprechenden militärpsychologischen oder -psychiatrischen Untersuchung entzog sich der Soldat allerdings.
Mit dem Umstand, dass die Weltgesundheitsorganisation seit 1992 Homosexualität nicht mehr als psychische Krankheit erfasste, setzte sich die Militärjustiz in diesem Urteil vom 28. August 2001 (Az. 2 WD 8.01) gar nicht erst auseinander. Den Bundestruppenrichtern missfiel die Vorstellung einer kuschelnden Truppe so stark, dass sie dem Truppendienstgericht attestierten "eher zu milde" vorgegangen zu sein.
Ursachen des Kuscheljustizvorwurfs
Um es kurz festzuhalten: Abgesehen davon, dass es Gerichte, insbesondere im Osten der Bundesrepublik, in Sorgerechtssachen positiv würdigen, wenn Kinder mit ihren Eltern, insbesondere Vätern, "kuscheln" möchten, ist der Begriff vor allem negativ besetzt.
Das muss Außenstehende nicht davon abhalten, Juristen als zu kuschelig zu bezeichnen. In Medien wird von einer "Kuscheljustiz" zuweilen dann geschrieben, wenn die strafrechtliche Würdigung hinter den Erwartungen des Publikums zurückbleibt.
In solchen Fällen mag die Verwendung des Begriffs "Kuscheljustiz" moralisch verständlich sein. Doch bleibt sie vom gleichen Typ wie die Rede vom "Gutmensch", hinter der sich zumeist die Weigerung oder Unfähigkeit des Sprechenden verbirgt, die Maßstäbe des eigenen moralischen, rechtlichen oder rechtspolitischen Denkens abstrakt und transparent zu formulieren.
Abgründe der Frage nach einer "zu weichen" Justiz
Ob es eine "Kuscheljustiz" gibt, die sich durch Milde in der Strafverfolgung auszeichnet, darüber könnte man also reden, würde der Begriff nicht bereits der professionellen Seite, also den Juristen, die Diskussionsfähigkeit absprechen. Möglicherweise ist die Frage nach dem gewünschten "Härtegrad" der Strafjustiz aber auch schlicht tabuisiert. Allerdings nicht aus "gutmenschlicher" Milde.
Es finden sich die bösen Beispiele, die wahre Abgründe strafrechtlicher Zurückhaltung offenbaren, etwa den Fall des in der schwäbischen Stadt Göppingen einst gut angesehenen Apothekers Victor Capesius (1907-1985). Der Mann wurde am 20. August 1965 vom Landgericht Frankfurt am Main zu neun Jahren Zuchthaus wegen gemeinschaftlicher Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord an insgesamt 8.000 Menschen verurteilt – weniger als ein Tag Haft für jeden, an dessen Ermordung der vormalige Lagerapotheker von Auschwitz und Verantwortliche für die Zyklon-B-Beschaffung beteiligt war.
Capesius soll nach der Haftentlassung in Göppingen anlässlich eines Konzerts mit Beifall begrüßt worden sein. Böse gesprochen gab es in den 1960er Jahren offenbar eine erstaunlich große Zahl von Menschen, denen die deutsche Strafjustiz damals gar nicht kuschelig genug sein konnte.
Man sollte vielleicht gelegentlich über den rechtlichen und moralischen Horizont der Justiz und des Volkes nachdenken, in dessen Namen sie Recht spricht. Den Begriff "Kuscheljustiz" darf man dabei schlicht aus dem Wortschatz streichen.
Martin Rath, Wortkritik: Kuscheljustiz . In: Legal Tribune Online, 17.01.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/18160/ (abgerufen am: 26.04.2024 )
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