Im Februar 1913 kommt in Zwickau Gert Fröbe zur Welt, eines der sympathischen Ereignisse, von denen Florian Illies in seiner feuilletonistischen Chronik des Jahres 1913 berichtet. Mit einem eklatanten Mangel an juristischen Sachverhalten – aber das lässt sich ja beheben. Aus dem 47. Band der Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen gegriffen von Martin Rath.
Die Welt erinnert sich an den Schauspieler, mit vollem Namen übrigens Karl Gerhart Fröbe, heute vor allem als Antipoden von "James Bond" und als Darsteller großer Bösewichte. Ebenfalls im Februar 1913 wurde Jaime Ramón Mercader del Río Hernández geboren, der 27 Jahre später unter dem Agentennamen "Frank Jacson" einem Lew Dawidowitsch Bronstein in Mexiko-Stadt einen Eispickel in den Schädel rammte. 1913 firmierte Bronstein unter dem Namen Trotzki und sollte in diesem Jahr auch zum ersten Mal Stalin begegnen – die späteren Massenmörder auf der Flucht vor der Polizei des Zarenreichs, die mit den politischen Nachwuchsverbrechern meist glimpflicher umging als ihre sowjetischen Nachfolger.
Das Spiel mit den historischen Gleichzeitigkeiten des Jahres 1913, wie es der "FAZ"-Journalist Florian Illies vorgelegt hat, bleibt für Menschen mit juristischem Interesse relativ unergiebig – aber es gibt ja gottlob die großartige Entscheidungssammlung des Reichsgerichts, die neben aller Subsumtion auch farbige Geschichten kennt.
Linksradikale beschimpfen unfaires Parlament als Affentheater
Im Februar 1913 hielten sich in Wien drei der großen Politkriminellen des 20. Jahrhunderts auf. Der berühmteste Postkartenmaler Österreichs, daneben Josef Stalin, der sich in der Hauptstadt des k.u.k Imperiums mit der "Nationalitätenfrage" beschäftigte. Unweit der beiden lebte ein gewisser Josip Broz, der sich von einer Geliebten aushalten ließ, um sie später, schwanger, sitzenzulassen. Aus ihm wurde später, 1945-1980, unter dem Kampfnamen "Tito" der Diktator Jugoslawiens.
Der Postkartenmaler, den es bald nach München weiterzog, um sich der österreichischen Wehrpflicht zu entziehen, hatte sich in Wien mit dem modernen Parlamentarismus befasst, was uns zum Reichsgericht führt, das im Februar 1913 das Preußische Abgeordnetenhaus gegen Angriffe in der linksradialen Presse zu schützen wusste (Urt. v. 28.2.1913, Az. II 9/13). Im Sachverhalt setzen sich die Reichsgerichtsräte mit einem Urteil des Landgerichts I zu Berlin auseinander. Wie so oft.
Parlamente sind beleidigungsfähig
In einem Zeitungsartikel der sozialdemokratischen Presse waren die Verhandlungen des Preußischen Abgeordnetenhauses als "Eine reaktionäre Affenkomödie" thematisiert worden: "Das Landgericht fand eine Beleidigung des Abgeordnetenhauses in dem Ausspruche, daß die Redner der reaktionären Parteien und die reaktionäre Mehrheit 'das Haus zu einem Tollhause degradiert hätten'", fasst das Reichsgerichtsurteil noch beifällig zusammen, um sich dann aber am Berliner Vor-Urteil zu stoßen: "Es [das Landgericht] fand keine Beleidigung des Abgeordnetenhauses in dem Ausdruck 'Affenkomödie', da er nur das Vorgehen der Mehrheit gegen die sozialdemokratischen Abgeordneten kennzeichne, und auch keine solche in den Bezeichnungen 'Junkerparlament' und 'Geldsackparlament', weil diese sich nicht gegen das Abgeordnetenhaus in seiner Funktion, sondern auf seine, durch Gestaltung des Wahlrechts begünstigte einseitige Entstehung und Zusammensetzung richteten."
Die Berliner Staatsanwaltschaft war hier gegen den SPD-Redakteur wegen Beleidigung des preußischen Parlaments vorgegangen, das Landgericht hatte dem Angeklagten aber zugutegehalten, dass er gegen das Dreiklassenwahlrecht opponiert hätte, mit dem das Stimmgewicht der Wähler an ihre Steuerlast gebunden war – die reiche 1. Klasse umfasste vier Prozent der Wähler, die arme 3. Klasse rund 80 Prozent. Entsprechend "reaktionär" fiel die Zusammensetzung preußischer Parlamente und Stadträte aus.
Das Reichsgericht kassierte das Berliner Urteil und gab vor, dass auch "Junkerparlament" und "Geldsackparlament" nicht auf eine Kritik am unfairen Wahlrecht reduziert werden dürften, ergäben doch die Beleidigungstatbestände keinen Sinn, müsste sich eine angegriffene Behörde stets als Ganze angegriffen fühlen.
2/3: Konservative Richter verteidigen Parlamentarismus?
Man ist geneigt, die Leipziger Reichsgerichtsräte als Gesinnungsgenossen des preußischen Konservatismus zu sehen: Der reiche Wähler in Preußen hatte, übers Land betrachtet, ein rund 10-fach höheres Stimmgewicht als der arme preußische Wähler. Und das Urteil vom 28. Februar 1913 immunisierte das Ergebnis solcher Wahlen nun gegen Kritik.
Liest man jedoch vom Braunauer Postkartenmaler, kann man sich ein anderes Bild machen. In "Mein Kampf" behauptet Hitler, ursprünglich mit dem Parlamentarismus sympathisiert zu haben. Die Historikerin Brigitte Hamann zeichnet in ihrem Buch "Hitlers Wien" nach, was der spätere Staatsterrorist von den Zuschauerrängen des Reichsrates beobachtete. Dessen zweite Kammer, das Abgeordnetenhaus, repräsentierte die wahlberechtigten Männer des nördlichen Teils der k.u.k. Monarchie. Man darf sich das Parlament "Cisleithaniens" als wilde Mischung der Nationalitäten vorstellen, den Alltag wie ein Europaparlament ohne Simultandolmetscher: Jeder durfte in seiner Muttersprache sprechen, nicht selten trugen Abgeordnete Gedichte im Bewusstsein vor, dass sie kein anderer verstünde, doch das genügte, den Gegner am Reden zu hindern.
Das Scheitern des österreichischen Parlamentarismus mit seinem relativ fairen Männerwahlrecht war 1913 allgemein bekannt. Wenn man will, war es also auf ganz gesunde Weise konservativ, Parlamente vor außerparlamentarischer Denunziation zu schützen.
Höchste höchstrichterliche Sprachkunst
Doch zu etwas beinahe komplett anderem. Von den Richtern des Reichsgerichts weiß man, dass es sich um Sprachkünstler handelte, die sich heute unter den Roben der Justiz so vielleicht gar nicht mehr finden lassen.
Unter Modelleisenbahnfreunden und examinierten Juristen weltberühmt ist die Definition des Begriffs "Eisenbahn": "Ein Unternehmen, gerichtet auf wiederholte Fortbewegung von Personen oder Sachen über nicht ganz unbedeutende Strecken auf metallener Grundlage, welche durch ihre Konsistenz, Konstruktion und Glätte dem Transport großer Gewichtsmassen bzw. die Erzielung einer verhältnismäßig bedeutenden Schnelligkeit der Transportbewegung zu ermöglichen bestimmt ist, und durch diese Eigenart in Verbindung mit den außerdem zur Erzeugung der Transportbewegung benutzten Naturkräften (wie Dampf, Elektrizität, tierischer, menschlicher Muskeltätigkeit, bei geneigter Ebene der Bahn auch schon der eigenen Schwere, der Transportgefäße und deren Ladung usw.) bei dem Betriebe des Unternehmens auf derselben eine verhältnismäßig gewaltige (je nach dem Umständen nur in bezweckter Weise nützliche, oder auch Menschenleben vernichtende und die menschliche Gesundheit verletzende) Wirkung zu erzeugen fähig ist."
Was ist eine Behörde?
Nicht ganz so prächtig, aber dafür sehr viel leichter fürs Staatsexamen oder die Feier danach auswendigzulernen, ist die ungleich wichtigere Definition des Begriffs "Behörde". Syntaktisch leicht angepasst verstand das Reichsgericht unter einer Behörde ein, "sei es aus einer, sei es aus mehreren Personen bestehendes Organ der Staatsgewalt", "das dazu berufen ist unter öffentlicher Autorität nach eigenem Ermessen für die Herbeiführung der Zwecke des Staates tätig zu sein, wobei das Organ oder Amt als solches durch den ausdrücklich oder stillschweigend erkennbar gemachten Staatswillen als dauernder Träger staatlicher Hoheitsrechte und Pflichten unabhängig von dem Vorhandensein, dem Wegfall, dem Wechsel des Beamtenanerkannt und rechtlich geregelt ist".
Den schönen Definitionsaufwand rief das Reichsgericht am 20. Februar 1913 auf (Az. 1113/12), weil ein Priester im Bistum Ermland wegen ungebührlichen Verhaltens, ja Körperverletzung, bei seinem Bischof angezeigt worden war. Fraglich war, ob der katholische Bischof von Ermland eine "Behörde" im Sinn von § 164 Strafgesetzbuch sei. Die verleumderische Behauptung, der Priester habe eine "Amtspflicht" verletzt, konnte dem Anzeigensteller "Gefängniß nicht unter einem Monat" einbringen.
Das Landgericht Memel hatte verurteilt. Das Reichsgericht hob auf, weil der Bischof zwar Kirchenbehörde, Behörde im strafrechtlichen Sinn aber nur die Staatsbehörde sei. Das hätte man so kurz wohl auch sagen können, aber die Reichsgerichtsräte ritten ihre juristischen Distinktionen gern und ausführlich, auf dass sie auch in jedem ostpreußischen Landgerichts-Nest verstanden würden.
Was in Berlin ein "Büffet" ist, das ist es auch in Cöln
Der einstige Landgerichtsbezirk Memel gehört heute zu Litauen, Russland und Polen, die hübschen Abgrenzungen zwischen preußischer und katholischer Behörde interessieren dort vermutlich keine Christen- und Juristenseele. Umso aktueller ist, was das Reichsgericht am 25. Februar 1913 zum Schutz junger Menschen vor dem Stress am Arbeitsplatz urteilte (Az. 1325/12). Ursula von der Leyen, unsere Bundesarbeitsministerin macht sich da ja gerade öffentlich Sorgen.
Es können nicht die Sorgen einer echten Konservativen sein, sonst hülfe ja der gelegentliche Blick ins Reichsgesetzblatt oder die Entscheidungen des Reichsgerichts. Das Landgericht Cöln (das "C" war der Stadt zwischen 1900 und 1919 vom preußischen Innenministerium "aufgezwungen" worden) hatte den Betreiber einer Getränkekette zu 20 Mark Geldstrafe oder zwei Tagen "Gefängniß" verurteilt, weil der für sein Personal nicht über die Beschäftigungs- und Ruhezeiten Buch geführt und diese auch nicht eingehalten hatte.
Seit dem 23. Januar 1902 schrieb aber die Verordnung "betreffend die Beschäftigung von Gehülfen und Lehrlingen in Gast- und Schankwirtschaften" unter anderem vor, dass "jedem Gehülfen und Lehrling über sechzehn Jahre für die Woche siebenmal eine ununterbrochene Ruhezeit von mindestens acht Stunden zu gewähren" ist. Weil deutsche Gesetzgeber damals gründlich und Gastwirte wohl zeitlos begriffsstutzig sind, hieß es weiter: "Der Beginn der ersten Ruhezeit darf in die vorhergehende, das Ende der siebenten Ruhezeit in die nachfolgende Woche fallen." Jüngere "Gehülfen und Lehrlinge" kamen in den Genuss einer mindestens 9-stündigen Ruhezeit, alle drei Wochen trat an die Stelle der 8- oder 9-stündigen Pause eine Ruhezeit von mindestens 24 Stunden. Neben den Mahlzeiten sollte die Arbeitszeit von mindestens 2-stündigen Pausen unterbrochen werden.
Für "Gehülfen und Lehrlinge" in der Gastronomie kam man damit folglich auf eine gesetzliche Arbeitszeit von rund 14 Stunden bei einem freien Tag alle drei Wochen. Das Jugendarbeitsschutzgesetz sieht maximal acht Stunden am Tag, 40 in der Woche vor. Trotzdem scheint das Leben immer schwerer zu werden.
3/3: Rheinländische Rabulistik
Im Tatbestand von 1913 heißt es: "Der Angeklagte unterhält auf den Straßen und Plätzen von Cöln eine große Anzahl Buden, in denen er Mineralwasser und Limonade gegen Entgelt zum Genuß auf der Stelle dem Publikum verabfolgen lässt. Den von ihm in diesen Trinkhallen mit der Verabreichung beschäftigten Personen hat er die gesetzlichen Ruhezeiten nicht gewährt, auch das hierfür vorgeschriebene Verzeichnis weder angelegt noch geführt."
Die Verordnung von 1902 stellte Personal unter Schutz, soweit es an einem "Büffet" arbeitete. In einer für Rheinländer nicht ganz untypischen Rabulistik gab die Verteidigung in der Revision an, dass die Buden ihres Mandanten ein "Büffet" nicht aufwiesen. Das Reichsgericht verwarf das Argument der Verteidigung, der Wortlaut des Strafgesetzes werde hier überdehnt, indem es für die Getränkebuden "Wesensgleichheit" zu sonstigen Verköstigungsbetrieben annahm und den Schutzzweck des Gesetzes betonte.
Für die Interpretation einer strafrechtlichen Norm ist das bemerkenswert. In den USA hatte seinerzeit der U.S. Supreme Court gesetzlichen Arbeitszeitregelungen als Verstoß gegen die Vertragsfreiheit kassiert (Lochner v. New York vom 23./24.2.1905), eine enge Auslegung der von der von Arbeitszeitregeln erfassten Betriebe hätte also, neben der alteuropäisch-liberalen Normstrenge, auch ökonomisch im Zeitgeist gelegen.
Fortpflanzungsverhalten als Moralmaßstab
Eine Entscheidung des Reichsgerichts befasst sich mit dem Schwangerschaftsabbruch. Einmal mit der Frage, ob der Verkäufer eines untauglichen Abtreibungsmittels wegen vollendeten Betruges verurteilt werden könne. Was bejaht wird, weil ein Rückzahlungsanspruch nach § 817 BGB ausgeschlossen sei (Urt. 28.2.1913, Az. II 77/13).
Des Weiteren befassen sich die Reichsgerichtsräte mit der Frage, ob eine Frau, die nicht schwanger war, wegen versuchter Abtreibung verurteilt werden könne. § 218 Abs. 1 StGB lautete zwischen 1872 und 1926: "Eine Schwangere, welche ihre Frucht vorsätzlich abtreibt oder im Mutterleibe tödtet, wird mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren bestraft."
Das Reichsgericht verwirft die Auffassung der Verteidigung, dass der Begriff "Schwangere" in dieser harten Norm eine Bedeutung haben müsse. Damit öffnet es den Weg zur Bestrafung des objektiv untauglichen Versuchs. Auch hier also keine alteuropäisch-liberale Normstrenge.
Dass das Verbot der Abtreibung mit dem harten Strafmaß so konsequent angewendet werden sollte, dass es auch Nicht-Schwangere treffen konnte, hat übrigens eine böse Wendung, wenn man den sozialhistorischen Hintergrund einblendet. Für die damals "Cöln" genannte Stadt wird zweierlei glaubwürdig vertreten: Erstens, dass weibliches Personal in den Gastwirtschaften regelmäßig am Rande der Prostitution arbeitete. Zweitens, dass damals nicht die Bulimie das große unbekannte Todesrisiko junger Frauen war, sondern Suizide und illegale Abtreibungen infolge unehelicher Schwangerschaften. Schutz der Arbeitszeit wird unter Umgehung normstrenger Auslegung gewährt, die Wahnsphäre unaufgeklärter Sexualität wenig normstreng erweitert.
So viel Untreue im Privaten, so viel politischer Größenwahn
Doch zurück nach Wien. Illies erzählt die Anekdote, dass der damals 21-jährige Diktator in spe sich von einer reichen Wienerin aushalten ließ, das Geld aber auch für die Alimente aufwendete, weil er in der Heimat bereits eine Frau mit Kind hatte sitzenlassen. Die Dame in Wien verließ "Tito", als die schwanger wurde.
Moralisch etwas bizarr ist das, aber vielleicht mehr auf indirekte Weise. Der Philosoph Hans Blumenberg hat sich einmal darüber mokiert, in welchem Maß der Begriff "Treue" im 20. Jahrhundert strapaziert worden sei. Nichts haben die totalitären Staaten des Jahrhunderts, das 1914 beginnen sollte, mehr von ihren Untertanen verlangt. Dass dem deutschen Arbeitsrecht bis heute eine "Treue" innewohnt, die über "Treu und Glauben" deutlich hinausgeht, stammt auch aus dieser Epoche.
Und dann schaut man zurück und sieht: So viel Untreue und Unseriosität im Privaten, so viel politischer Größenwahn, der noch in grotesken Formen staatlichen Unrechts münden sollte. Man weiß gar nicht, wie viel davon heute noch unterwegs ist.
Martin Rath, Rechtsgeschichten 1913: Parlamentarier sind keine Affen & andere normative Ideen . In: Legal Tribune Online, 03.02.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/8089/ (abgerufen am: 26.09.2023 )
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