Vor 100 Jahren erklärte das höchste deutsche Gericht, warum Filme aus unzüchtigen Bildern bestehen und verboten werden können. Es half der preußischen Polizei, polnische Versammlungsfreiheiten zu beschneiden, gab aber der Ärzteschaft gerne moderne Arbeitskampfmittel in die Hand. Eine juristische Nachlieferung zu Florian Illies' "1913. Der Sommer des Jahrhunderts" von Martin Rath.
Kaum war das Kino erfunden worden – die ersten historisch belegten Aufführungen fallen in die Jahre 1894/95 – nahm sich ein deutscher Pädagoge dieser frivolen Sache an. Während aber viele seiner Zeitgenossen in der "Kinematographie" vor allem ein neues Medium zur Verbreitung pornographischen Schunds sahen, forderte der evangelische Theologe und Gymnasiallehrer Adolf Sellmann (1868-1947) die Reform des Kinos und verteidigte es gegen den Versuch, Kinobetreibern durch enteignungsgleiche Steuern die Existenz zu vernichten. Theater bekämpften die neuartige Konkurrenz, Kinobetreiber kämpften mit harten Bandagen gegeneinander.
In seiner Zeitschrift "Bild und Film" hielt Adolf Sellmann hingegen fest: "Einig sind … die Kinobesitzer im Kampfe gegen den 'äußeren Feind', vor allem gegen Polizei und Zensurbehörde. Der rapiden Entwicklung des Kinematographen konnte die Gesetzgebung und Verwaltung nicht in gleichem Tempo folgen. Allmählich hat sie allerdings engere Fühlung genommen. Die polizeilichen Vorschriften sind schärfer geworden. Der Kinderschutz ist weiter ausgedehnt. Dem ästhetisch und ethisch vielfach auf sehr niedriger Stufe stehenden Plakat- und Reklameunwesen rückt man energischer zu Leibe. Die reichsgesetzliche Regelung der Konzessionspflicht steht vor der Türe."
Reichsgericht: Auch Filme sind Pornografie!
Um die Pflege einheimischen Kulturguts hat sich das Reichsgericht in Leipzig wiederholt verdient gemacht. Einige der schönsten Kettensätze deutscher Sprache sind den Reichsgerichtsräten gelungen. Doch nicht allein die berühmte Definition des Begriffs "Eisenbahn" zählt zu ihren kulturschaffenden Leistungen.
In einem Urteil vom 21. November 1913 (Az. II 500/13), abgedruckt in der halbamtlichen Sammlung von "Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen" (RGSt Bd. 47, S. 408-411), plagte sich das Gericht mit dem hergebrachten Verständnis der "unzüchtigen Abbildungen" ab. Mit "Gefängniß bis zu Einem Jahre und Geldstrafe bis zu eintausend Mark" war zu bestrafen, wer solche "feilhält, verkauft oder vertheilt, an Orten, welche dem Publikum zugänglich sind, ausstellt oder anschlägt oder sonst verbreitet".
Das Landgericht Berlin I hatte in Teilen des Kino-Machwerks "Nachtgestalten" solche "Abbildungen" erkannt. Der Stummfilm stelle nicht näher beschriebene "Tänze" sowie "die im Schlafzimmer stattfindende Verhandlung eines Mannes mit einer Dirne" dar.
Der findige Berliner Strafverteidiger hatte argumentiert, aus dem Begriff der "Abbildung" sei zu fordern, dass das Landgericht jedes Einzelbild des Films auf seine Unzüchtigkeit hätte prüfen müssen - zumal es sich um technisch getrennte "Abbildungen" handele, die jeweils für sich harmlos sein könnten. Diese Prüfung habe das Landgericht nicht unterlassen dürfen.
Das Reichsgericht sah dies anders und bestätigte die Verurteilung, indem es sich Kino-Technik mit analogen Wertungen näherte: "Wer eine Photographie als Lichtbild vorführt, schafft damit nicht eine neue Abbildung, die ausgestellt oder angeschlagen werden könnte, sondern er läßt die bereits vorhandenen Abbildungen auf das Auge wirken und macht sie dadurch unmittelbar dem Gesichtssinn zugänglich."
2/2 Lustbarkeiten des polnischen Dia-Vortrags
Während sich die Reichsgerichtsräte in diesem Urteil immerhin bemühten, sich ja keine Blöße hinsichtlich ihres technischen Sachverstands zu geben, sondern vielmehr als moderne Köpfe zu zeigen - die Verteidigung habe schon recht, dass sich da einzelne Bilder zum Film zusammensetzen, doch das interessiere nicht vom Rechtsstandpunkt - verblüfft aus heutiger Sicht ein engstirnig strafwilliges Urteil zu "öffentlich veranstalteten Lustbarkeiten", einem Film- oder Dia-Vortrag (v. 21.11.1913, Az. IV 787/13).
Am 19. April 1908 trat nach langen Auseinandersetzungen das Reichsvereinsgesetz in Kraft, das neben dem Recht der Vereinigungen auch das der Versammlungen regelte. Es war dies ein politischer Kraftakt gewesen, weil eine reichsgesetzliche Regelung zwar in der Verfassung von 1871 angekündigt worden war, die bisher einzelstaatliche Praxis in Deutschland aber von Differenzen zwischen liberalen und – namentlich in Preußen – restriktiven Regelungen geprägt war. Noch auf Grundlage des Reichsvereinsgesetzes wurde beispielsweise Teilnehmern am Leichenzug eines verstorbenen SPD-Funktionärs das Mitführen einer roten Fahne zur Last gelegt, die aus der Feier eine nicht genehmigte Demonstration gemacht habe.
Im Amtsgerichtsbezirk des kulturell umkämpften preußischen Städtchens Schrimm – im polnischen Śrem steht heute noch ein grotesk-imperialer neoromanischer Wasserturm aus Kaisers Zeiten – hatte der polnische Volksleseverein zu einem Vortrag eingeladen. Als politische Veranstaltung schätzte der Verantwortliche dies selbst ein und hatte sie entsprechend bei der Polizei angemeldet. Im Anschluss an den Vortrag, der vom polnischen Freiheitskampf gegen die Zarenherrschaft 1863 handelte, waren jedoch "Lichtbilder vorgeführt" worden. Die preußische Polizei und das Reichsgericht monierten: "Eine Anzeige der Lichtbildervorführung unter gleichzeitiger Beifügung einer Beschreibung des Gegenstands in zwei gleichlautenden Abzügen, wie sie die Polizeiverordnung des Regierungspräsidenten in P[osen] über öffentliche Veranstaltungen, Lustbarkeiten u. dgl. vom 21. Juni 1912 vorschreibt, ist nicht erfolgt."
Obwohl das Reichsvereinsgesetz, das für sich genommen schon restriktiv genug gehandhabt wurde, eine abschließende Regelung von Versammlungs- und Vereinsrechten beanspruchte, bestätigten Amts- und Reichsgericht die Verurteilung wegen Verstoßes gegen die Polizeiverordnung. "Lustbarkeiten", wie sie "Lichtbildvorführungen" auch im Rahmen von politischen Versammlungen darstellten, durften weiterhin landesrechtlichen Restriktionen unterworfen werden.
Ärztestreik 1913 - Vereinsfreiheiten
Im Vergleich zu ihren Kollegen vom vierten Strafsenat zeigten sich die Richter des vierten Zivilsenats regelrecht bemüht, der deutschen Ärzteschaft nicht im Kassen-Kampf in den Rücken zu fallen. Die Mediziner hatten es seinerzeit schon nicht leicht: Seit Einführung der Krankenversicherungspflicht der Arbeiterschaft 1883 hatten die Kassen erhebliche Marktmacht erlangt. Exklusive Verträge mit einzelnen Ärzten, mithilfe derer die Krankenversicherungen kostensparende Honorar- und Therapiebedingungen durchsetzten, waren zunächst die Regel.
Im Herbst 1913 spitzten sich die Auseinandersetzungen zwischen den Ärzten und den Krankenkassen dramatisch zu. Streikaktionen im Dezember 1913 sollten folgen, die erst endeten, als den kassenärztlichen Vereinigungen – ähnlich der seinerzeit schon anerkannten Tariffähigkeit der Gewerkschaften – Verhandlungsmacht in den Honorarverabredungen eingeräumt wurde. Ökonomisch gesprochen: Aus dem Nachfrageoligopol der Krankenkassen wurde das heutige beidseitige Oligopol von Krankenkassen und Ärztevereinigungen.
Wie aber organisieren sich Ärzte? Zur Arbeiterfaust wollten sich akademisch feine Medizinerhände damals ja nicht ballen. Das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) schuf hier ein Problem: Denn nach § 22 BGB ist die Rechtsfähigkeit sogenannter wirtschaftlicher Vereine – also von Vereinen, die einen Erwerbszweck verfolgen – von der Verleihung durch den Staat abhängig, damals der Bundesstaaten des Deutschen Reichs, heute der Länder.
Das Landgericht Zwickau hatte dementsprechend im Oktober 1912 die Löschung eines Vereins aus dem Vereinsregister angeordnet, weil sich in diesem - um es grob zu formulieren - Ärzte zur gemeinsamen Vermarktung ihrer kassenärztlichen Leistungen zusammengeschlossen hatten. Mediziner, die ihre Leistungen eigenständig an die Kasse verkauften, gerieten - um die Studentensprache dieser Zeit zu gebrauchen - in "Verschiss", wurden geächtet und vom Verein sanktioniert.
Gern vergessen: ärztliche Quasi-Gewerkschaften
Das Reichsgericht bahnte 1913 diesem durchaus geschäftstüchtigen Anliegen der Zwickauer Ärzte seinen Weg zum eingetragenen, nicht von der Gnade der Politik abhängigen Verein - und das mit fast schwärmerischen Worten über das Freiberuflerdasein: "Die moderne Entwicklung hat es … mit sich gebracht, daß auch die sogen. liberalen Berufe zu Erwerbszwecken ausgeübt werden und niemand nimmt daran Anstoß, wenn sich ihre Träger … die heutigen Errungenschaften des Verkehrs- und Wirtschaftslebens in einer mit der Würde und dem Ansehen dieser Berufe vereinbaren Weise zunutze machen."
Anders formuliert: Dass sich die Ärzteschaft nicht in scheußlich "roten" Gewerkschaften, sondern in gesitteten kassenärztlichen Vereinigungen zusammenschloss, hatte sie dem Reichsgericht zu verdanken, das ihr den Weg in die Vereinsregister öffnete (Beschl. v. 30.10.1913, Az. IV B 3/13).
Auf einer Suche nach einer Antwort auf die Frage allerdings, warum die Ärzte heute in kassenärztlichen Vereinigungen als Körperschaften des öffentlichen Rechts - nicht als "e.V." - organsiert sind, muss man in 20 Jahre jüngeren Reichsgesetzblättern nachschlagen. Mit Würde hat das dann nicht mehr viel zu tun: Eine "Verordnung über die Kassenärztliche Vereinigung Deutschlands" führte alle politisch genehmen Ärzte in einer Körperschaft zusammen. Die Ermächtigungsgrundlage, gezeichnet unter anderem von Hindenburg und Hitler, war dem NS-Staat offenbar so wichtig, dass das Gesetz per Rundfunk-Verkündung in Kraft gesetzt wurde (RGBl. I 1933, S. 97; 567). Der Hartmann-Bund, 1913 noch eine gewerkschaftsähnliche Organisation, stellte nun kraft Gesetz ab 1933 den "Reichsführer der Kassenärztlichen Vereinigung Deutschlands".
An ihre gewerkschaftlichen Wurzeln, die nicht vom Reichsgericht, sondern erst vom NS-Staat gerupft wurden, erinnert sich die Ärzteschaft heute vielleicht deshalb nicht so gern, weil sie nach dem Zweiten Weltkrieg nicht zum "e.V." zurückgekehrt ist - das Erbe der (Zwang-)Mitgliedschaften in Körperschaften öffentlichen Rechts ist ihr, wie anderen freien Berufen auch, erhalten geblieben.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.
Martin Rath, Rechtsgeschichten 1913: Ärzte in Freiheit und die Gefahren des Kinos . In: Legal Tribune Online, 10.11.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/9995/ (abgerufen am: 30.05.2023 )
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