Während Rechtspolitiker nach aufsehenerregenden Sexualdelikten mit Feuereifer an der nächsten Strafrechtsnovelle basteln, sieht das nach dem Deal-Urteil des BVerfG trotz teilweise skandalöser Befunde ganz anders aus. Ein Gedanke aus der rechtshistorischen Mottenkiste, um die Diskussion etwas anzuregen. Von Martin Rath.
Man wundert sich, dass der Deal im Strafprozess mit relativem Desinteresse verfolgt wird. In ihrer 2007 veröffentlichten Studie zu Urteilsabsprachen im Strafprozess, zu der die Münchener Strafverteidigerin Gabriele Schöch eine anonymisierte Befragung durchgeführt hatte, findet sich bereits folgendes Statement eines Staatsanwalts:
"Ein Pärchen hatte Arbeitnehmer ausgenutzt und wir konnten nicht feststellen, wer von beiden für welche Entscheidungen zuständig war. Am Ende bekam einer eine Freiheitsstrafe und einer eine Geldstrafe. Wer von beiden welche Strafe bekam, war uns egal. Die Verteidiger haben sich dann mit den Angeklagten auf eine Lösung geeinigt und uns einen Vorschlag unterbreitet, wie wir es machen sollen."
Muss man naiv sein, um zu erschrecken?
In seinem Urteil zum Deal im Strafprozess vom 19. März 2013 nimmt das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) die von Gabriele Schöch dokumentierten Absprachen immerhin indigniert zur Kenntnis. Das Karlsruher Gericht fasst den Befund etwas schamhaft zusammen: "(I)n München sind sogar 'Familienlösungen' bekanntgeworden, bei denen etwa der Mann eine höhere Freiheitsstrafe erhält und im Gegenzug die Frau eine Bewährungsstrafe, um zu Hause die Kinder versorgen zu können, oder die zukünftigen Strafen von Familienangehörigen in anderen Verfahren gleich mit abgesprochen werden."
Die weiteren empirischen Befunde zum Deal, die das Urteil unter Randziffer 49 dokumentiert, stammen aus einer empirischen Studie des Düsseldorfer Strafrechtsprofessors Karsten Altenhain. Die Zahlen zeichnen ein Bild, das es verdient, in der gymnasialen Oberstufe neben Heinrich von Kleists "Michael Kohlhaas" oder Franz Kafkas "Process" diskutiert zu werden: Ein Drittel der Richter führte demnach schon Absprachen neben der Hauptverhandlung, mehr als die Hälfte der Richter hält einen nicht zustande gekommenen Deal für nicht im Urteil erwähnenswert. Mehr als ein Drittel der Richter gibt der Strafverteidigung bzw. dem Angeklagten neben dem Strafmaß "für den Fall einer Kooperation schon einmal eine zweite Strafe für den Fall einer 'streitigen' Hauptverhandlung" an, "16% gaben an, typischerweise so vorzugehen".
Zwischen Befindlichkeitsstörungen und Schuldprinzip
Trotz dieser Empirie kommt das Verfassungsgericht nur zum Schluss, dass ein "Vollzugsdefizit" vorliege, zum Beispiel hinsichtlich der gesetzlich vorgeschriebenen Pflicht, die Absprachen einigermaßen detailliert im Urteil zu dokumentieren. Das Vollzugsdefizit führe "derzeit nicht" zur Verfassungswidrigkeit. Als Gegengift wird die Staatsanwaltschaft aufgerufen, "sich gesetzwidrigen Vorgehensweisen im Zusammenhang mit Verständigungen" zu verweigern.
Als Abhilfe im Fall extremer Deals, die gegen das sogar von der Ewigkeitsgarantie des Grundgesetzes erfasste Schuldprinzip verstoßen, mag dieser Appell an die Verfahrensbeteiligten vielleicht helfen. Bei Schöch finden wir beispielsweise folgenden, extremen Fall, den man sich jetzt vielleicht nicht mehr ausmalen kann: "Richter 8: Bei Sinti und Roma haben wir sogar die zukünftigen Verfahrensergebnisse in Verfahren gegen andere Familienangehörige gleichzeitig mit abgesprochen."
Irrelevanz der Strafzwecktheorien
Insgesamt dürfte ein derartiger Appell an gestandene Richter, Staatsanwälte und Strafverteidiger, im Strafprozess ein "Vollzugsdefizit" zu beenden, je nach juristischer Profession als naiv oder unverschämt aufgenommen werden. "Vollzugsdefizit" lässt sich ja leicht mit "Rechtsbruch" übersetzen. Interessanter ist aber eher, warum seit 30 Jahren über Deals gesprochen wird, Juristen aller Strafrechtsgattungen aber nicht recht aus dem Befindlichkeitsquark herauskommen.
Ein tiefliegender Grund für die Unlust, sich mit strafprozessualen Deals zu befassen, könnte in der Irrelevanz der sogenannten Strafzwecktheorien für das Juristenleben liegen: Zu welchem Zweck der deutsche Staat den Normbrecher straft, liegt im Dunklen. Strafzwecktheorien sind flüchtiger Stoff für Erstsemester, die noch nicht von Mandaten leben. Gut, wenn angehende Juristen lernen, dass hierzulande nicht der scheußliche Utilitarismus angelsächsischer Machart herrscht, dass Generalprävention und Menschenwürde nicht zusammenpassen. Aber dann taucht es doch wieder auf, das böse Nützlichkeitsdenken – eine Deal-Lage bei Gabriele Schöch: "Wenn gegen Beschuldigte aus derselben Firma ermittelt wird, wird ein sog. Raster ausgearbeitet: Die Verfahren gegen alle Sekretärinnen werden nach § 153 StPO eingestellt, alle Verfahren gegen Abteilungsleiter nach § 153a StPO usw. Wirklich herangezogen werden dann nur noch die obersten Firmenangestellten bzw. diejenigen, die die Verantwortung hatten."
Schuldstrafrecht limitiert den "staatlichen Strafanspruch", gegenüber denen, "die die Verantwortung hatten". Aber begründet es ihn auch? Mit dem Deal kommt eine alternative Limitierung des "staatlichen Strafanspruchs" ins Spiel, die mit der Limitation durch Schuldangemessenheit konkurriert. Offene Legitimationsfragen diskutiert man ungern öffentlich.
2/2: Der Deal und die "materielle Wahrheit"
Aufmerksamkeit für den Deal im Strafprozess stört alle Verfahrensbeteiligten dabei, unbehaglichen Fragen aus dem Weg zu gehen: Was hat es etwa mit der "materiellen Wahrheit" auf sich, die von den Strafgerichten zu ermitteln sein soll?
Das ist schon für das konventionelle Verfahren eine heikle Frage. Geht es um naturwissenschaftliche Wahrheit, hat man es mit hoher Evidenz zu tun: Hexen können höchstwahrscheinlich nicht mittels Magie Schaden zufügen. Die Naturwissenschaften erkennen eine Energie namens "Magie" nicht an. Aber solch eindeutige Überschneidungen zwischen juristischem und naturwissenschaftlichem Wahrheitsanspruch finden sich eher selten.
Wenn der Anspruch auf "materielle Wahrheit" nichts weiter betrifft als das pragmatische Recht eines Angeklagten, das Gericht möge in einem Wirtschaftsverfahren statt fünf Regalmetern Akten nur zehn zur Kenntnis nehmen; dem Anspruch also die Evidenz naturwissenschaftlicher Wahrheitsansprüche fehlt – warum sollte auf ihn nicht zugunsten eines milderen Urteils verzichtet werden können?
Weil die Diskretion durchbrochen werden könnte, dass Richter nicht genügend Akten studiert, Staatsanwälte nicht hinreichend Ermittlungsanweisungen erteilt haben, Verteidiger und Angeklagter dem Gericht keinen ausreichend großen Realitätsausschnitt geboten haben, der sich unter ein Strafgesetz subsumieren ließe.
Das Institut der Urfehde
Womöglich hilft ein Blick auf rechtshistorische Verfahrensweisen weiter, dem Deal einen Platz zu geben, der weniger unbefriedigend ist. Das Straf- und das Strafprozessrecht des Mittelalters und der frühen Neuzeit kannten das Institut der "Urfehde". Ein bisschen schlicht und sehr unwissenschaftlich skizziert: Nahm eines dieser possierlichen deutschen Städtchen einen Menschen etwa in Untersuchungs- oder Erzwingungshaft und ließ ihn später frei, etwa weil sich die Beschuldigung als unwahr erwiesen hatte, geschah die Freilassung gegen einen beeideten Fehdeverzicht, die Urfehde. Damit verzichtete der Freigelassene auf Rache am Gericht: Ein Verzicht auf Selbsthilfe wie auch darauf, das Gericht vor einem fremden Gericht zu verklagen.
Interessant sind daran zwei Aspekte: Einerseits die grundsätzliche Gleichrangigkeit von Gericht und vormaligem Beschuldigten, andererseits die erhalten gebliebenen Urfehdebriefe, die ja – weil der Umfang des zu beendenden Rechtsstreits zu definieren war – eine gewisse Präklusionswirkung hatten: Man musste aushandeln, welches schuldhafte Verhalten der inhaftierenden Gerichtsbarkeit, welche zu Recht oder zu Unrecht vorgeworfenen Verhaltensweisen des entlassenen Gefangenen von dieser beeideten Friedenserklärung abgedeckt sein würden.
Die Offenlegung allen Wissens und Nichtwissens
Weil beim heutigen Strafprozess alle Verfahrensbeteiligten ein Interesse haben können, die "materielle Wahrheit" zum Gegenstand informeller Vereinbarungen zu machen, müsste man sie vor einem Deal allesamt eine "Urfehde 2.0" schwören lassen: Richter könnten beispielsweise beschwören, wie weit sie mit welchen Beweismitteln gekommen sind und an welchem Punkt sie vor tonnenschweren Beweisakten kapitulieren werden. Staatsanwälte müssten beschwören, welchen Kenntnisstand sie von der Tat zum Zeitpunkt eines Geständnisses hatten, um frühzeitig reuige Angeklagte gegenüber Taktikern nicht zu benachteiligen. Verteidigern wäre wohl u.a. ein Schwur darauf abzunehmen, keine "Gentlemen's Agreements" ohne Anwesenheit des Beschuldigten getroffen zu haben. Angeklagte könnten vielleicht auf Rechtsmittel verzichten.
Fände dieses virtuelle Schwur-Gericht außerhalb des Spruchrichterprivilegs statt, wäre die Risikoverteilung zwar nicht gleichrangig, aber etwas fairer.
Einerseits ist nun diese "Urfehde 2.0" nur ein Gedankenspiel: Würde ein Deal auch unter Offenlegung allen Wissens und Nichtwissens, unter persönlicher Haftung und beschworen in aller Öffentlichkeit zustande kommen? Andererseits ist überall dort, wo zwei oder drei Menschen beisammen sind, informelles Verhalten unausweichlich. Jeder Versuch, es in Prozessordnungen abschließend zu regeln, dazu zählt auch das Komplettverbot des Deals, dürfte vergeblich sein.
Umso wichtiger ist es, einen "Lackmustest der Gerechtigkeit" zu entwickeln – es könnten beispielsweise alle Beteiligten eines Strafprozesses als fiktive Vertragsparteien interpretiert und ihre Beziehungen zivilrechtlichen Billigkeits-Tests unterzogen werden.
Martin Rath, Der Deal im Strafprozess: Die Urfehde 2.0 . In: Legal Tribune Online, 14.04.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/8520/ (abgerufen am: 29.03.2024 )
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