Die Türkei wird mehrfach für mangelnde Rechtsstaatlichkeit kritisiert. Außerdem in der Presseschau: Staatsanwaltschaft geht gegen die Deutsche Bank-Freisprüche in Revision, in Luxemburg begann Prozess gegen den "Luxleaks"-Enthüller.
Thema des Tages
EGMR zu Aleviten: Die Türkei benachteiligt die etwa 20 Millionen Aleviten im Land ohne vernünftige Gründe gegenüber der sunnitischen Mehrheit verletzte sie damit in ihrer Religionsfreiheit aus Art. 9 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte am gestrigen Dienstag. Zudem bestehe ein Versoß gegen das Diskriminierungsverbot des Art. 14 EMRK – die Richter sprachen von einem "eklatanten Ungleichgewicht" zwischen Aleviten und Sunniten, das der Staat "weder relevant noch ausreichend in einer demokratischen Gesellschaft" begründe, so zeit.de zeit.de . Verfassungsblog.de (Maximilian Steinbeis) stellt die Verbindung zu einem weiteren Urteil gegen die Türkei her und kommt zu dem Schluss, diese gäben "tiefe Einblicke in die Art, wie Erdoğans Türkei funktioniert. Sie machen sichtbar, dass dies ein Staat ist, der (Verfassungs-)Recht nicht als Bindung versteht, sondern als Waffe benutzt."
Türkei – Meinungs- und Pressefreiheit: Zunehmend verwehrt die Türkei kritischen ausländischen Journalisten die Einreise – das Land suche sich zurzeit aus, wer berichten darf und wer nicht, schreibt die SZ (Mike Szymanski). Das Hbl (Ozan Demircan) berichtet, dass von einer Vielzahl türkischer Journalisten, die für kritische Berichterstattung etwa wegen Präsidentenbeleidigung oder angeblicher Spionage angeklagt wurden. taz (Konrad Litschko) Christian Bommarius (BerlZ) meint, damit sei "die Pressefreiheit nicht in Gefahr, sondern verloren", sie stehe "auf der Todesliste der Regierung". Für weitere Kritik sorgt unterdessen, dass die Türkei ein Erdogan-kritisches Foto aus einer Ausstellung in Genf entfernt haben möchte, so spiegel.de.
Türkei – Islamische Verfassung: Nach Ansicht von AKP-Parlamentspräsident İsmail Kahraman soll es in der Türkei zukünftig eine "religiöse Verfassung" geben, in der Säkularismus keine Rolle mehr spielen dürfe. Obgleich dies auf Ablehnung auch aus der eigenen Partei stößt, konstatiert zeit.de (Lenz Jacobsen), es füge sich in die Umgestaltungspläne der türkischen Regierung ein. Dies meint auch Jürgen Gottschlich (taz), der die Türkei in einem Umbau zu einem autoritären Präsidialsystem, in dem der Islam zur Grundlage des Staates wird, begriffen sieht.
Rechtspolitik
TV-Übertragung aus dem Gerichtssaal: Bundesjustizminister Heiko Maas hat im Gesetzentwurf für mehr Gerichtsöffentlichkeit seine ursprünglichen Pläne abgeschwächt. Urteilsverkündungen von Bundesgerichten sollen im Fernsehen übertragen werden dürfen, wenn der Vorsitzende Richter zustimmt, so die FAZ (Hendrik Wieduwilt). Möglich soll auch die Tonübertragung in einen Nebenraum für Medienvertreter sowie Bildaufnahmen zu wissenschaftlichen und historischen Zwecken und bei "herausragender zeitgeschichtlicher Bedeutung" werden.
Behindertenrechte: Der Entwurf für das Bundesteilhabegesetz sieht vor, dass behinderte Menschen zukünftig mehr Geld von ihrem Verdienst behalten und auch deutlich mehr Geld für Altersvorsorge ansparen dürfen. Ein "Recht auf Sparen" war unter anderem von über 300.00 Menschen per Online-Petition gefordert worden, berichtet die SZ (Thomas Öchsner).
Urhebervertragsrecht: Im Streit um die Reform des Urhebervertragsrechts befasst sich nun der Bundestag mit dem Gesetzentwurf, der zuletzt deutlich entschärft wurde. Nach wie vor gibt es allerdings starke Kritik, weil die Interessen der Autoren gegenüber den Verlagen zu wenig Berücksichtigung fänden, so die FAZ (Hendrik Wieduwilt).
Sexualstrafrecht: Mit der Kritik an der geplanten Reform des Sexualstrafrechts befasst sich die SZ (Constanze von Bullion) sowie der SWR RadioReport Recht (Gigi Deppe/Bernd Wolf). Der bisherige Entwurf schütze nicht das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung an sich, insbesondere da er nach wie vor Widerstandshandlungen des Opfers für eine Strafbarkeit des Täter voraussetze.
§ 103 StGB: Übereinstimmend sprechen sich Union und SPD für eine Abschaffung des Straftatbestands der Majestätsbeleidigung (§ 103 Strafgesetzbuch) aus. Während die CDU dies jedoch ab 2018 plant, setzt sich die SPD für eine sofortige Änderung ein, so spiegel.de.
Christoph Frank im Interview: Nun bringt auch die Badische Zeitung (Christian Rath) ein Interview mit Christoph Frank, dem scheidenden Vorsitzenden des Deutschen Richterbunds. Er spricht über Richterbesoldung, Selbstverwaltung der Justiz, mangelhafte Personalausstattung und die Zufriedenheit der Bürger. Ein soziale Schieflage der Justiz verneint er.
Justiz
LG München I – Deutsche Bank: Nachdem fünf Top-Manager der Deutschen Bank am Montag vom Vorwurf des versuchten Prozessbetrugs freigesprochen worden sind, hat die die Staatsanwaltschaft München nun Revision eingelegt, über deren Begründung nach Erhalt der schriftlichen Urteilsgründe entschieden werden soll, meldet die FAZ (Joachim Jahn).
LG Dresden – Brandanschlag auf Flüchtlingsunterkunft: Zwei Männer, die im Juni vergangenen Jahres einen Brandanschlag auf ein unbewohntes Flüchtlingsheim in Meißen verübt haben sollen, haben zum Prozessbeginn vor dem Landgericht Dresden Geständnisse abgelegt. Die Anklage geht von einem fremdenfeindlichen Hintergrund der Tat aus, schreiben FAZ (Stefan Locke) und spiegel.de.
LG Heilbronn zu Winnenden: Der Vater des Attentäters von Winnenden ist mit seiner Klage gescheitert, den Ärzten und Therapeuten seines Sohns die Hälfte seines Schadensersatzes aufzubürden. Weil der Vater die Waffe, mit der der 17-Jährige 15 Menschen erschoss, offen im Schrank lagerte, muss er an Opfer, Hinterbliebene, die Stadt Winnenden und die Unfallkasse Baden-Württemberg rund vier Millionen Euro zahlen. Die Ärzte und Therapeuten indes hätten die Tat nicht vorsehen müssen, berichtet lto.de.
OLG München – OSS: Am heutigen Mittwoch beginnt der Prozess gegen vier Mitglieder der "Oldschool Society". Die Gruppe, die mutmaßlich Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte plante, fand sich in einem rechtsextremen Chat zusammen. Spiegel.de (Jörg Diehl) berichtet über die Gruppe und ihre Kommunikation.
AG Tiergarten – "S-Bahn-Urinierer": Ein mehrfach vorbestrafter Neonazi, der in einer Berliner S-Bahn lautstark andere Fahrgäste rassistisch beleidigt und Nazisprüche von sich gegeben hat, ist zu einer Haftstrafe von zwei Jahren und acht Monaten verurteilt worden. Als erwiesen sah das Gericht auch an, dass er einer Frau und ihren kleinen Kindern sein entblößtes Gesäß und seine Genitalien gezeigt hat; ob er die Familie sogar anpinkelte, konnte nicht festgestellt werden, schreibt die taz Berlin (Uta Eisenhardt).
StA Mainz – Jan Böhmermann: Nach der Ermächtigung zur Strafverfolgung durch Bundeskanzlerin Merkel beginnt die Staatsanwaltschaft Mainz ihre Ermittlungen gegen den Satiriker Jan Böhmermann. Die Welt (Hannelore Crolly) porträtiert die leitende Oberstaatsanwältin Andrea Keller.
Alterskriminalität: Die SZ (Thomas Hahn) schreibt über Ermittlungen gegen eine 90-Jährige, der die Beteiligung an einer Entführung mit Lösegeldforderung vorgeworfen wird. Die Anzahl der Straftaten älterer Menschen steige an – schon wegen des demografischen Wandels.
Recht in der Welt
Luxemburg – "Luxleaks": 2008 enthüllten Whistleblower, wie der Luxemburgische Staat Großkonzerne bei der Vermeidung von Steuern unterstützt. Am Bezirksgericht in Luxemburg hat nun der Prozess gegen zwei Mitarbeiter einer Wirtschaftsprüfungsgesellschaft und einen französischen Journalisten begonnen – sie sind unter anderem wegen Diebstahls und Weitergabe von Geschäftsgeheimnissen angeklagt. Dass gegen die Enthüller des Skandals vorgegangen wird, stößt auf vielfache Kritik, berichtet spiegel.de (Markus Becker). Anlässlich des Prozesses schreibt die SZ (Andreas Zielcke) über die vom EU-Parlament beschlossene Richtlinie zum Schutz von Geschäftsgeheimnissen in den Mitgliedstaaten. Kritiker fürchten, dass dadurch Whistleblower gefährdet und kriminalisiert werden, die unlautere Machenschaften von Unternehmen aufdecken. Dass die Richtlinie eine Ausnahme macht, wenn "Fehlverhalten" aufgedeckt werde, reiche nicht aus, da für die "Geheimnisverräter" nicht klar erkennbar sei, was darunter zu verstehen und wie jede einzelne aufgedeckte Information zu beurteilen ist. Zudem trügen diese das Prozessrisiko.
Norwegen – Anders Breivik: Nachdem ein Osloer Gericht entschieden hatte, dass der Massenmörder Anders Breivik durch seine Bedingungen in der Isolationshaft in seinen Menschenrechten verletzt sei, hat der norwegische Staat nun Berufung gegen dieses Urteil eingelegt, meldet zeit.de.
Großbritannien – Fußball-Tragödie: 27 Jahre nachdem bei einem Halbfinalspiel um den englischen Pokal 96 Fußballfans aus Liverpool ums Leben kamen hat das Gericht in Warrington nun entschieden, dass diese „widerrechtlich getötet“ worden seien. Die Polizei habe grob fahrlässige Fehlentscheidungen getroffen, so die taz (Ralf Sotschek). Bislang war von Polizei und Presse eine Schuld den Fans selbst behauptet worden. Die Staatsanwaltschaft prüft die Einleitung strafrechtlicher Ermittlungen.
Russland – Anwälte: Der in Moskau tätige Rechtsanwalt Stefan Weber schreibt auf lto.de über kritikwürdige Zustände in Russland und darüber, warum Unternehmen und Wirtschaftsanwälte trotzdem dort blieben – es seien nämlich durchaus auch positive Entwicklungen zu verzeichnen.
Rechtssicherheit bei Auslandsinvestitionen: Das Hbl (Frederic Spohr/Stephan Scheuer, Mathias Peer) befasst sich mit den Schwierigkeiten von Investitionen in Ländern, in denen Rechtssicherheit nicht vollständig garantiert ist. Am Beispiel von Berichten aus Vietnam, China und Indien werden Fälle vorgestellt, in denen Unternehmer entweder vor Gerichten unterlagen oder günstige Urteile nicht umgesetzt wurden.
Sonstiges
BND-Chef muss gehen: Der Präsident des Bundesnachrichtendienstes (BND), Jurist Gerhard Schindler, wird von seinem Posten abberufen. Der BND stand zuletzt unter anderem in der Kritik, weil er in einer Abhörstation im oberbayerischen Bad Aibling mittels Suchbegriffen der NSA europäische Verbündete ausspionierte. Nachfolger wird Bruno Kahl, ebenfalls Jurist, berichtet die SZ (Hans Leyendecker/Georg Mascolo).
Fischer zur Versuchsstrafbarkeit: In seiner aktuellen Kolumne auf zeit.de erklärt Bundesrichter Thomas Fischer unter Bezugnahme auf die Causa Böhmermann diesmal die Versuchsstrafbarkeit.
Politische Äußerungen von Professoren: Juwiss.de (Ralph Zimmermann) widmet sich den rechtlichen Grenzen, in denen Professoren sich öffentlich politisch äußern dürfen.
Beiträge, die in der Presseschau nicht verlinkt sind, finden Sie nur in der Printausgabe oder im kostenpflichtigen E-Paper des jeweiligen Titels.
Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.
lto/lil
Was bisher geschah: zu den Presseschauen der Vortage.
Die juristische Presseschau vom 27. April 2016: Türkei und Rechtsstaat / Staatsanwälte geben nicht auf / Prozess gegen "Luxleaks"-Enthüller . In: Legal Tribune Online, 27.04.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/19195/ (abgerufen am: 29.04.2024 )
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