Der Kalte Krieg zwischen dem Ostblock und den westlichen Demokratien brachte einige besondere Gesetze hervor. Ob und inwieweit sie in den Konflikten der Gegenwart als Vorbild taugen könnten, prüft Martin Rath.
Am 17. Juni 1958 übertrat ein 22-jähriger Mann die Grenze zwischen Rumänien und Ungarn. Von einem ungarischen Grenzposten verhaftet, wurde er drei Tage später an die rumänischen Behörden überstellt und von einem Militärgericht wegen illegalen Grenzübertritts zu neun Jahren Haft verurteilt.
Hintergrund seiner Tat: Nachdem bekannt geworden war, dass einem seiner Onkel die Flucht nach Westdeutschland gelungen war und drei Brüder seiner Mutter während des Zweiten Weltkriegs in der deutschen Wehrmacht gedient hatten, war er selbst als ein vermeintliches Sicherheitsrisiko aus dem Dienst in der rumänischen Marine entlassen worden.
Die ersten beiden Haftjahre verbrachte er in Gefängnissen, weitere drei Jahre im Arbeitslager Periprava im Donaudelta, einer Hafteinrichtung, deren Insassen unter Misshandlungen, Hunger, Kälte und unzureichender Versorgung litten. Immerhin sollte Ion Ficor, der Leiter des Lagers, im Mai 2016 unter anderem wegen des Todes von 103 Häftlingen zu einer Freiheitsstrafe von 20 Jahren verurteilt werden.
Ausreise in die BRD
Im Herbst 1981, ein halbes Leben später, unternahm der Mann mit 45 Jahren einen zweiten Fluchtversuch, dieses Mal über Jugoslawien. Wiederum schnell inhaftiert, stellte ihm die deutsche Botschaft in Belgrad einen Fremdenpass aus, der ihm nach drei Wochen die Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland erlaubte.
Das in Hessen zuständige Regierungspräsidium weigerte sich im Jahr darauf, ihn als politischen Gefangenen anzuerkennen. Unter voller Beweisnot litt der Mann nicht: Die berüchtigte rumänische Securitate hatte ihm die Haftzeiten bescheinigt. Doch die hessische Behörde vertrat den Standpunkt, nicht nur Angehörige der deutschen Minderheit hätten nach illegalem Grenzübertritt drakonische Strafen erleiden müssen, sondern auch ethnische Rumänen. Zudem sei der zeitliche Zusammenhang mit dem Militärdienst verdächtig, es könnte vielleicht Fahnenflucht vorliegen.
Abgesehen von einem Schreiben, das eher seine moralische Enttäuschung als den Widerspruch im Sinne des Verwaltungsverfahrens ausdrückte, beließ es der Flüchtling aus Rumänien dabei – bis er im Zusammenhang mit seiner Verrentung, 15 Jahre später, erneut begehrte, als ehemaliger politischer Gefangener nach dem Häftlingshilfegesetz anerkannt zu werden.
Politische Gefangene im Sozialrecht
Mit Urteil vom 27. Juni 2003 gab ihm das Verwaltungsgericht (VG) Darmstadt (Az. 5 E 1578/99[4]) überwiegend Recht. Das Gericht erklärte unter anderem, dass dem Kläger die bloße behördliche Vermutung der Fahnenflucht nicht hätte entgegengehalten werden dürfen. Zum Verdikt des rumänischen Militärgerichts – neun Jahre Haft – erklärte das VG Darmstadt:
"Illegaler Grenzübertritt stellt nach freiheitlich demokratischem Verständnis kein Vergehen dar, das nach herrschender Rechtsauffassung mit einer Freiheitsstrafe geahndet werden dürfte. Nach freiheitlich demokratischer Auffassung ist vielmehr das Recht zum Verlassen eines Landes ein hohes Rechtsgut, das jeder Staat seinen Bewohnern so uneingeschränkt wie möglich gewähren muss. […] Dieses im Völkerrecht verankerte Freiheitsrecht ist somit Grundlage einer jeden freiheitlich demokratischen Rechtsordnung. Beschränkungen der Ausreisefreiheit, ohne dass diese im 'ordre public' begründet wären, sind Ausdruck eines totalitären Regimes."
Leninistisch regierte Staaten Ost- und Mitteleuropas, die Verstöße gegen die Ausreisefreiheit bestraften, betrieben daher Verfolgung aus politischen Gründen. Daran änderte nichts, dass in Rumänien auch andere als Angehörige der deutschen Minderheit betroffen gewesen seien.
"Gebot der Menschlichkeit"
Damit fiel der Rumänienflüchtling vom 17. Juni 1958 unter das "Gesetz über Hilfsmaßnahmen für Personen, die aus politischen Gründen in Gebieten außerhalb der Bundesrepublik Deutschland und Berlins (West) in Gewahrsam genommen wurden". Dieses Häftlingshilfegesetz (HHG) vom 6. August 1955 begünstigte deutsche Staats- bzw. Volkszugehörige, die in der Sowjetischen Besatzungszone, in Berlin (Ost) oder in den Ostblockstaaten "aus politischen Gründen und nach freiheitlich-demokratischer Auffassung von ihnen nicht zu vertretenden Gründen in Gewahrsam" genommen worden waren, im gegebenen Fall auch ihre Angehörigen oder Hinterbliebenen.
Soweit die politische Haft Vermögens- bzw. Gesundheitsschäden verursacht hatte, stand dem Betroffenen Versorgung entsprechend den Regeln des Bundesversorgungsgesetzes zu. In seiner ursprünglichen Fassung drückte das HHG – stark überarbeitet ist es heute auf ehemalige politische Gefangene der DDR fokussiert – nach Worten des damaligen CDU-Bundesministers für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte, Theodor Oberländer (1905–1998), den Standpunkt aus, "daß die Opfer des Kalten Krieges nicht schlechter gestellt werden können als die Opfer des 2. Weltkrieges".
Die frühere SPD-Abgeordnete Lisa Korspeter erklärte dagegen in der ersten Beratung zum Gesetz, am 7. Juli 1955 vor dem Deutschen Bundestag, dass es vorrangig "ein Gebot der Menschlichkeit" sei, "sich um die Opfer eines Terrorregimes, einer Diktatur, zu kümmern und ihnen Hilfe angedeihen zu lassen". Kontrovers diskutiert wurden Finanzierungsfragen, doch beriet der Bundestag das HHG zügig und beschloss es am 14. Juli 1955 einstimmig.
Perspektivwechsel auf politische Flüchtlinge
Mit dem Zusammenbruch der leninistischen Diktaturen Mittel- und Osteuropas im Jahr 1989/90 ist die versorgungsrechtliche Sonderregelung für politische Gefangene deutscher Staats- bzw. Volkszugehörigkeit wohl endgültig auf die abschüssige Bahn des Vergessens geraten – daran ändert wenig, dass das HHG noch zugunsten von Opfern des SED-Staats novelliert wurde. Sie genossen nie allzu viel Aufmerksamkeit.
Das mag auch darauf zurückzuführen sein, dass die humanitär-menschenrechtliche Perspektive, die 1955 während der ersten Beratung zum HHG von der Abgeordneten Korspeter vorgetragen wurde, in der ohnehin mangelhaften Öffentlichkeit nicht verfing: Dass es ein primär menschenrechtliches, erst danach ethnisch-nationales Anliegen sei, sich um die Nöte ehemaliger politischer Gefangener zu kümmern. Bis heute ist es bei der Wahrnehmung geblieben, dass Flucht und Migration, die sogenannte Volksdeutsche betrifft, etwas ganz anderes sei als die Flucht und Migration aller anderen Menschen.
Von Flucht-, Verfolgungs- und Migrationserfahrungen wechselseitig zu lernen oder sich gar zu solidarisieren, unterbindet dieses im Kern nationalistische Axiom augenscheinlich sehr erfolgreich. Es setzt sich sogar noch fort im wohlmeinenden sozialwissenschaftlichen Unfug, ein sogenannter "Migrationshintergrund" betreffe nur Menschen, die nach 1949 ins Bundesgebiet gelangten.
Mit Blick auf die Leistungsfähigkeit des Sozialstaats ist das Axiom, soweit es als Grundlage der Gesetzgebung dient, zwar nachvollziehbar. Weniger verständlich ist, dass auch die 1955 von der Bundesregierung zu politischen Häftlingen vertretene Perspektive gänzlich vergessen ist, derzufolge die Opfer eines Kalten Krieges nicht schlechter behandelt werden sollten als jene des vorangegangenen heißen Krieges.
"Politischer Feuereifer, Menschen die Freiheit zu nehmen"
Ohne versorgungsrechtliche Spendierhosen anzuziehen: Was würde es die Bundesrepublik oder die Europäische Union beispielsweise kosten, neben dem heute sehr populären Versuch, illegale oder unerwünschte grenzüberschreitende Migration zu verhindern, die Idee der seit 1961 in Salzgitter betriebenen Zentralen Beweismittel- und Dokumentationsstelle der Landesjustizverwaltungen zu politischen Straftaten in der DDR aufzugreifen und zu optimieren?
Wie viele Planstellen wären erforderlich, der künftigen Beweisnot türkischer Offiziere und Richter auf der Flucht, der Hinterbliebenen ermordeter russischer Journalisten, der gefolterten iranischen oder chinesischen Anwälte durch spezialisierte Dokumentationsstellen entgegenzuwirken? Oder ist die Frage schon abwegig, weil unsere freiheitlich-demokratische Republik im Pessimismus endet, dass Schadensersatzforderungen gegen die Staatsverbrecher der Gegenwart niemals beizutreiben sein werden? Ist es unbillig, den Stolz darüber, Verfolgten helfen zu dürfen, mit dem Anspruch zu verbinden, die Kosten eines Tages liquidieren zu können?
Der Fall jenes jungen Mannes, der am 17. Juni 1958 der bis zu ihrem Ende grauenerregenden stalinistischen Diktatur Rumäniens zu entfliehen versuchte, erinnert jedenfalls daran, mit welchem politischen Feuereifer heute daran gearbeitet wird, Menschen ihre Freiheit zu nehmen, sich über die Landesgrenzen hinaus zu bewegen, und wie nachlässig unsere politische Klasse darin ist, die sozialen Kosten menschenrechtswidrigen Staatshandelns den Verursachern aufzubürden oder auch nur dokumentarisch zurechenbar zu machen.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs.
Martin Rath, Rechtsgeschichte: . In: Legal Tribune Online, 17.06.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/29195 (abgerufen am: 16.10.2024 )
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