Man darf zweifeln, ob Sylt viel Aufmerksamkeit verdient. In einem juristischen Wimmelbild finden sich aber interessante Figuren – nur für symbolträchtiges Heiraten eignet sich eine andere Insel besser.
Ob es um die strafrechtliche Einordnung der jüngsten sogenannten Chaostage auf Sylt ging oder um die kirchenrechtliche Würdigung der Ehe des FDP-Politikers Christian Lindner (1979–) mit der Journalistin Franca Lehfeldt (1989–): Niemand möchte behaupten, dass diese Ereignisse gut geeignet sind, ein ernsthaftes Interesse von Juristinnen und Juristen für 99 Quadratkilometer Sand und Seegras in der Nordsee zu rechtfertigen.
Denn es ist selbst im fernen Karlsruhe gerichtsbekannt, dass das höchste Maß an Chaos, das der Insel in der jüngeren Rechtsgeschichte begegnete, in der Nacht zum 6. April 1980 zu beklagen war. Anlässlich eines "Stiftungsfests" des ortsansässigen Motorradclubs "Stormriders" waren Angehörige der Hamburger "Hell's Angels" zu Besuch gekommen.
Nach einer zunächst friedlichen Feier in den Räumen eines Taubenzüchtervereins kam es in der Diskothek "Riverboat" zu einer Auseinandersetzung, nachdem das zahlenmäßig überlegene Personal um 4 Uhr morgens gegen einige Club-Mitglieder die Schließung des Lokals durchsetzte. Angehörige der "Hell's Angels" kehrten daraufhin zurück, töteten den Geschäftsführer, verletzten einen Kellner schwer und verwüsteten die Räume. Der Bundesgerichtshof (BGH) bestätigte am 27. November 1985 das Urteil des Landgerichts (LG) Flensburg wegen Körperverletzung mit Todesfolge (Az. 3 StR 438/85).
Klischees von Sylt im rechtlichen Urteil bestätigt?
Weniger dramatisch gestalteten sich Fälle, die das Vorurteil von Sylt, der Insel der gelegentlich Reichen und der vermeintlich Schönen, bestätigen.
Von einem vielleicht bald wieder aktuellen Wert ist hier beispielsweise das Urteil des BGH vom 7. Dezember 1951. Ein für die materiellen Hinterlassenschaften seiner Truppe auf Sylt zuständiger Ex-Soldat hatte nach der Kapitulation, zwischen Dezember 1945 und Anfang 1946, insgesamt 78.000 Zigaretten aus Wehrmachtsbeständen "zu erheblichen Überpreisen" verkauft. Der Angeklagte war zwar freigesprochen, der sogenannte "Mehrerlös" jedoch eingezogen worden, was der BGH mit Blick auf § 4 Preisstrafrechtsverordnung vom 26. Oktober 1944 und § 51 Wirtschaftsstrafgesetz vom 26. Juli 1949 billigte (Az. 2 StR 121/51).
Es steht zu befürchten, dass die Gerichte künftig wieder öfter zu "Überpreisen" entscheiden müssen – wo Kriegswirtschaft herrscht, bleibt derlei nicht aus.
Das Klischee von Sylt als einem Ort, an dem sich trifft, wer reich geworden ist, sich jedenfalls besonders ungern entreichern lässt, wird von einem Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) vom 26. März 1962 (Az. II C 175.61) wach.
Dem Vorsteher des Postamts Westerland war im Sommer 1958 von der Oberpostdirektion die Genehmigung erteilt worden, sich nebenberuflich als Immobilienmakler zu betätigen, solange dies nicht sein Ansehen als Beamter oder die vor Ort tätige Konkurrenz beeinträchtigte. Andere Makler wollten die Konkurrenz offenbar schnell wieder loswerden, sodass die Erlaubnis bereits im Folgejahr widerrufen wurde. Die Bundesrichter lehnten 1962 den Antrag des Postamtsvorstehers ab, die aufschiebende Wirkung seiner Klage wiederherzustellen – Sylt, eine Insel also, auf der man nicht nur gerne Grundstücksgeschäfte macht, sondern sich dabei ungern vom Postbeamten stören lässt.
Mit Beschluss vom 2. Mai 1979 (Az. 5 ER 227.78) lehnte das gleiche Gericht es ab, das Armenrecht, also Prozesskostenhilfe, für einen Rechtsstreit zu bewilligen, in dem es unter anderem um die Erstattung von 182 Mark durch den Sozialhilfeträger ging, die für die Klassenfahrt eines behinderten Kindes nach Sylt noch offen geblieben waren. Ob der Goldlametta-Ruf der Insel der Sache des Kindes und seiner Mutter hier gedient hat, darf bezweifelt werden.
Nicht jeder Sylt-Flieger will bedient werden
Der Schwur, mit dem sich das US-Militärpersonal darauf verpflichtet, die Verfassung gegen ausländische wie einheimische Feinde zu verteidigen – "all enemies, foreign and domestic" – dürfte in Deutschland heute auf wenig Gegenliebe treffen. Denn Feinderklärungen im Inland atmen zu viel von Carl Schmitts (1888–1985) Freund-Feind-Theorie, selbst wenn es darum geht, die Verfassung gegen ihre Feinde zu schützen, wie in der amerikanischen Formel.
Wirkt das Eidespathos fremd, muss man herzliche Gefühle für die Verteidigung der Rechtsordnung anderswo suchen. Und man wird fündig in einem schönen Fall zum Flughafen Sylt, der bis ins Jahr 2005 auch militärisch betrieben wurde.
Bis ins späte Frühjahr 1964 lag der Betrieb dieses Flugplatzes – noch ganz im militärischen Jargon als Fliegerhorst bezeichnet – vollständig in der Hand der Bundeswehr. Allerdings hatte Bundesverteidigungsminister Kai-Uwe von Hassel (CDU, 1913–1997) angeordnet, dass samstags und sonntags von 10 bis 12 Uhr und montags bis freitags von 8 bis 16 Uhr auch private Reise- und Sportflieger abzuwickeln seien. Das Ministerium schloss mit der Gemeinde Westerland darüber einen Vertrag.
Einer der hierzu – ohne gesondertes Entgelt – eingesetzten Soldaten hielt den Befehl für rechtswidrig, weil "es sich bei den Flügen lediglich um Urlaubs- und Vergnügungsreisen von Kurgästen handle, für deren Durchführung eine militärische Notwendigkeit nicht bestehe".
Der Bundesdisziplinarhof war an sich nicht abgeneigt, der Bundeswehr ein weites Feld an Öffentlichkeitsarbeit zuzubilligen. Während man eine Teilnahme von Bundeswehr-Kapellen an rheinländischen Faschings-Aufzügen für zulässig befand, solange die uniformierten Musikanten dabei nicht zum Narren gemacht wurden, zogen die Richter beim Flugbetrieb für die sogenannten "Kurgäste" auf Sylt eine Grenze – dass er geeignet sein sollte, einen "Einblick in das Leben der Truppe" zu vermitteln, "die Verbundenheit der Bundeswehr mit der Bevölkerung" zu pflegen oder "das Verständnis und das Gefühl für die Mitverantwortung der Bevölkerung wie die Verteidigungsbereitschaft im Rahmen der NATO" zu wecken, leuchtete dem 1. Wehrdienstsenat nicht ein. Der Befehl zur Abfertigung der "Kurgäste" war rechtswidrig (Bundesdisziplinarhof, Beschl. v. 16.02.1967, Az. I (II) WB 73/64).
Für die großen Pathosformeln von der Verteidigung der Verfassung gegen ihre Feinde ist hier natürlich kein Platz, aber diesen – notorisch anonymisierten – Soldaten will man heute doch rühmen: für die zivile Tapferkeit, unbequem geworden zu sein.
Bequemlichkeiten der vermeintlich Unbequemen
Noch ins juristische Wimmelbild zu Sylt gehören zwei Vorgänge, die die Herausbildung von öffentlichem Bewusstsein berühren.
Am 18. Januar 1972 bestätigte der BGH (Az. 5 StR 438/71) ein Urteil des LG Flensburg vom 19. Oktober 1970 wegen eines nur kurz Aufsehen erregenden Badeunfalls auf Sylt im Jahr zuvor.
Am 9. Juli 1969 waren vier Jungen in Strandnähe ertrunken, als eine – möglicherweise nicht absehbare – Welle die Kinder erfasst hatte. Verurteilt wurde ein ehrenamtlicher Aufseher des Deutsche Lebens-Rettungs-Gesellschaft e.V. wegen fahrlässiger Tötung, § 222 Strafgesetzbuch (StGB).
Während sich bis heute fachliche Auseinandersetzungen dazu finden, welche Qualität die todbringende Welle hatte – es handelte sich möglicherweise um einen sogenannten "Seebär" oder "Meteotsunami" – ist die Frage, aus welchen sozialen Verhältnissen die acht- und neunjährigen Kinder – überwiegend wohl des Schwimmens unkundig und von zwei nicht in der Rettung trainierten Frauen begleitet – in diese Lage geraten waren. Wenn nicht der Tod von vier Kindern, was dann hätte schon vor 50 Jahren Anlass gegeben, die oft üble Arbeit der zahllosen Erholungsheime näher untersuchen? Das erfolgte augenscheinlich nicht.
Im Vergleich zum tieftraurigen Vorgang aus dem Jahr 1969 wirkt eine Frage, aufgebracht vom NRW-Bildungsurlaubsrecht der frühen 1990er Jahre, fast wieder heiter.
Eine kaufmännische Angestellte hatte die Freistellung für einen Aufenthalt am Meer begehrt, wo ein staatlich anerkanntes "Bildungswerk für Friedensarbeit" eine 6-tägige Arbeitnehmerweiterbildung unter dem Titel "Nordsee – Müllkippe Europas!?" veranstaltete – mit schönen Wattwanderungen, aber auch mit Schreckensprodukten des Öko-Kinos wie dem 90-Minuten-Film "Wenn Sylt versinkt".
Unternehmer und Freiberufler neigen dazu, bereits die gewöhnlichen Urlaubsansprüche von abhängig Beschäftigten für beinahe dekadent üppig zu halten, ein zusätzlicher Bildungsurlaub traf auch hier nicht den Geschmack des Arbeitgebers. Das tatsächliche und rechtliche Fingerhakeln in diesem Fall mag heute weniger interessieren – nachzulesen im Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 5. Dezember 1995 (Az. 9 AZR 666/94) – als die Frage: Wenn es schon vor 30 Jahren möglich war, einen vielleicht ganz informativen, zweifellos aber in schöner Natur veranstalteten Bildungsurlaub nicht zuletzt zum Untergang Sylts zu absolvieren – wie kann es dann sein, dass heute immer noch ein derartiges Spektakel um steigende Meeresspiegel gemacht werden kann? Wie passt das zusammen?
Wahre Liberale heiraten nicht auf Sylt
Es ist leicht zu ermitteln, dass in kirchenrechtlicher Hinsicht die Vermählung von Christian Lindner und Franca Lehfeldt auf Sylt wohl nicht zu beanstanden war – die frühere Bischöfin Margot Käßmann hatte, aufmerksamkeitsökonomisch erwartbar, moralischen Anstoß genommen. Denn solange wenigstens einer der Gatten einer evangelischen Kirche angehört, geben die "Grundlinien für das kirchliche Handeln bei der Taufe, der Trauung und der Beerdigung" der örtlichen Pfarrerin (w/d/m) einen weiten Ermessensspielraum, wen sie unter die Haube bringt.
Wer aber, etwa als Liberaler, noch im Akt der Heirat seine private Staatsferne symbolisch zum Ausdruck bringen wollte, müsste schon eine andere Insel wählen: Weil Helgoland erst durch Vertrag vom 1. Juli 1890 von Großbritannien an Deutschland abgetreten wurde, war dort das Personenstandsgesetz vom 6. Februar 1875 erst ab dem 1. Januar 1900 anzuwenden.
Der gesetzliche Zwang, sich vor der kirchlichen Trauung bei einem Standesbeamten einzufinden, bestand damit für Helgoland erst deutlich später als im übrigen Deutschland. In dieser Hinsicht ist Sylt leider völlig langweilig.
Rechtsgeschichten von der Nordseeinsel: . In: Legal Tribune Online, 17.07.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/49059 (abgerufen am: 09.10.2024 )
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