Wer Juristen und Banker eh für überflüssige Berufsgruppen hielt, könnte durch diese gar nicht so unrealistische Idee neue Inspiration bekommen. Martin Rath über SciFi-artige Software und Datenbanken als neue Kontrollinstrumente des Rechts.
Unter Juristen ist bereits im Hörsaal ein allgemeines Phänomen zu beobachten: Die Aufmerksamkeit steigt, wenn es um prüfungsrelevante Themen wie die dogmatischen Verschrobenheiten und feinen Unterschiede der Tatbestände von Diebstahl, Unterschlagung oder Betrug geht, die für Normalsterbliche gänzlich unsinnig erscheinen. Und die Aufmerksamkeit mancher Anwälte bezüglich ihrer Aufgaben scheint in gleicher Weise mit dem Honorar zu korrelieren wie zuvor mit der Prüfungsrelevanz gewisser Themen.
So hatten bislang sicherlich beide Juristen-Gruppen wenig Interesse an § 265a Strafgesetzbuch (StGB), dem Erschleichen von Leistungen. Darunter fällt zum Beispiel dieser Fall: Täter T überlistet Münzfernsprechautomaten M, gegenleistungsfrei nach Neuseeland zu telefonieren. Nicht aber dieser: Täter T überlistet Schokoladenautomaten S, gegenleistungsfrei einen Schokoladenriegel freizugeben - hier müsste die Aufmerksamkeit der Prüflinge wieder steigen, denn da ist § 242 StGB einschlägig*. Doch wer schon im Hörsaal sein Herz generell an den Automatendiebstahl verlor, dem winkte nicht nur der Prüfervermerk "Schwerpunkt verfehlt", sondern vielleicht auch eine armselige Zukunft als Strafverteidiger von Schwarzfahrern.
Obwohl sich also aus derlei dürftigen Tatbeständen weder Prädikatsnoten noch immense Honoraransprüche herleiten lassen, könnte nun ein dritter Aspekt den Automaten zu einer neuen Aufmerksamkeit verhelfen: Automatenroutinen könnten immer öfter den Tatbeständen selbst und damit auch den Honoraransprüchen den Garaus machen.
Denn aus den Tiefen des Netzes erlangt eine utopische, wenn nicht gar dystopische Idee praktische Relevanz: Das "Blockchain-Prinzip" und die damit einhergehende Idee "smarter" Verträge. Für ihren Erfinder funktioniert die Idee eines intelligenten Vertragskontrollsystems ähnlich wie bisher der einfache Warenautomat: Man wirft eine Münze ein und das gewünschte Gut wird freigegeben. Insbesondere für die Nutzung von Kraftfahrzeugen und für das liebe Geld sind inzwischen Fantasien im Umlauf, die neue staats-, wenn nicht gar rechtsfreie Räume versprechen und Anwälte, Richter, Gerichtsvollzieher und sogar die Banken überflüssig machen könnten.
Staatsfreie Räume durch Technik?
Bislang überwacht der Staat, ob privatrechtlich geschlossene Verträge eingehalten werden oder nicht, Banken kontrollieren den Geldfluss. Zukünftig sollen die Leute sollen ihr Geld jedoch selbst schöpfen und das, was sie bisher per schriftlichem Vertrag geregelt haben, in Smart Contracts "verdinglichen", so die zunächst eher kryptische Beschreibung der Visionäre.
Anstelle also den Justizapparat zu bemühen, der mühselig die Einhaltung der Gesetze kontrollieren und durchzusetzen muss, könne man auch einfach eine Software programmieren, die diese Aufgabe automatisch übernimmt und die in Echtzeit auf riesige, intelligente, dezentrale Online-Datenbanken zugreifen kann. Dieser Algorithmus könnte zum Beispiel Verträge in Echtzeit zuverlässig überwachen und die Rechte der Vertragspartner automatisch durchsetzen. Alle relevanten digitalen Transaktionen zwischen Computern würden genau erfasst, gespeichert, sodass das System zuverlässig auf Veränderungen reagieren kann.
Informationswissenschaftlich setzt die schöne neue Welt aber voraus, dass diese so ermittelten Protokolle absolut verlässlich sind. Schließlich müssen die "tatbestandlichen" Voraussetzungen fehlerfrei ermittelt werden und die digitalen Befehle missbrauchssicher verschlüsselt gegeben werden können. Hier kommt das Blockchain-Prinzip ins Spiel: Vereinfacht gesagt soll dabei die dezentrale und transparente Speicherung der Datenbanken garantieren, dass die Informationen nicht manipulierbar und objektiv richtig sind.
Privat organisierte und auf viele Tatbestände des täglichen Lebens ausgeweitete Routinen könnten so gänzlich ohne Kontrollinstanzen wie den Staat und seine Privatrechtsordnung auskommen. Man denke an Autos, die per Fernsteuerung stillgelegt werden, wenn man seine Raten nicht bedient, bis hin zum "sich selbst protokollierenden Verkehrsunfall".
Der Autokauf mit "verdinglichtem" Vertrag
Bereits im Jahr 1997 formulierte der US-amerikanische Jurist und Informatiker Nick Szabo, der in einschlägigen Kreisen als der unter einem Pseudonym agierende Bitcoin-Erfinder verdächtigt wird, am Beispiel eines Kaufvertrags über ein Kraftfahrzeug, wie sich der technische Fortschritt in Form von "Smart Contracts" niederschlagen könnte. In seinem Aufsatz "Formalizing and Securing Relationships on Public Networks" , der im Journal "first Monday" erschienen ist, zeigte Szabo, wie man die Nutzungsbefugnis an einem Auto über ein elektronisches, im Fahrzeug verdinglichtes Protokoll von den zeitnah abrufbaren Zahlungsverhältnissen abhängig machen und damit die Interessen zwischen den Vertragsparteien abschließend regeln kann.
Man darf annehmen, dass es ein starkes Interesse daran gibt, ein Auto dauerhaft zu besitzen, weniger es auch wirklich zu fahren. Das erkennt man daran, dass so wenige Kraftfahrzeuge als Taxi- oder im Carsharing unterwegs sind und die Leute ihr Automobil die längste Zeit des Tages ungenutzt herumstehen lassen. Es besteht also weiterhin Interesse, ein Auto zu kaufen.
Dieser Kauf könnte künftig unter den Bedingungen eines elektronisch aufgerüsteten und online vernetzten Kraftfahrzeugs folgende Elemente enthalten: 1. Der Vertrag verschafft dem Eigentümer den ausschließlichen Zugang zum Fahrzeug und schließt andere Personen aus. 2. Im Programm der Fahrzeugelektronik ist eine Hintertür vorgesehen, die es erlaubt, das Fahrzeug unter Einhaltung gewisser Sicherheitsstandards stillzulegen. 3. Im Fall des kreditfinanzierten Fahrzeugkaufs kann der Kreditgeber den Stilllegungsbefehl geben, wenn ein seriöser Zahlungsrückstand vorliegt. 4. Mit der Schlusszahlung wird die Hintertür im Programm dauerhaft geschlossen.
* geändert am 31.08.2015, 08.22: Zuvor wurde hier nicht explizit darauf hingewiesen, dass gerade der Schokoladenautomat-Fall nicht unter § 265 StGB fällt, sondern subsidiär zum Diebstahl ist. Durch Hinzufügen des Abgrenzungsbeispiels wurde dies korrigiert.
2/2: Sich selbst protokollierende Verkehrsunfälle
Szabo selbst kalkulierte bereits 1997 das Ende des ehrwürdigen Berufsstands der Gerichtsvollzieher ein, soweit sie sich mit der Rückholung von Kraftfahrzeugen verdingen, die nicht hinreichend abbezahlt werden. Doch darf man nicht allein über das berufliche Schicksal des Gerichtsvollziehers ins Grübeln kommen. Bevor der seine Kreise zieht, haben viele kaufmännische Angestellte Konten und Papiere gewälzt, mussten Juristinnen und Juristen in formalisierten Rollenspielen die Korrektheit des Papierewälzens und des in Schieflage geratenen Kraftfahrzeugkreditkontoauszugs absegnen. Für die altbewährten Rollenspiele der Anwälte und Richter, ihre Prüfungsroutinen und Subsumtionsleistungen mit Blick auf sogenannte Lebenssachverhalte dürfte nur noch wenig Bedarf bestehen.
Denn seit 1997 schicken sich weitere Routinen an, "verdinglicht" zu werden. Blackboxes könnten zukünftig Verkehrsunfälle protokollieren. Ein Ereignis, das bis zur gerichtsfesten Ermittlung aller Umstände bisher extrem viel gutachterliche und juristische Gehirnarbeit erforderte. Der "sich selbst protokollierenden Verkehrsunfall" würde unzuverlässige Zeugen, abwesenden Polizisten und Richtern überflüssig machen.
Bislang hatte man Gerichten und Rechtsanwälten, die sich etwas biestig zur Dashcam im Automobil äußerten, immer nur datenschutzrechtliche Sensibilität oder Überreiztheit attestiert. Von Szabo her gedacht könnte auch ihre Abneigung auch einer honorarwirtschaftlichen Weitsicht beruhen. Denn in einer Gesellschaft, in der die Bürger und Marktteilnehmer Kontrollroutinen selbst übernehmen und Daten aufzeichnen, werden auch sie viel weniger gebraucht.
Wem oder was sollte man mehr Vertrauen schenken?
Mit ausreichender kryptologischer Ausrüstung lässt sich nicht allein die Kommunikation zwischen Maschine Konto missbrauchssicher organisieren. Die Kryptologie erlaubt auch in bisher ungeahntem Ausmaß, Alternativ- oder Parallelwährungen zu kreieren. Die kryptografische Magie der Währungen neuen Typs beruht darauf, dass sie weitgehend ohne Bank auskommen können.
Bisher scheiterten Versuche, beispielsweise eine regionale Währung als sogenanntes "Freigeld" zu organisieren, oft an der begrenzten Teilnehmerzahl, der Unsicherheit der Kommunikation und vor allem an den hohen Transaktionskosten. Nun könnten Unternehmen wie Second Life mit dem "Linden-Dollar" oder eben Regionalgelderfinder auf die Anbieter von Smart-Contract-Produkten mit dem Wunsch zugehen, beispielsweise das digitale Protokoll des Kraftfahrzeugs direkt mit "Linden-Dollar" zufriedenzustellen, ohne ihn erst in eine gesetzliche Währung tauschen zu müssen.
Im kontinentaleuropäischen Raum mit seinen starken Rechts- und Sozialstaaten mögen diese Science-Fiction-artigen Visionen nicht als starke Alternative zum gewohnten Ausgleich zwischenmenschlicher Interessen wirken. Überall dort, wo man im Zweifel einem anonymen digitalen Protokoll mehr Vertrauen schenkt als dem Schriftwechsel mit seiner Bank oder seinem Anwalt, mag das anders aussehen.
Sollte diese Dystopie jemals Realität werden, so kann man wirklich nur hoffen, dass es sich um ein vor Manipulationen sicheres System handelt. Andernfalls würde beispielsweise die Hacker-Community viele "spannende" neue Schnittstellen zu Alltagsgegenständen bekommen: Die ersten Autos wurden ja schon gehackt und ferngesteuert.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.
Martin Rath, "Smart Contracts" und das Blockchain-Prinzip: Das Ende der Juristen? . In: Legal Tribune Online, 30.08.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/16747/ (abgerufen am: 29.05.2023 )
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