Die Semesterferien haben begonnen. Aber nicht für alle bedeutet das Freiheit. Die einen brüten über ihren Hausarbeiten, die anderen müssen noch Abschlussklausuren überstehen und am schlimmsten haben es sicherlich die, die im März zum Examen geladen werden. Die Sitzplatznummern, der von Angstschweiß geschwängerte Prüfungsraum, die Ansagen der Aufseher. Jeder Jurist kennt das. Wer vergisst das schon.
Letzte Woche hatte ich meine schriftliche Fachanwaltsprüfung im Strafrecht. Für ein konzentriertes Bearbeiten der Fragen war ich aber viel zu entspannt. Ich genoss die ruhige Atmosphäre. Ein ganzer Schreibtisch für mich. Lichtdurchflutete Räume. Relaxte Kollegen, die das Schlimmste bereits hinter sich haben und ohne die Furcht leben müssen, womöglich "endgültig nicht bestanden" zu haben. Ja, ich bin froh, dass diese Zeiten vorüber sind. Jeder Jurastudent kennt es. So etwas vergisst man nicht.
Dieses unangenehme Gefühl, wenn 450 Studenten auf einmal eine Zwischenprüfung oder Abschlussklausur schreiben sollen und aus dem Auditorium Maximum ein Olfactorium Minimum wird. Der Transpirationsgehalt in der Luft des Raumes steigt exponentiell und man betet, dass man nicht unmittelbar neben einem Kommilitonen sitzen muss, der schon aufgrund seines Körperumfangs die dreifache Menge an Schweiß ausscheidet.
Panische Blondinen, verstörte Ausgestoßene und dicke Streber
Ich erinnere mich noch gut, wie ich in der Schlange stand, um mir nicht nur meine Sitzplatznummer zu ziehen, sondern mich auch noch einer Ausweiskontrolle zu unterziehen. 15 Minuten später werde ich wahrscheinlich auf dem Schlauch stehen. Wobei meine Lieblingskandidaten die sind, die acht Wochen lang nichts lernen und dann, wenn die Klausur kommt, sagen: "Ich hatte ein Blackout". Für einen Blackout muss es jemals irgendwo Licht gegeben haben!
Was für unangenehme, aber auch surreale Situationen das waren. Lauter panische Blondinen, die gerade von ihrem Reiterhof zurückgekehrt sind und sich am Montagmorgen darüber Sorgen machen, dass womöglich der erfolgsqualifizierte Versuch drankommen könnte. Verstörte Ausgestoßene der Juristengesellschaft, die allein in der Ecke sitzen und irgendwelche Definitionen vor sich hinmurmeln (Kandidaten für die Verwaltung).
Der Streber, der nicht nur den Dicken markiert, sondern auch wirklich dick ist. Der Lerner, der mit seinen exotischen Problemstellungen, die er selbst nicht kapiert hat, fünf Minuten kurz vor der Klausur auspackt und damit alle um ihn stehenden Personen noch mehr in Panik versetzt. Die absolut gechillten Kiffer mit ihren Adidas-Originals und Dr. Dre Kopfhörern, aus denen Funk- und/oder NWA-Mucke schallt. Und die 08/15-Studentinnen, die sich Händchen haltend Karteikarten vorlesen. Gleich bin ich an der Reihe.
Man kommt sich vor wie beim Grenzübertritt
Der Typ hinter mir, ein 38-jähriger Politikwissenschaftler, der es lustig fand nebenbei Jura zu studieren, stupst mich an. Es sind noch zehn Minuten bis zum Prüfungsbeginn und dieser Vogel eröffnet mir stolz in seinem grün/pink/schwarzen, hautengen Funktionsfaser-Radsporttrikot mit durchgehendem Reißverschluss, dass er gerade erst vom Bungee-Jumpen käme und jetzt das notwendige Adrenalin für die Klausurbearbeitung durch sein Körper schieße. Was für ein Freak. Er greift in seine Tasche, während ich mir vorstelle, dass er nichts drunter hat, und packt einen Sechsämtertropfen aus: "Ich muss ja auch wieder runterkommen." Und dann… endlich: "Ka…Ka…bal…jer" Ein verlegenes Gelächter, weil die Aufsicht meinen Namen nicht aussprechen kann.
Ich ziehe die Nummer 13. Nicht gut, ich bin abergläubisch und habe bereits beim ersten Versuch die 13 gezogen (spontan assoziiere ich das weder mit der angestrebten Punktzahl noch mit der Garantenstellung aus Ingerenz, sondern mit dem Synonym für Diarrhö). Ich hätte mich wohl doch abmelden sollen, aber jetzt ist es zu spät. Die ganze Chose ist so offiziell, ich komm mir vor wie beim Grenzübertritt (unerlaubte Einfuhr von zwei Kilogramm Angstschweiß). Gleich nach der Ausweiskontrolle will ich mich auch ausziehen und auf den Amtsarzt bzw. den Hygienebeauftragten der Uni warten, der mir irgendwas in irgendwelche Körperöffnungen schiebt, um auf Nummer sicher zu gehen. Aber so schlimm ist es dann doch nicht.
2/2: Die Horrorvision, während der Klausur einzuschlafen
Im Saal geht es ganz in diesem Stil weiter. Der wissenschaftliche Assistent geht die (zum x-ten mal gehörte) Belehrung am Anfang der Prüfung peinlichst genau durch (und hat sie womöglich sogar auswendig gelernt, um souveräner zu wirken). Nach Beginn weist er seine Handlanger an, die Prrrrüflinge orrrrdnungsgemäß zu kontrrrollierrrennnn! Schon ist es passiert. Ein armer russischer Student, der sein Gesetz kyrillisch kommentiert hat, wird abgeführt (Daz izd Missverstiendnizz. Das nijeben Pjaragraf 211 bedeutet Pjaragraff 28 Abzatz zwei! dud das nieeeechhhht…неeeeeeт! просьаaaaa… für Mütterchen Russlaaaa…“ *Türzuhau*).
Meine Güte, ich hatte ständig derartige Visionen während der Klausur. Ich dachte mir immer, irgendwann springt eine noch aus dem Fenster oder packt eine Maschinenpistole aus und schießt wild um sich, wenn der Dozent ins Mikrofon grölt: "Die Bearbeitungszeit beträgt … *hustkotzschleim* … noch 15 Minuten. Danach legen Sie bitte unverzüglich den Stift weg. Leisten Sie dem nicht Folge, muss ihre Arbeit als nicht bestanden bewertet werden." Und ihre Hand wird Scharia-Style abgehackt. Alle möglichen Horrorszenarien geht man durch: Die geschriebene Klausur geht verloren, man sitzt im falschen Raum, man schläft während seines Relax- und Konzentrationsversuchs ein und wacht erst am Ende der Klausur wieder auf, jemand schiebt einem einen Spicker unter, man studiert eigentlich gar kein Jura usw.
"Tut mir leid, heute dürfen Sie leider nicht aufs Klo gehen"
Jetzt im Nachhinein kann man darüber lachen, zumal ich selbst auch schon oft Aufsicht habe halten müssen. Prüflinge haben ein erfrischendes Obrigkeitsgefühl. Einmal kam eine vollkommen zerzauste und sichtlich kurz vor dem Nervenzusammenbruch stehende Zweitsemestlerin auf mich zu und fragte, ob sie aufs Klo gehen dürfe! Und ich sagte: "Tut mir leid, heute nicht." Sie wandte sich von mir ab und wollte sich wieder zurück auf ihren Platz setzen. Ich tippte sie kurz an und machte sie darauf aufmerksam, dass das nicht ernst gemeint war.
Kurz überlegte ich, ob ich ihr noch ein Tütchen Koks in die Hand drücken sollte (aber diese Erfahrung soll ihr bis zum ersten Praktikum in einer Großkanzlei erspart bleiben). Meine kurze Unterhaltung mit der Dame nutzten drei verpeilte Typen aus der vorletzten Reihe für eine kurze Lagebesprechung: "Ey David, wendest du § 28 II an?" Das Geflüstere hörte der ganze Saal und ich intervenierte nur, weil es schlicht zu laut wurde. Ansonsten hat es mich nicht gestört, dass die Jungs spickten, da ich wusste, dass alle drei gleich blöd sind und Dummheit in Potenz eine Klausur wahrscheinlich nicht gehaltvoller macht.
Dann kam der beste Teil. Die letzten 15 Minuten. Ich schaltete das Mikro an und flüsterte hinein: "Die Bearbeitungszeit ist um …" Schockierte, bleiche Gesichter, ein Mädchen greift zu ihrem Kreuz, ein Typ zuckt zusammen und seine 45 nicht durchnummerierten Klausurblätter fallen auf den Boden, dann Totenstille.
"Die Bearbeitungszeit ist um … und zwar in 15 Minuten!" Wie gemein. Nach Ablauf der Zeit bin ich versucht, in das Mikrofon zu singen: "Wer hat an der Uhr gedreht? Ist es wirklich schon so spät? Soll das heißen, ja ihr Leut? Mit Klausur ist Schluss für heut?" Ich sammle die Klausuren ein, spüre förmlich den Spannungsabfall und erinnere mich an dieses wundervolle Gefühl, das man jedes Mal aufs Neue genießen darf und muss, wenn eine Klausurphase vorüber ist: "Jetzt nur noch raus hier und den Rest des Tages relaxen." In diesem Sinne, allen Examenskandidaten für den Märztermin eine erholsame Ruhephase (sie haben es sich verdient) und allen cand. iurs. und stud. iurs. da draußen schöne Semesterferien … trotz Hausarbeiten!
Ahmet Kabakyer, Of all the things I’ve lost, I miss my mind the most: Der ganz normale Prüfungswahnsinn . In: Legal Tribune Online, 16.03.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/8340/ (abgerufen am: 28.03.2024 )
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