Fabian Michl hat ein Buch über die zweite Verfassungsrichterin in Karlsruhe geschrieben – Wiltraut Rupp-von Brünneck. Eine Juristin aus adeliger Familie, mit einer für ihre Zeit höchst ungewöhnlichen Karriere und viel Einfluss.
LTO: Herr Michl, in Ihrem Buch heißt es gleich im zweiten Satz, Wiltraut Rupp-von Brünneck habe die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geprägt "wie nur wenige Richter vor oder nach ihr". Sie schreiben nicht etwa "Richterinnen" – um sie ausdrücklich nicht nur mit den Frauen in Karlsruhe zu vergleichen?
Fabian Michl: Ja, das wäre ja auch ein ganz ungeeigneter Maßstab. Wiltraut Rupp-von Brünneck war nach Erna Scheffler die zweite Frau am Bundesverfassungsgericht und bis weit in die achtziger Jahre hinein blieb es dabei, dass das Kollegium aus 15 Männern und einer Frau bestand. Sie selbst hätte es wohl auch abgelehnt, in ihrer Rolle als Frau am Bundesverfassungsgericht beurteilt zu werden. Sie begriff den Richterposten als eine Funktion, ein Amt, das es auszufüllen galt, möglichst unabhängig von der eigenen Person. Dabei musste sie sich natürlich sehr wohl an einem von machtbewussten Männern geprägten Gericht als Frau durchsetzen.
Was hat sie so einflussreich gemacht?
Ihr Durchsetzungswille und ihre Fähigkeit, auch Kollegen aus dem konservativen politischen Lager auf ihre Seite zu ziehen. Es gelang ihr oft, Mehrheiten für ihre Position zu gewinnen – und wenn nicht, dann hielt sie ihre Auffassung in einer abweichenden Meinung fest. Ihre Sondervoten wurden in der Öffentlichkeit diskutiert und haben spätere Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts beeinflusst. Sie war in den sechziger und siebziger Jahren, also in ihrer Zeit in Karlsruhe, ziemlich bekannt.
Warum wissen wir dann heute so wenig über sie?
Wir wissen generell wenig über die Verfassungsrichterinnen und Verfassungsrichter. Das ist eine rechtskulturelle Frage. Anders als etwa in den USA betrachten wir die Gerichte weitgehend unabhängig von den einzelnen Personen. Bei uns spricht die Kammer, der Senat – nicht die Richterin oder der Richter. Ich finde es eigentlich erstaunlich, dass wir uns so wenig für die einzelnen Persönlichkeiten und Biografien interessieren.
"Ihr Lebensweg stand damals eigentlich nur Männern offen"
Und was hat Sie gerade an Rupp-von Brünneck besonders interessiert?
Es gibt viele Widersprüche in ihrem Leben. Sie war dem Nationalsozialismus nicht abgeneigt, sie teilte einige Überzeugungen der NS-Ideologie und sie sagte sich auch nach dem Krieg nicht von persönlichen Bekanntschaften mit früheren NS-Funktionären los. Aber sie bezog in der Bundesrepublik eine ganz entschieden demokratische, liberale, progressive Position, setzte sich für Freiheit und Gleichberechtigung ein, für Frauen, für uneheliche Kinder, überhaupt für sozial benachteiligte Gruppen.
Das war nicht nur eine Anpassung an die veränderten Umstände, das war Überzeugung. Ich glaube, wir können von ihrem Leben lernen, dass sich Menschen wandeln, dass sich biographische Widersprüche aber nicht immer auflösen lassen. Diese Widersprüche muss man aushalten.
Sie hatte einen sehr ungewöhnlichen Lebensweg – bei ihrer Geburt 1912 war eine Karriere als Juristin sogar völlig ausgeschlossen.
Ja, es ist ein Lebensweg, der eigentlich nur Männern offenstand. Sie stammt aus einer Adelsfamilie, einer preußischen Juristendynastie – ihr Großvater mütterlicherseits war Präsident des Kammergerichts – und wuchs in einem deutschnationalen Umfeld auf. In der Weimarer Republik wurden Frauen erstmals zu Rechtsberufen zugelassen. Als sie 1932 ihr Jurastudium begann, bekam sie aber schon zu spüren, dass Frauen dort eigentlich nicht mehr erwünscht waren. Viele Juristinnen mussten im Nationalsozialismus ihren Beruf aufgeben. Die Absolventinnen wurden von fast allen Rechtsberufen ausgeschlossen.
Wiltraut von Brünneck – das war ihr Geburtsname – machte aber eine beinahe ungebrochene Karriere. Sie trat 1943 in den Dienst des Reichsjustizministeriums und wurde dort sogar Referatsleiterin in der Zivilrechtsabteilung. Nach dem Krieg war sie kurzzeitig Richterin in der sowjetischen Zone, wurde aber entlassen, als ihre Mitgliedschaften in NS-Organisationen bekannt wurden. Sie musste neu anfangen, ging nach Hessen und wurde dort Ministerialbeamtin. In Hessen regierte die SPD. Georg-August Zinn, ein überzeugter Sozialdemokrat schon vor 1933, der sehr entschlossen eine demokratische rechtsstaatliche Verwaltung aufbaute, war hier Justizminister und später Ministerpräsident – er förderte sie maßgeblich.
Wie kam denn eine deutschnationale Adelige ausgerechnet zur SPD? Hätte nicht zumindest die CDU Konrad Adenauers nähergelegen?
Dass sie nach Hessen ging, war Zufall, sie kam dort bei einer Studienfreundin unter. Dass sie sich im hessischen Justizministerium bewarb, war aus ihrer Sicht naheliegend: Sie wollte immer in der Ministerialverwaltung arbeiten, wie die Männer in ihrer Familie. Ich vermute, dass sie in der Zusammenarbeit mit ihren Kollegen im Ministerium eine starke sozialdemokratische Prägung erhielt.
Und das passte ja auch ganz gut zu ihrem Streben nach Gleichberechtigung – Frauenrechte spielten in der Adenauer-CDU nun mal überhaupt keine Rolle. Außerdem war ihr die soziale Frage wichtig, sie wollte sich für die Schwächeren in der Gesellschaft einsetzen, mit progressiver Politik. Obwohl sie nie in die SPD eintrat und tatsächlich, so beschreiben es Zeitzeugen, stets sehr standesbewusst auftrat – in der Sache war sie vom sozialdemokratischen Programm überzeugt.
"Sie ging aus Pflichtbewusstsein nach Karlsruhe"
1963 wurde sie zur Bundesverfassungsrichterin gewählt. Es war eine geradezu skandalträchtige Wahl und eigentlich war die überzeugte Ministerialbeamtin auch nicht wirklich begeistert nach Karlsruhe zu wechseln, richtig?
Ja, das war eine wirklich verworrene Angelegenheit. Zu diesem Zeitpunkt war schon sehr deutlich geworden, wie politisch relevant das Bundesverfassungsgericht war.
Entsprechend groß war das Interesse der CDU einerseits und der SPD andererseits, ihnen nahestehende Kandidaten durchzusetzen. Es gab ziemlich viel Streit und eine Kampagne gegen den SPD-Richter Martin Drath, den die Union mit haltlosen Kommunismusvorwürfen überzog. Die Beamtin von Brünneck war eine Kompromisskandidatin. Sie stand zwar der SPD nahe, hatte aber auch bei CDU-Politikern einen guten Eindruck hinterlassen. Sie kannte ja alle Ministerpräsidenten aus ihrer Tätigkeit als Spitzenbeamtin in der hessischen Verwaltung. Jeder wusste, dass sie eine ausgezeichnete Juristin war.
Sie selbst wollte eigentlich nicht Richterin werden, zumal Teil des Kompromisses war, dass sie in den Ersten Senat gehen sollte und nicht in den Zweiten Senat. Grundrechtliche Fragen waren eigentlich nicht ihr Gebiet, in Hessen war sie für den Föderalismus zuständig gewesen. Aber sie hatte eben auch ein ausgeprägtes Pflichtbewusstsein und lehnte nicht ab.
Sie wurde aber nicht nur eine pflichtbewusste, sondern eine engagierte, eine herausragende Verfassungsrichterin. Hat ihr diese Arbeit dann doch Freude gemacht?
Die ersten zwei Jahre in Karlsruhe waren hart, das schildert sie in einem Brief an einen Vertrauten. Sie traf dort auf sehr machtbewusste Männer und sie kam mit dem konservativen Gerichtspräsidenten Gebhard Müller überhaupt nicht zurecht. Das hat sich aber nach einiger Zeit aufgelöst, sie hat die Konflikte selbstbewusst durchgestanden und Verbündete, sogar Freunde, gefunden. Erwin Stein gehörte dazu und Theodor Ritterspach, obwohl beide eigentlich im anderen politischen Lager standen.
Sie lernte dort auch ihren Mann kennen: Hans Rupp, der Richter im Zweiten Senat war. Die beiden heirateten 1965, zwei amtierende Verfassungsrichter, das hat es davor und danach nie wieder gegeben, aber sie haben es sehr geschickt und diplomatisch über die Bühne gebracht. Vor allem hat Wiltraut Rupp-von Brünneck, wie sie nach der Heirat hieß, bald erkannt, wieviel Einfluss sie als Verfassungsrichterin hatte. Sie konnte die Rechtsordnung der Bonner Republik mitgestalten und das war es ja, was sie wollte.
"Mit ihrem Sondervotum zum Schwangerschaftsabbruch wurde sie zur Identifikationsfigur"
Was waren die wichtigsten Entscheidungen, auf die sie Einfluss genommen hat?
Sie konnte sich ihr Dezernat natürlich nicht aussuchen, sondern übernahm einige klassische "Frauenthemen" von Erna Scheffler - Gleichberechtigungsfragen, Familienrecht – und Bereiche, die sonst keiner machen wollte, Materien aus dem Sozialrecht und dem Kriegsfolgenrecht etwa.
Eine der ersten Entscheidungen, die einen sehr großen Widerhall fanden, war der Unehelichen-Beschluss von 1969. Kinder, die nicht in der Ehe geboren waren, wurden bis dahin in vielen Bereichen benachteiligt, im Eherecht, im Erbrecht, im Familienrecht. Ihre rechtliche Gleichstellung war ein großer Schritt und veränderte die Gesellschaft erheblich. 1971 wurde Rupp-von Brünneck wiedergewählt, in diese zweite Amtszeit fallen weitere wichtige Entscheidungen. Am bedeutendsten ist vielleicht das Lebach-Urteil, in dem es um die Frage ging, inwiefern die Fernsehberichterstattung über Strafgefangene zulässig ist. Ihr Einfluss auf diese Entscheidung ist sehr gut nachzuvollziehen, sie entwirft einen differenzierten Ausgleich zwischen der Rundfunk- und Pressefreiheit einerseits und dem Persönlichkeitsrecht andererseits. Man erkennt deutlich, dass sie beides, die soziale Stellung der Gefangenen und die freiheitlich-demokratische Bedeutung einer freien Presse, sehr ernst nahm.
Was machte sie als Juristin aus?
Sie war keine Dogmatikerin, sondern ging immer von der Lebenswirklichkeit aus. Das war typisch für eine in den dreißiger Jahren unter ganz anderen Vorzeichen sozialisierte Juristin. Sie hielt an dieser pragmatisch-wirklichkeitsnahen Methode fest und hat damit vielleicht am stärksten die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geprägt. Ein anschauliches Beispiel ist der Beschluss zum Rechtsschutz im Ausländerrecht. Sie wies das Argument zurück, dass abgeschobene Ausländer auch von ihren Herkunftsstaaten aus klagen könnten. Ihr war klar, dass das an der Realität vorbeiging und dass den Betroffenen noch in Deutschland effektiver Rechtsschutz gewährt werden musste.
Als das Bundesverfassungsgericht sich mit der heftig umstrittenen Frage des Schwangerschaftsabbruchs auseinandersetzen musste, konnte sie sich nicht durchsetzen. Trotzdem hat gerade diese Entscheidung sie sehr bekannt gemacht.
Das war 1974/75, da war sie schon lange in Karlsruhe. Mittlerweile regierte die sozialliberale Koalition, die eine fortschrittliche Fristenlösung im Abtreibungsstrafrecht verabschiedete. Die konservative Richtermehrheit im Senat stoppte diese Reform mit durchaus angreifbaren Argumenten. Wiltraut Rupp-von Brünneck formulierte zusammen mit ihrem Kollegen Helmut Simon ein Sondervotum, in einem sehr scharfen Ton. Ihrer Meinung nach sollte solche komplexen Abwägungsentscheidungen vom Gesetzgeber getroffen werden, nicht von einem Gericht. Sie trug den Dissens öffentlich bei der Urteilsverkündung vor. Im Nachhinein wurde ihr Polemisierung vorgeworfen. Aber sie hat mit ihrem Auftritt vielen Menschen in Deutschland – die Mehrheit der Bevölkerung war für die Fristenlösung – eine Stimme gegeben und wurde dadurch zu einer Identifikationsfigur.
Der Autor Dr. Fabian Michl hat die Juniorprofessur für Staats- und Verwaltungsrecht mit Schwerpunkt Recht der Politik an der Universität Leipzig inne. Das Buch "Wiltraut Rupp-von Brünneck (1912–1977), Juristin, Spitzenbeamtin, Verfassungsrichterin" ist im April 2022 im campus-Verlag erschienen. Hardcover gebunden, 558 Seiten, ISBN 9783593515236.
Wie Wiltraut Rupp-von Brünneck das BVerfG prägte: . In: Legal Tribune Online, 08.05.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/48368 (abgerufen am: 06.10.2024 )
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