Die auch im Fall Middelhoff angewandte Methode der Suizidprävention erntet scharfe Kritik. Außerdem in der Presseschau: Sachsen will Proberichter ab dem ersten Tag als Einzelrichter in Asylsachen einsetzen, der geplante EU-Betriebsgeheimnisschutz erntet Kritik als Wistleblowergefährdung, die mögliche Erweiterung der Rechtsfolgenlösung geht zum BGH, moralische Reparationsverpflichtung und etwas Polemisches zum Schmökern.
Thema des Tages
Middelhoff – Menschenunwürdige Suizidprävention? Über einen Monat wurde im Haftraum von Thomas Middelhoff alle 15 Minuten das Licht angeschaltet, Tag und Nacht, nun ist er schwer erkrankt. Mit Suizidprävention begründet die Haftanstalt die Maßnahme, von Schlafentzug und Guantanamo sprechen Middelhoffs Anwälte. Es berichten unter anderem die Welt (Thomas Vitzthum), die SZ (Hans Leyendecker/Uwe Ritzer) und zeit.de auch zu den Hintergründen und Einzelheiten im Fall Middelhoff. Die Kontrollmaßnahme zur Suizidprävention ist nicht unüblich und erntet nun Kritik. Die Grünenpolitikerin Renate Künast spricht laut spiegel.de (amz) von Menschenrechtsverletzung.
Udo Vetter (lawblog.de) meint, eine solche Art von Suizidprävention unterscheide sich von der Folter nur durch den fehlenden Vorsatz zur Quälerei, der dem Betroffenen aber regelmäßig egal sei. Heribert Prantl (SZ) mahnt, dass "Fürsorge nicht zu Schikane" werden dürfe und Rechtsanwalt Carsten C. Hoenig (kanzlei-hoenig.de) erinnert an weitere Fälle, wie einen im März vom Oberlandesgericht Hamm aufgehobenen Beschluss des Landgerichts Aachen, in dem dieses die ebenfalls 15-minütig stattfindende Kontrolle eines männlichen Gefangenen auch durch weibliche Bedienstete selbst in Momenten, in welchen der Gefangene nackt war, nicht für problematisch hielt.
Middelhoff sei nun wieder in die Uniklinik verlegt, sein Gesundheitszustand habe sich verschlechtert, und seine Anwälte hätten erneut Haftprüfung beantragt, meldet auch die FAZ (Joachim Jahn).
Rechtpolitik
Asylrichter ab dem ersten Tag: Nach einem im Bundesrat eingereichten Gesetzentwurf Sachsens sollen Proberichter ab dem ersten Tag als Einzelrichter auch über Asylsachen entscheiden dürfen – bisher erst nach sechs Monaten. Das berichtet lto.de mit ablehnenden und befürwortenden Stimmen dazu.
Vorratsdatenspeicherung: Die SZ (Tanjev Schultz) setzt sich mit dem von SPD-Chef Sigmar Gabriel vorgebrachten Argument für die Vorratsdatenspeicherung – sie hätte NSU-Morde verhindern können – auseinander. An fehlenden Daten hätten die Ermittler nicht gelitten, es seien vielmehr schon Spuren die sich aus den vorhandenen Daten ergeben hätten nicht verfolgt worden. Allenfalls nach Entdeckung des NSU hätte eine Vorratsdatenspeicherung zu Kontaktpersonen führen können, denn sie helfe eben nur, wenn ein Ende der Verbindung bereits bekannt sei.
Erbschaftsteuerreform: Die taz (Ulrich Schulte) legt den Vorschlag des Finanzministeriums zur Erbschaftsteuerreform genauer dar, um so aufzuzeigen, dass der Vorwurf einer zu starken Belastung des Mittelstandes bei der geplanten Regelung nicht zutrifft. Richter am Bundesfinanzhof Jürgen Brandt stellt in der FAZ die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts kurz dar und begrüßt den Vorschlag als minimal invasive Umsetzung dieser Vorgaben. Demgegenüber würden andere Vorschläge wieder zur Frage der Verfassungskonformität führen.
Lockerung der AGB-Kontrolle im Mietrecht? Nach Informationen der FAZ (Joachim Jahn) soll mit dem nächsten Reformpaket zum Mietrecht – dessen Verabschiedung im kommenden Jahr zu erwarten sei – auch über eine gesetzgeberische Antwort auf die rigiden Entscheidungen des Bundesgerichtshofs zu Schönheitsreparaturklauseln gesprochen werden. Diese hätten ihren Ursprung nicht in Mieterfreundlichkeit sondern in strenger AGB-Kontrolle durch den BGH, für welche schon länger nach gesetzgeberischer Lockerung - jedenfalls für Geschäfte zwischen Unternehmen - verlangt werde und nun, im Mietrecht, auch gegenüber Verbrauchern. Der Artikel stellt außerdem die nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch und der BGH-Rechtsprechung derzeit geltenden Regeln zu Schönheitsreparaturen dar.
EU-Richtlinie zum Betriebsgeheimnisschutz: Aufgrund der vagen Definition des Betriebsgeheimnisses und der berechtigten Informationsveröffentlichung nur wenn es "nötig" ist, hält Wikileaks-Aktivistin Sarah Harrison im Interview mit taz.de (Svenja Bergt/Marlene Halser) die geplante EU-Richtlinie zur Verbesserung des zivilrechtlichen Schutzes von Betriebsgeheimnissen für eine Gefahr für Wistleblower. Diesen und viele weitere Kritikpunkte an der Richtlinie äußern auch die Unterzeichner des auf taz.de zu lesenden öffentlichen Briefes an die EU-Institutionen.
Autonomes Fahren: Das Handelsblatt (Daniel Delhaes/Markus Fasse) schreibt zu den rechtlichen Fragen und möglichen Antworten, die die technische Entwicklung des autonomen Fahrens mit sich bringt. Dabei geht es neben Fragen zu moralischen Kategorien für Auswahlentscheidungen bei unvermeidbarer Schädigung auch darum, ob die Ersetzung des Menschen durch die Technik nach derzeitigem Verfassungsrecht überhaupt zulässig ist.
Justiz
BGH – Rechtsfolgenlösung: Gegen die Verurteilung im aktuellen "Kanibalenfall" durch das Landgericht Dresden zu achteinhalb Jahren Freiheitsstrafe wegen Mordes ist die Staatsanwaltschaft (wohl nur hinsichtlich der Rechtsfolge) in Revision gegangen, meldet spiegel.de. Damit wird der Bundesgerichtshof über die Abweichung von der lebenslangen Freiheitsstrafe in diesem Fall zu entscheiden haben. Die Verteidigung soll keine Revision eingelegt haben.
BAG zu Klageausschlussklausel: Die FAZ (Joachim Jahn) macht auf das Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 12. März aufmerksam, nach welchem eine Klage ausschließende Klausel in einem Aufhebungsvertrag nicht gültig ist, wenn vor Abschluss des Aufhebungsvertrags mit einer Kündigung gedroht wurde, die nicht ernsthaft in Erwägung gezogen werden konnte.
LG Kiel zu Schüssen auf Finanzbeamten: Wegen Heimtücke-Mordes verurteilte das Landgericht Kiel einen Steuerberater, der sich von einem Finanzbeamten in dessen Büro bitten ließ und ihn dann erschoss. Die Verteidigung hatte auf Totschlag plädiert und Revision eingelegt, melden unter anderem lto.de und spiegel.de.
Recht in der Welt
EGMR verurteilt Italien wegen Folter: Aufgrund der Geschehnisse in der Scuola Diaz in Genua während des G8-Gipfels 2001 verurteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Italien wegen Verstoßes gegen das Folterverbot. Auch, dass das italienische Strafgesetzbuch keinen Straftatbestand gegen Folter kennt, und so die an dem Angriff auf teilweise bereits schlafende G8-Aktivisten beteiligten Polizisten nur zu geringen Strafen verurteilt wurden, kritisierte der EGMR laut SZ (Oliver Meiler). Auch spiegel.de (Hans-Jürgen Schlamp) berichtet.
Griechenland – Kronzeuge festgenommen: Wie die FAZ (Christian Schubert) und das Handelsblatt (Thomas Hanke/Gerd Höhler) berichten, ist den griechischen Behörden ein möglicher Kronzeuge gegen deutsche Unternehmen nach Festnahme übergeben worden. Er soll sowohl im Zusammenhang mit den Vorwürfen gegen KMW als auch Siemens stehen und zur Kooperation mit den Behörden bereit sein.
USA – Boston-Bomber: Im Fall des Attentäters von Boston wird die Entscheidung der Jury erwartet. Ein Schuldspruch ist laut spiegel.de (Mark Pitzke) sicher, der Verteidigung gehe es darum die Todesstrafe zu vermeiden.
Sonstiges
Fischer zu Gefahr: In seiner Kolumne nimmt Bundesrichter Thomas Fischer auf zeit.de den Germanwings-Absturz zum Anlass sich zum Umgang mit solchen Ereignissen zu äußern, der letztlich ein Umgang mit der jedem Individuum potentiell drohenden Gefahr sei, die es abschätzen und einordnen müsse.
Frauenrechte: Selim Çalişkan, Generalsekretärin der deutschen Sektion von Amnestie International, äußert sich in der SZ zur rechtlichen Situation von Frauen, national wie international, zeigt die Bedeutung des Frauenbildes für die rechtliche und tatsächliche Lage von Frauen auf und spricht sich auch für eine Änderung des deutschen Vergewaltigungsparagrafen aus.
Reparationszahlungen: Griechenland hat die Reparationsforderungen beziffert, taz (Ulrike Hermann) und Handelsblatt (Gerd Höhler/Donata Riedel) stellen die Forderungen und den Streit um ihre Berechtigung noch einmal dar. Stefan Ulrich (SZ) hält die juristischen Argumente gegen eine deutsche Zahlungspflicht für stichhaltig, aber darauf zu pochen für verfehlt. Die bestehende moralische Verpflichtung sollte mit einer Geste guten Willens gewürdigt werden, durch Stiftung, Spende oder Aufbauhilfe. Ulrike Hermann (taz) hält die selbst von NS-Deutschland anerkannten Zwangskredite für diese Zwecke für geeignet.
Das Letzte zum Schluss
Buch mit Gerichtsreportagen: Die FAZ (Peter Rawert) rezensiert "Uwe Nettelbeck: 'Prozesse' 1967-1969", herausgegeben von Petra Nettelbeck. Man könne sich zwar fragen, welche Berechtigung die erneute Veröffentlichung von 50 Jahre alten Gerichtsreportagen habe. Die "einzigartige Melange aus sprachlicher Brillianz teils erschreckender Sachlichkeit und teils wilder Polemik" sei jedoch lohnende Lektüre.
Beiträge, die in der Presseschau nicht verlinkt sind, finden Sie nur in der Printausgabe oder im kostenpflichtigen E-Paper des jeweiligen Titels.
Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.
lto/krü
Was bisher geschah: zu den Presseschauen der Vortage.
Die juristische Presseschau vom 08. April 2015: Menschenunwürdige Suizidprävention – Asylrichter ab dem ersten Tag – Folter in Italien . In: Legal Tribune Online, 08.04.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/15173/ (abgerufen am: 08.05.2024 )
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