2/2: Welche Gefahr, welches Geheimnis besteht denn?
Doch nicht nur die Frage, welches schützenswerte Geheimnis mit den Netzpolitik-Meldungen preisgegeben wurde, nach denen das Bundesamt für Verfassungsschutz in die Online-Überwachung investiert, auch der schlichte Blick ins Gesetz löst ein leichtes Stirnrunzeln aus, wenn der Vorgang mit der Spiegel-Affäre gleichgesetzt werden soll.
Landesverrat nach § 99 Abs. 2 StGB a.F. beging 1962 bereits, "wer vorsätzlich ein Staatsgeheimnis an einen Unbefugten gelangen läßt oder es öffentlich bekanntmacht und dadurch das Wohl der Bundesrepublik Deutschland […] gefährdet".
Heute verlangt § 94 Abs. 2 StGB für den Landesverrat, dass der Beschuldigte erstens nicht weniger als die Absicht haben sollte, "die Bundesrepublik Deutschland zu benachteiligen oder eine fremde Macht zu begünstigen", und zweitens, "dadurch die Gefahr eines schweren Nachteils für die äußere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland herbeiführt".
Mit dem beliebten "bedingten Vorsatz" und Informationen von fragwürdiger Sicherheitsrelevanz allein sollte sich heute kein Journalist in die Schuhe Rudolf Augsteins stecken lassen.
Das Ermittlungsverfahren der Bundesanwaltschaft beschuldigt Beckedahl und Meister als Täter eigener Tat (§ 25 StGB) zu den genannten Tatbestandselementen. Man darf erstaunt sein: Die Mitteilung, dass das Bundesamt für Verfassungsschutz nach der Maxime "Cossi fan tutte" – jeder tut es – Onlinedaten abgreift, soll im dolus directus erfolgt sein, die Bundesrepublik zu benachteiligen? Und das soll die "Gefahr eines schweren Nachteils für die äußere Sicherheit" heraufbeschwören?
Ja, man sieht sie schon förmlich vor dem inneren Auge, all die chinesischen Maschinenbaustudenten in den Rüstungsfabriken Südwestdeutschlands und all die islamistischen Vollbartträger im Rest der Republik, wie sie in diesen Tagen endlich ihre E-Mail-Verschlüsselung einrichten – weil jetzt nicht nur die harmlosen US-Behörden, sondern auch die gefährlichen deutschen Geheimdienstler ihren Datenverkehr abzugreifen beginnen.
Was durchgestochen ist, ist durchgestochen
Vielleicht ist der Sarkasmus unangebracht, und der Vorgang mehr als der Versuch der Bundesanwaltschaft, dem Magazin Netzpolitik die Vorzüge des Streisand-Effekts zukommen zu lassen.
Aber bis zum Beweis des Gegenteils darf das Ermittlungsverfahren gegen den Spiegel im Jahr 1962 als der letzte Versuch einer deutschen Regierung gelten, die Deutungshoheit über längst "durchgestochene" sensible Informationen, sogenannte Staatsgeheimnisse, zu behalten. Und schon dieser Versuch war, kaum zum Schaden der Demokratie, wenig erfolgreich.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.
Martin Rath, Ermittlungen gegen Netzpolitik: . In: Legal Tribune Online, 02.08.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/16462 (abgerufen am: 08.11.2024 )
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