Dem Magazin Netzpolitik wird publizistischer Landesverrat vorgeworfen. Schon werden Vergleiche mit der Spiegel-Affäre von 1962 gezogen. Beides könnte Unsinn sein: die Ermittlungen ebenso wie der historische Vergleich.
Dieser Tage ging Markus Bekedahl, dem presserechtlich verantwortlichen Betreiber von netzpolitik.org, und seinem Kollegen Andre Meister als Verfasser zweier Online-Artikel ein Schreiben des Generalbundesanwalts beim Bundesgerichtshof (BGH) zu. Vom Oberstaatsanwalt beim BGH, Michael Greven, wurden die zwei davon in Kenntnis gesetzt, dass gegen sie ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts des Landesverrats nach §§ 94 Abs. 1 Nr. 2, 25 Abs. 2 und 53 Strafgesetzbuch (StGB) eingeleitet worden sein.
In den Reaktionen wurden bereits Vergleiche zur Spiegel-Affäre des Jahres 1962 gezogen, in der letztmals – jedenfalls soweit es die breite Öffentlichkeit betraf – gegen Journalisten wegen des Verdachts publizistischen Landesverrats ermittelt wurde. In der Süddeutschen Zeitung vom 30. Juli führten die Redakteure Hans Leyendecker und Georg Mascolo die bisherige Zurückhaltung der Generalbundesanwaltschaft bei ähnlichen Vorgängen auf allgemeinpolitische Erwägungen zurück.
Es fragt sich, ob Journalistinnen und Journalisten, die zu sicherheitspolitischen Fragen schreiben, stets Gefahr laufen, den Nachfolgern von Franz-Josef Strauß und Siegfried Buback auf die Füße zu treten.
Der Vorgang und die medialen Reaktionen sind schwer fassbar: Die Ermittlungen vergreifen sich womöglich an einem arg hochgehängten Tatbestand, der Vergleich mit der Spiegel-Affäre ist schief und auch der Gedanke, es sei ins allgemeinpolitische Belieben der Bundesanwaltschaft gestellt, sich beim Vorwurf des "publizistischen Landesverrats" zu regen, löst Kopfschütteln aus.
Spiegel-Affäre – ein kurzer Rückblick
Am 23. Oktober 1962 erging neben Haftbefehlen gegen Rudolf Augstein, Herausgeber von Der Spiegel, und den Redakteur Conrad Ahlers ein umfassender Durchsuchungsbefehl, der sämtliche Geschäftsräume und Archive des Magazins in Bonn und Hamburg betraf. Anlass gab die am 10. Oktober 1962 publizierte Titelgeschichte "Bedingt abwehrbereit".
Der Artikel thematisierte die überaus schwachen Leistungen der Bundeswehr bei der NATO-Übung "FALLEX 62". Das vom ermittelnden Staatsanwalt Siegfried Buback angeforderte militärkundliche Gutachten vom 18. Oktober 1962 hielt den Spiegel-Verantwortlichen einige Verratsmomente vor: So könnten die Geheimdienste der Sowjetunion aus dem Artikel beispielsweise folgern, dass es unter NATO-Militärs und -Politikern erhebliche Meinungsunterschiede gebe. Auch könnten sich die feindlichen Mächte das schwache westeuropäische Atombomben-Potenzial ausrechnen.
Der Vorwurf, mit der journalistischen Aufbereitung von Daten zur äußerst begrenzten militärischen Schlagkraft der westdeutschen Streitkräfte einen "publizistischen Landesverrat" nach §§ 99, 100, 100c StGB a.F. begangen zu haben, war ein wenig wackelig. In vielem trug der Spiegel Auskünfte zusammen, die bereits öffentlich bekannt waren. Um beispielsweise die Schwäche der westeuropäischen Atomrüstung anhand der Reaktorstandorte zu ermitteln, brauchte es kein Diplom in Kernphysik und keiner "Verräter" aus Hamburg.
Im Rückblick betrachtet mutet die Spiegel-Affäre, die hier ausführlich geschildert ist, wie eine Geschichte an, aus der die tatverdächtigen Journalisten, aber auch ihre politischen Kontrahenten als Gewinner hervorgingen. Das Bundesverfassungsgericht adelte in der justizirellen Aufbereitung der Spiegel-Affäre die deutsche Presse – vom Vereinsblatt der Taubenzüchter zu Bottrop bis zum "Sturmgeschütz der Demokratie" (Teilurteil vom 05.08.1966 , Az. 1 BvR 586/62, 610/63, 512/64):
"Der Funktion der freien Presse im demokratischen Staat entspricht ihre Rechtstellung nach der Verfassung. Das GG gewährleistet in Art. 5 die Pressefreiheit. Wird damit zunächst - entsprechend der systematischen Stellung der Bestimmung und ihrem traditionellen Verständnis - ein subjektives Grundrecht für die im Pressewesen tätigen Personen und Unternehmen gewährt, das seinen Trägern Freiheit gegenüber staatlichem Zwang verbürgt und ihnen in gewissen Zusammenhängen eine bevorzugte Rechtstellung sichert, so hat die Bestimmung zugleich auch eine objektiv-rechtliche Seite. Sie garantiert das Institut ‚Freie Presse‘. Der Staat ist […] verpflichtet, in seiner Rechtsordnung überall, wo der Geltungsbereich einer Norm die Presse berührt, dem Postulat ihrer Freiheit Rechnung zu tragen."
Weise Worte, aber aktuell vonnöten? Die inkriminierten Beiträge des Magazins Netzpolitik machen publik, dass das Bundesamt für Verfassungsschutz seinen Personalbestand für die Internetüberwachung aufstockt und sich technisch mit allem rüsten will, was eine – verfassungsrechtlich womöglich bedenkliche – Überwachung des Internets ermöglicht. Fiel es 1962 schon schwer, im Bericht des Spiegel ein schützenswertes Staatsgeheimnis zu erkennen, so gilt dies für die Publikation der lediglich als "vertraulich" eingestuften Unterlagen des Verfassungsschutzes erst Recht.
Wer um des Staates Willen nicht vorsichtig genug sein kann, mag vielleicht auch gegen lokale Käseblätter ermitteln, weil sie mit Auskünften zu Defiziten von Katastrophenübungen zauselbärtige Selbstmordkrieger ins Land locken könnten.
2/2: Welche Gefahr, welches Geheimnis besteht denn?
Doch nicht nur die Frage, welches schützenswerte Geheimnis mit den Netzpolitik-Meldungen preisgegeben wurde, nach denen das Bundesamt für Verfassungsschutz in die Online-Überwachung investiert, auch der schlichte Blick ins Gesetz löst ein leichtes Stirnrunzeln aus, wenn der Vorgang mit der Spiegel-Affäre gleichgesetzt werden soll.
Landesverrat nach § 99 Abs. 2 StGB a.F. beging 1962 bereits, "wer vorsätzlich ein Staatsgeheimnis an einen Unbefugten gelangen läßt oder es öffentlich bekanntmacht und dadurch das Wohl der Bundesrepublik Deutschland […] gefährdet".
Heute verlangt § 94 Abs. 2 StGB für den Landesverrat, dass der Beschuldigte erstens nicht weniger als die Absicht haben sollte, "die Bundesrepublik Deutschland zu benachteiligen oder eine fremde Macht zu begünstigen", und zweitens, "dadurch die Gefahr eines schweren Nachteils für die äußere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland herbeiführt".
Mit dem beliebten "bedingten Vorsatz" und Informationen von fragwürdiger Sicherheitsrelevanz allein sollte sich heute kein Journalist in die Schuhe Rudolf Augsteins stecken lassen.
Das Ermittlungsverfahren der Bundesanwaltschaft beschuldigt Beckedahl und Meister als Täter eigener Tat (§ 25 StGB) zu den genannten Tatbestandselementen. Man darf erstaunt sein: Die Mitteilung, dass das Bundesamt für Verfassungsschutz nach der Maxime "Cossi fan tutte" – jeder tut es – Onlinedaten abgreift, soll im dolus directus erfolgt sein, die Bundesrepublik zu benachteiligen? Und das soll die "Gefahr eines schweren Nachteils für die äußere Sicherheit" heraufbeschwören?
Ja, man sieht sie schon förmlich vor dem inneren Auge, all die chinesischen Maschinenbaustudenten in den Rüstungsfabriken Südwestdeutschlands und all die islamistischen Vollbartträger im Rest der Republik, wie sie in diesen Tagen endlich ihre E-Mail-Verschlüsselung einrichten – weil jetzt nicht nur die harmlosen US-Behörden, sondern auch die gefährlichen deutschen Geheimdienstler ihren Datenverkehr abzugreifen beginnen.
Was durchgestochen ist, ist durchgestochen
Vielleicht ist der Sarkasmus unangebracht, und der Vorgang mehr als der Versuch der Bundesanwaltschaft, dem Magazin Netzpolitik die Vorzüge des Streisand-Effekts zukommen zu lassen.
Aber bis zum Beweis des Gegenteils darf das Ermittlungsverfahren gegen den Spiegel im Jahr 1962 als der letzte Versuch einer deutschen Regierung gelten, die Deutungshoheit über längst "durchgestochene" sensible Informationen, sogenannte Staatsgeheimnisse, zu behalten. Und schon dieser Versuch war, kaum zum Schaden der Demokratie, wenig erfolgreich.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.
Martin Rath, Ermittlungen gegen Netzpolitik: Spiegel-Affäre und Netzpolitik: Gemeinsamkeiten und Unterschiede . In: Legal Tribune Online, 02.08.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/16462/ (abgerufen am: 04.10.2023 )
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