"Ende der Wahrheitssuche" heißt das neue Buch des Justizjournalisten Joachim Wagner. Lorenz Leitmeier ist selber Richter, und findet darin viele Wahrheiten über seinen Berufsstand – aber auch die gleichen Schwächen.
Wer wie der Rezensent Mitte der 1970er Jahre geboren ist, wurde mit dem Journalisten Joachim Wagner politisch erwachsen – in einer Zeit, die postmodern war, nicht postfaktisch; in der es noch ewige Gewissheiten gab in Gestalt von Bundeskanzlerhelmutkohl und Papstjohannespauldemzweiten.
Ist man dann gut 30 Jahre später Richter und liest ein Buch des promovierten Juristen Wagner, das den Zustand der Justiz 2017 beleuchtet und "Ende der Wahrheitssuche" heißt, ist man gespannt: Gibt es die Rechtsprechung, wie man sie seit jeher kannte und selbst unhinterfragt praktizierte, (bald) nicht mehr? Hält der markige Titel, was er verspricht?
Postfaktische Rechtsprechung?
Dem Problem von Fehlentwicklungen in der Justiz, insbesondere einer Abkehr von der traditionellen, auf Wahrheitsermittlung gerichteten Rechtsprechung, kann man sich rechtstheoretisch nähern wie Fischer ("Der Deal zerstört das Recht"), oder gewissermaßen induktiv durch Verallgemeinerung von (wenigen) Fällen wie Blüm ("Einspruch"), oder aber empirisch: Wagner führte zweieinhalb Jahre lang Gespräche mit knapp 200 Richtern und Staatsanwälten sowie 90 Rechtsanwälten, und machte diese umfangreichen Daten zur Basis eines fundierten Berichts über den aktuellen Zustand der Justiz. Als Quintessenz seiner Recherche formuliert er: Durch die hohe Belastung von Richtern und Staatsanwälten sowie einen Einstellungswandel der Gesellschaft werde die traditionelle Rechtsprechung zunehmend durch einvernehmliche Konfliktlösung ersetzt.
Viele Eigenheiten und Probleme in der Justiz, die Wagner aufzeigt, sind nicht neu, werden aber, anders als bei vielen Pauschal-Lamentos, mit einer rauen Menge an Zahlen und differenziert nach Gerichtszweigen sowie Bundesländern belegt.
Beamtenmentalität trifft Elitendenken
Seine auf insgesamt 270 Seiten verteilten Kernthesen zur Krise der Justiz lassen sich in etwa wie folgt umreißen:
Für die Juristen in der Justiz gibt es wenige Beförderungsstellen, vor allem für Richter über 50; dies senkt die Motivation erheblich, die sich irgendwann auf "Freiheit und Freizeit" beschränkt; die Besoldung ist, gemessen an den hervorragenden Examensnoten, wenig attraktiv; die Arbeit ist zwischen Staatsanwaltschaft und Gericht, und innerhalb der Gerichte, ungleich verteilt; der Erledigungsdruck ist gestiegen; Binnenreserven der Justiz bleiben ungenutzt, auch deshalb, weil sich gute Arbeit "nicht lohnt"; der Anteil der Frauen ist erheblich gestiegen ("Feminisierung der Justiz"), was zu Organisationsproblemen führt in Form von Teilzeitarbeit, Ausfallzeiten wegen Schwangerschaft, häufigen Richterwechseln auf dem Referat; in der Justiz herrscht Beamtenmentalität, destruktiv gepaart mit Elitedenken; die richterliche Unabhängigkeit verhindert, dass eine wirksame Dienstaufsicht leistungsschwache oder –unwillige Richter beeinflussen kann; die Justiz wird von der Politik und der Gesellschaft in vielen Bundesländern nicht wertgeschätzt, zuweilen "kaputtgespart"; Richter leben in einem eigenen Kosmos ohne Rückbindung an die Gesellschaft und ohne Sinn für deren "wirkliche" Probleme; über die Entfernung unfähiger oder unwilliger Richter aus dem Dienst entscheiden Richter, die das aber häufig aus Korpsgeist ablehnen, und auch den Straftatbestand der Rechtsbeugung absurd hoch gehängt und damit unanwendbar gemacht haben.
Als Lösungsvorschläge formuliert Wagner: Der Anteil von Frauen in der Justiz sollte die 70-Prozent-Grenze nicht überschreiten, die Justizjuristen könnten überobligatorisch 45 Stunden pro Woche arbeiten ("freiwilliges akademisches Übersoll") und müssten einen Mentalitätswechsel hin zu Dienstleistern vollziehen, und das Dienstaufsichtsrecht sollte gestärkt werden, um Minderleister aus der "Schutzzone" richterlicher Unabhängigkeit herausholen und disziplinieren zu können.
2/2: Auf dem Weg zu einer anderen Dritten Gewalt?
Wagner schlägt zurecht und erhellend den großen Bogen vom (Sub-) System Justiz zur überwölbenden Gesellschaft: Die ideologischen Kämpfe sind ausgefochten, wenn nicht einmal das Ende der Kernkraft umstritten ist; es herrscht die Konsensgesellschaft, von Pragmatismus beseelt und auf der ewigen Suche nach gütlichen, für alle Beteiligten akzeptablen Lösungen. Hier führt, ohne dass Wagner diese Zusammenhänge allerdings detailliert ausformulieren würde, eine gedachte Linie direkt von einer entpolitisierten Bundeskanzlerin (mit ihrer Strategie der "asymmetrischen Demobilisierung") zu einem konsensorientierten Strafrichter, der mit dem Angeklagten die akzeptable Strafe aushandelt. Im Kern geht es um die Frage: Welche Rechtsprechung will die Gesellschaft? Soll aus Macht Konsens werden? Wollen wir tatsächlich wegen ungelöster Binnenprobleme der Justiz Richter und Parteien, Richter und Rechtsbrecher auf Augenhöhe verhandeln lassen? Als massenhaft auftretendes Phänomen wäre dies nicht eine Änderung unter vielen, sondern ein Wandel hin zu einer anderen Dritten Gewalt, letztlich zu einem anderen Rechtsstaat.
Löst man sich als Richter von dem Reflex, dass Wagners Bild zu negativ sei, weil doch "im Grunde" die Justiz funktioniert, lässt sich das Buch mit Gewinn lesen, weil es Schlaglichter auf viele Bereiche wirft, in denen Verbesserungen nötig sind – und auch erzielbar wären. Vielleicht gibt es ja noch Freiexemplare für die Justizminister, auch wenn die nicht mehr zu den Schwergewichten in der jeweiligen Regierung zählen.
Wagner lebt die Redundanz vor, die er beklagt
Schön an Wagners Buch ist, wie die fleißig ermittelte empirische Basis zwar akribisch ausgewertet wird, aber immer auch individuelle Stimmen einfließen, sodass in der Flut an Zahlen auch Menschen erkennbar werden. Es hätte dem Buch allerdings gutgetan, wenn es prägnanter geworden wäre, mit einer Gliederung, die wirklich orientiert, und einer Gedankenführung, die präzise auf den Punkt zielt. Auch muss nicht jede unstrittige Feststellung mit dem Zitat eines Gerichtspräsidenten belegt werden. So liest man sich, da alles mit allem zusammenhängt, durch diverse Redundanzen.
Und so ist es am Ende feine Ironie dieses insgesamt erfreulichen Buches, wie Wagner seine Thesen ungewollt selbst beweist: Er stellt die übervorsichtigen Richter dar, indem er jede Randbemerkung mit Zahlenkolonnen belegt; er moniert fehlende Effizienz, und wiederholt das mehrfach; und er schreibt, dass Urteile kürzer ausfallen könnten – in einem "Fazit", das auf gepflegte 40 Seiten kommt. Und damit ist es nachgewiesen: So sind sie also offenbar wirklich, diese Juristen – gerne auf Sicherheit bedacht und leicht bis mittelschwer redundant.
Der Autor Dr. Lorenz Leitmeier ist Richter am Amtsgericht München.
Dr. Lorenz Leitmeier, Rezension zu Joachim Wagners "Ende der Wahrheitssuche": Wahrheit am Ende? . In: Legal Tribune Online, 04.03.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/22271/ (abgerufen am: 24.04.2024 )
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