Will ein Spanier die wilden Indianer besuchen, entspricht dies der menschlichen Natur. Soll die umgekehrte Reiserichtung verboten sein? Erstaunlich: Die Völkerrechtsgeschichte erfand zunächst das Besuchsrecht und erst dann den Grenzschutz.
Es ist eine dieser normativen Ideen, die derart oft mit feierlicher Gewissheit vorgetragen werden, dass Widerspruch beinah als Sakrileg erscheint: Der Staat hat, so wird gesagt, ein heiliges und unhinterfragbares Recht, in eigenem Ermessen zu entscheiden, ob sich fremde Menschen auf seinem Gebiet aufhalten dürfen. Soweit fremde Menschen vorhanden sind, beruht ihr Aufenthalt also bestenfalls auf einem vom Gaststaat zugeteilten Recht, das dieser mehr oder weniger komfortabel ausgestalten dürfe.
Unabhängig davon, wie man zu ihrem Inhalt steht, sind Gewissheiten dieser Art schon allein deshalb äußerst unerfreulich, weil sie dem Denken die Bewegungsfreiheit nehmen. Die Ausführungen von Vincent Chetail, einem Genfer Professor für Völkerrecht, zeigen, wie es anders gehen kann.
Ein natürliches Recht, die Indianer zu besuchen
In seinem Aufsatz "Sovereignty and Migration in the Doctrine of the Law of Nations: An Intellectual History of Hospitality from Vitoria to Vattel " (European Journal of International Law, 2016, S. 901–922) belegt Chetail, dass in den Anfangsjahrzehnten des modernen Völkerrechts dem Zugangsrecht des Fremden ein eigener Rang eingeräumt wurde, der erst nach und nach – teils unter sehr selektiver Berufung auf die Klassiker der Völkerrechtslehre – unter das Rad der Souveränitätsbefürworter geriet.
Fremde Länder zu betreten, galt namentlich dem Gründungsvater des Völkerrechts, dem spanischen Gelehrten Francisco de Vitoria (1483–1546), als ein natürliches Recht vor aller staatlichen Ordnung. Vitoria lag daran, normative Argumente jedenfalls für den Aufenthalt seiner spanischen Landsleute in den indianischen Fürstentümern jenes Kontinents zu liefern, der seit 1507 durch einen Irrtum des Freiburger Kartographen Martin Waldseemüller unter dem Namen "Amerika" bekannt wurde.
Weil das Gastrecht bereits den vorchristlichen Heiden der griechisch-römischen Antike heilig gewesen war, bot es sich für den spanischen Theologen und Naturrechtslehrer an, ein universales Recht auf Aufenthalt in fremden Landen zu begründen. Noch höher stand ihm das aus der natürlichen menschlichen Geselligkeit resultierende Recht, durch Reisen und Aufenthalt in die Gesellschaft und die Kommunikation (naturalis societas et communicationis) mit den ortsansässigen fremden Menschen zu treten.
Gast- und Einreiserechte, sofern man Europäer ist?
Der bekannte Umstand, dass sich die spanischen Amerikareisenden nicht auf friedliche Verständigung mit den indianischen Fürsten und ihren Untertanen beschränkten und ihnen die europäischen Herren über Amerika, Afrika, Asien und Ozeanien in den folgenden gut 400 Jahren nacheiferten, hat zur Popularität dieses naturrechtlich begründeten Aufenthaltsrechts verständlicherweise wenig beigetragen – obwohl die Pflicht, sich im fremden Land friedlich zu verhalten, stets Teil dieser Lehre war.
Wer, ohne sich etwas zu Schulden kommen zu lassen, den Aufenthalt in einem fremden Land wünscht, sollte auch nach der Lehre von Hugo Grotius (1583–1645), dem intellektuellen Nachfolger Vitorias, noch ein Recht aus dem von dem Spanier formulierten "ius communicationis" genießen. Das Recht, in friedlicher Absicht fremdes Land zu betreten, zählte Grotius zu den ersten Prinzipien des Völkerrechts. Werde es verweigert, könne es mit Gewalt erzwungen werden. Weiterhin erfand der niederländische Gelehrte ein Recht auf Eingliederung in einem neuen Staat für jene, die ihren Herkunftsstaat als unschuldige Menschen aus guten Gründen verlassen hatten.
Ein mindestens auf gleichem, wenn nicht höherem Rang angesiedeltes Recht eines Staates, auch friedliche und schuldlose Fremde abzuweisen, kam – so Chetail – in der Ideengeschichte des Völkerrechts erst später auf. Inspiriert von der Souveränitätslehre des Thomas Hobbes (1588–1679) stellten namentlich die Deutschen Samuel von Pufendorf (1632–1694) und Christian von Wolff (1679–1754) die Aufenthaltsrechte der Fremden ins Ermessen des Inhabers der höchsten Staatsgewalt. Wem daran lag, aus seinem Herkunftsland fortzukommen, der war nunmehr schon im Grundsatz auf die bloße Moralität fremder Souveräne angewiesen.
2/2: Fremde abweisen? – Keine gar so fundamentale Kompetenz
Als Vermittler zwischen diesen Gegensätzen in der älteren Völkerrechtslehre und als – kraft unzureichender Rezeption – bis heute einflussreiche Größe benennt der Schweizer Völkerrechtsgelehrte Vincent Chetail seinen Landsmann Emer de Vattel (1714–1767). Dessen Lehrbuch des Völkerrechts, das im Jahr 1758 publiziert wurde, wird bis heute zitiert, im angelsächsischen Raum oft und gern – und, so Chetail, in unzulässiger Verkürzung.
Der Oberste Gerichtshof der USA zitierte de Vattel beispielsweise in einer seiner zahlreichen Entscheidungen des 19. Jahrhunderts, in denen die Verfassungsmäßigkeit zuwanderungsfeindlicher Gesetze gegen Chinesen, Japaner und sonstige "Fremdrassige" verhandelt wurde.
Seit der Entscheidung Nishimura Ekiu v. United States aus dem Jahr 1892 muss der preußisch-schweizerische Rechtsgelehrte aus Neuchâtel in der Urteilspraxis der angelsächsischen Welt immer wieder herhalten, wenn es darum geht, Fremde auch ohne sachlichen Grund abzuweisen. Der britische Supreme Court behauptete beispielsweise im Jahr 2004, dass die Kompetenz des Staates, Fremde zuzulassen, abzuweisen oder zu entfernen, "zu den ersten und am weitesten anerkannten Hoheitsrechten des souveränen Staates zählte".
Der Zugang liegt dann stets im allenfalls durch Selbstbindung reduzierten Ermessen und wird mit jener Fairness behandelt, durch die sich die englischsprachigen Völker weltweit einen Namen gemacht haben.
Mit Blick auf Emer de Vattel zeigt Chetail, dass derlei historisches Pathos auf unzureichender Kenntnis der alten Völkerrechtsliteratur beruht. Als Quelle für die staatliche Kompetenz, Fremde abzuweisen, werde de Vattel seit rund 130 Jahren selektiv zitiert. Unberücksichtigt blieben Lehren wie diese: "Wenn eine wirkliche Notwendigkeit besteht, das Gebiet eines fremden Staats zu betreten – beispielsweise, weil anders eine Flucht vor einer drohenden Gefahr nicht möglich ist oder weil es keinen anderen Weg gibt, sich seiner Lebensgrundlagen zu versichern oder einer anderen unaufhebbaren Pflicht zu genügen – mag man den Zugang erzwingen, wenn er ohne guten Grund verweigert wird."
Nicht nur auf Normativkraft des Faktischen verlassen
Der Anspruch des Staates, ohne Sachgrund und in einem von jeder Rechtfertigungspflicht entbundenen Ermessen über den Zugang und Aufenthalt fremder Menschen zu befinden, ist mit Blick auf die Ideengeschichte des Völkerrechts also weit weniger ehrwürdig, als es die Entscheidungen vieler Gerichte nahelegten. Das wird nicht dadurch besser, dass das Online-Kommentariat unserer Tage ihn als fast wahnhaft fixe Idee wiederholt und zudem noch alle völkerrechtlichen (Selbst-) Bindungen des souveränen Staates geflissentlich ignoriert oder jedenfalls das Zusammenleben mit anderen Menschen als bloßen Gnadenerweis gegenüber dem jeweils Fremden desavouiert.
Es mag zwar nicht sonderlich wichtig erscheinen, um die historische Entwicklung der Staatensouveränität und des Besuchsrechts zu wissen. Sollte beispielsweise der Klimawandel Europa oder die USA übel heimsuchen, würden wohl ohnedies erstaunlich viele Menschen ihr gottgegebenes Recht auf ein Häuschen in Kinshasa oder Ho-Chi-Minh-Stadt entdecken und in südlicher Richtung in die Boote steigen.
Aber zu den verstörenden Eigentschaften der Gegenwart zählt eben doch, dass uns zurzeit die juristischen Auffassungen des 19. Jahrhunderts als die Lösungen für die Probleme des 21. Jahrhunderts verkauft werden. Eine Ahnung davon zu haben, wie sehr man sich damals die Normen und die Geltungsansprüche zurechtgebogen hat, mag den heutigen Eifer zumindest ein bisschen abkühlen.
Hinweis: Der Aufsatz von Vincent Chetail (in englischer Sprache) ist online verfügbar.
Autor: Martin Rath arbeitet als freier Journalist und Lektor in Ohligs.
Martin Rath, Völkerrecht: Vom Recht, ein fremdes Land zu betreten . In: Legal Tribune Online, 26.02.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/22207/ (abgerufen am: 29.11.2023 )
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