Ein frommes Märchen aus der Geschichtsphilosophie klopft an die Tür der Juristerei und will geglaubt werden. Wird es aber nicht. Viel lieber glaubt Martin Rath an die Demokratiefreundlichkeit der Rechtssoziologie und an ein fröhliches Missionswerk der Rechtswissenschaft.
Wo ist Balthasar Garzón, wenn man ihn mal braucht? Außer Dienst gestellt. Der frühere spanische Ermittlungsrichter, dem es 1998 gelang, den chilenischen Ex-Diktator Augusto Pinochet in britische Auslieferungshaft zu bringen und sich selbst zu internationaler Berühmtheit, hätte wohl seine helle Freude, gegen den neuen Bischof von Rom vorzugehen. Dem jetzt als Papst Franziskus amtierenden Jorge Mario Bergoglio wird von argentinischen Menschensrechtsanwälte vorgeworfen, sich – zum Schaden von Ordensbrüdern – der Militärdiktatur seines Heimatlandes gegenüber sehr opportun verhalten zu haben. Ein Fall, wie geschaffen für das starke Ego eines weltbekannten Anklägers – der indes selbst von der spanischen Justiz aus dem Verkehr gezogen wurde.
Weil die juristisch interessierte Öffentlichkeit in den nächsten Monaten sicherlich noch mit dem Fall Bergoglio versorgt sein wird und abzusehen ist, dass dann auch die blödianische Sorte Antiklerikalismus wieder fröhlich wuchern dürfte, empfiehlt sich ein interessanter Aufsatz aus der "Rechtsgeschichte", der Zeitschrift des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte (2012, S. 125-137).
Gebt den Tuareg Reichsgerichtsurteile statt saudi-arabischer Sharia-Normen
Unter dem Titel "Recht und Mission in der frühen Neuzeit" dokumentiert Michael Sievernich die Fleißarbeit, mit der spanische Theologen schon in den ersten Jahrzehnten der Kolonialherrschaft Spaniens über das heute sogenannte Lateinamerika mit der Übersetzung religiöser sowie normativer Literatur befasst waren.
Die juristische Diskussion Spaniens stand damals nicht nur bei der Entstehung des modernen Völkerrechts Pate, ging es doch etwa um die Rechtstitel der unterworfenen 'Indianer'. Sie wurde bekanntlich von Hugo Grotius fleißig rezipiert, dem vorgeblichen "Vater des Völkerrechts". Der indianerfreundliche Bischof Bartholomé de Las Casas sprach, vielleicht als Erster, von "derechos humanos", Menschenrechten. Derlei ist einigermaßen geläufig. Sievernich macht auf die weniger bekannten Aspekte aufmerksam: Die Spanier übersetzten beispielsweise "Beichtspiegel" – heute wäre das eine Mischung aus Lebensratgeberliteratur und "RiStBV" (Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren) – in die Sprachen der indigenen Bevölkerung. Dazu mussten natürlich auch die entsprechenden Grammatiken entwickelt werden. Kommunikation wurde über normative Texte hergestellt.
Davon könnte sich der Karlsruher "Vatikan" vielleicht etwas abschauen. Ob dem Weltfrieden nicht beispielsweise gedient würde, übersetzte man die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts schnurstracks in die Sprachen der islamischen Welt, um neben dem Werte- gleich auch noch den Sprachtransfer zu fördern? Und damit muslimische Internet-Nutzer an normativen Texten etwas anderes zu lesen bekommen, als die durchgedrehten Rechtsgutachten ("fatwa") überkandidelter islamistischer Gelehrter? Gebt den Tuareg Reichsgerichtsurteile zum Viehseuchenrecht statt saudi-arabischer Sharia-Normen. Besser angelegt als in Bundeswehrsoldaten, die durch afghanische Mohnfelder stolpern, wäre das Geld vielleicht.
Verhexen oder entzaubern Juristen die Welt?
Einen subtileren, gleichwohl etwas schrägen Gedanken geht der Würzburger Rechtshistoriker Dietmar Willoweit in der Juristenzeitung (2013, S. 157-163) nach. Unter dem Titel "Die Sakralisierung des Rechts" setzt sich Willoweit mit der These auseinander, die Geschichte des Abendlandes sei nicht allein eine Geschichte der Säkularisation – der allmählichen Ersetzung transzendentaler durch weltliche Institute –, gegenläufig habe sich parallel eine "Sakralisierung" vollzogen. Zum Beispiel bei unseren zentralen Werten: "Wenn aber ein Kodex von Rechtsnormen so jeder menschlichen Einwirkung entzogen sein soll wie die Menschenrechte, dann ist solches Recht auch ohne ausdrückliche Berufung auf ein göttliches Gebot einer dem Menschen vorgegebenen, also gleichsam sakralen Sphäre zuzuordnen."
Darüber kann man streiten, muss man sogar, denn der Menschenrechtsanspruch wird ja von Freund wie Feind als universal angesehen. Etwas schräg sind indes Willoweits Ausgangs- und Endpunkte. Aufgebracht hatte die These vom Säkularisierungsprozess ursprünglich der Heidelberger Religionstheoretiker und Ägyptologe Jan Assmann, der in den deutschen Geisteswissenschaften entfernt an die Rolle Otfried Preußlers in der schöngeistigen Literatur erinnert: Anregend und produktiv ist ja, was der Mann so schreibt, aber man weiß nicht, wo er seine Ideen nur immer hernimmt.
Endgültig mit großen, verwunderten Kinderaugen hinterlässt Willoweit den Leser der doch sonst so grundsoliden Juristenzeitung aber auf seiner Spurensuche nach "Sakralität" in der Gegenwart, am Endpunkt seiner Darstellung: "Wenn Sakralität einen Raum unangreifbarer Gewissheit beschreibt, dann ist Wissenschaft als ihre profane Erscheinungsform zu begreifen. Sie ist für die moderne Gesellschaft so verbindlich, wie der christliche Glaube im Mittelalter und die jeweilige Konfession in der frühen Neuzeit." Politik sei heute die Umsetzung von Wissenschaft, kaum mehr. Potzteufel!
2/2: Hartz-IV-Verwissenschaftlichung selbst begrenzt
Willoweit sieht also den "puren Dezisionismus" aus der politischen Sphäre soweit entschwunden, die verwissenschaftlichte Politikberatung als so stark an, dass sich verfassungsrechtliche Probleme ergäben, übertriebe man es weiter mit der Heilskompetenz der Wissenschaft. Im Anschluss an Eberhardt Schmidt-Aßmann formuliert er: "Danach wäre eine Verpflichtung von Staatsorganen, Ergebnisse wissenschaftlicher Beratung politisch '1:1 umzusetzen, entweder nicht ernst gemeint oder verfassungswidrig'. Art. 20 Abs. 1 Satz 1 GG verlangt 'die Rückführbarkeit jeder staatlichen Willensentscheidung auf das Volk'. Nicht die Wissenschaft legitimiert das Gesetz, sondern der parlamentarische Gesetzgeber."
Boshaft könnte man einwenden, dass die deutsche Universität von Akademikern bevölkert wird, die nach dem Willen des Gesetzgebers mit einem blödsinnigen Sonderarbeitsrecht kujoniert und von Drittmittelabhängigkeiten geknechtet werden. Die Zeiten von spitzbärtigen Professoren des 19. Jahrhunderts, die nach Art eines Rudolf Virchow (1821-1902) neben der Mikrobe auch noch dem monarchischen Dezisionimus den Garaus machen wollten, wenn sie könnten, sind reichlich vorbei.
Weniger boshaft ist der Blick auf die nüchterne Selbstbeschränkung "der Wissenschaft", zu finden in der "Zeitschrift für Rechtssoziologie" 32 (2011, S. 27-42). Unter dem etwas barocken Titel "Erfüllen Gesetzesfolgenabschätzung und Gesetzesevaluation die verfassungsrechtlichen Anforderungen an das innere Gesetzgebungsverfahren? Überlegungen anlässlich des 'Hartz-IV-Regelsatz-Urteils'" prüft die Speyerer Juristin Corinna Sicko einen Teilbereich der – wenn man so will – Verwissenschaftlichung politischer Entscheidungsprozesse.
Im sogenannten "Hartz-IV-Urteil" (v. 09.02.2010, Az. 1 BvL 1/09) habe das Bundesverfassungsgericht "sehr plakativ im dritten Leitsatz" etwas "inhaltlich lediglich Altbekanntes" wiederholt, unter anderem, dass der Gesetzgeber zur "Ermittlung des Anspruchsumfangs" in einem "transparenten und sachgerechten Verfahren realitätsgerecht sowie nachvollziehbar auf der Grundlage verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungsverfahren" vorgehen müsse.
Holzschnittartig zusammenfassen lässt sich Sickos Analyse vielleicht so: Das Verfassungsgericht verlangt dem Gesetzgeber zwar ein verwissenschaftlichtes Verfahren in einem Kerngebiet der Sozialpolitik ab, der Sicherung des Existenzminums, lässt ihm aber freie Hand bei der Wahl der Methoden. Auch die – wissenschaftliche – Gesetzgebungsevaluation ist insoweit methodisch nicht viel schlauer als das Verfassungsgericht.
Statt Nörgelei an Wissenschaftlichkeit: Missionswerk Aufklärung
Sickos Analyse lässt nicht nur an der These zweifeln, dass eine Machtübergabe vom demokratisch legitimierten Gesetzgeber an einen Wissenschaftsbetrieb drohe, der in sakralen Sphären schwebt.
Sie lässt auch erkennbar Raum für grundsoliden Machiavellismus an der Schnittstelle Macht/Wissenschaft, der sich in einer Doktrin ausdrückt, die dem letzten bekennenden Macht-Liebhaber Deutschlands zugeschrieben wird, Joseph Fischer. Für jeden akademisch abzusichernden Standpunkt, so diese Doktrin, finde sich im Gesetzgebungsverfahren doch stets ein Wissenschaftler, der sie gutachterlich vertritt.
Und doch, um beim Beispiel zu bleiben, wohin man blickt: Engagierte Juristen, gerne in Gestalt von sozial nervösen Rechtsanwälten, die etwa die wissenschaftliche Tragfähigkeit der "Hartz-IV"-Regelsätze benörgeln, als ginge es politisch um etwas anderes: Die Macht, Gutachter auszuwählen.
Die überschüssige Energie könnte man sich anderswo besser eingesetzt vorstellen: Was tut unsere Rechtswissenschaft überhaupt, um ihre Ideen in fremde Gesellschaften einzuschmuggeln? Dorthin, wo der Arbeiter billiger ist als es der deutsche Transfergeldempfänger je würde?
Oder: Welche Rechtstitel hat der afrikanische Bauer, wenn ihm der chinesische Staatsfond das Land unter dem Boden wegkauft? Wer hilft ihm dabei, sie zu formulieren – der saudi-arabische Sharia-Gelehrte oder der europäische Rechtshistoriker?
Statt über normative Kleinstkriege wie 40-Euro-Regelsatzfragen oder die wenigen halbwegs echten Wissenschaftssakralisierungen (z.B. Klimaschutzpolitik) zu nörgeln, sollte man der Frage nachgehen, welche Missionsleistungen man dem westlichen Recht abverlangen darf.
Martin Rath, Recht frech / Eine etwas andere Literaturübersicht: Wissenschaftsfrömmigkeit und andere Glaubensfragen . In: Legal Tribune Online, 17.03.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/8339/ (abgerufen am: 26.04.2024 )
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