Das BVerfG hält das Betreuungsgeld für verfassungswidrig. Außerdem in der Presseschau: verfassungswidrige Stimmzettel, "Richter Gründlich" im Interview, attraktive Boutiquen und Schmerzensgeld für eine defekte Zugtoilette.
Thema des Tages
BVerfG zu Betreuungsgeld: Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Betreuungsgeld findet sich in der gesamten Tagespresse. Gute Darstellungen und Analysen bieten u.a. die FAZ (Joachim Jahn), die SZ (Wolfgang Janisch) und die taz (Christian Rath); einen schnellen Überblick bietet spiegel.de. Durchgehend wird hervorgehoben, dass sich das Gericht nicht inhaltlich zur Verfassungsmäßigkeit eines Betreuungsgeldes positioniert habe. Die Welt (Sabine Menkens) stellt noch einmal die "schizophrene" Rolle der Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig (SPD) dar, die das Gesetz als Gegnerin des Betreuungsgeldes vor Gericht verteidigen musste.
Christian Bommarius (Berliner Zeitung) meint, dem Betreuungsgeld-Gesetz sei die Verfassungswidrigkeit "in leuchtend roter Farbe und mit einem Ausrufungszeichen versehen" auf die Stirn geschrieben gewesen. Als "juristisches Lehrstück über das Scheitern politischer Egoismen" analysiert Thomas Sigmund (Handelsblatt) das Urteil, Jost Müller-Neuhof (Tagesspiegel) fordert jetzt eine "Diskussion ohne Ideologie". Reinhard Müller (FAZ) wagt die Prognose, dass das Gericht das Betreuungsgeld nicht für "offensichtlich gleichheitswidrig" halte – weil es dies sonst "wohl angedeutet" hätte und es nicht bei Zuständigkeitsargumenten belassen hätte. Heribert Prantl (SZ) deutet in seiner Analyse der Auswirkungen des Urteils auf die bayerische Politik an, dass "ein nicht mehr so konservativ besetztes" Gericht Betreuungsgeld-Modelle wegen der mit ihnen verbunden Festschreibung der Frauenrolle auch inhaltlich kippen könnte. Simone Schmollack (taz) tritt entschieden dafür ein, die freiwerdenden Mittel in den Kita-Ausbau zu stecken.
lto.de beschäftigt sich mit den Auswirkungen des Urteils: Welche Länder wollen eigene Modelle entwickeln, was geschieht mit bereits bewilligten oder gestellten Anträgen auf Betreuungsgeld? Letzteres interessiert auch die SZ (Ulrike Heidenreich). Während die SZ (Robert Roßmann) in einem weiteren Artikel den inhaltlichen Streit der Regierungskoalition zum Betreuungsgeld darstellt, beschäftigt sich die FAZ (Johannes Leithäuser) damit, was mit dem gesparten Geld künftig geschehen soll. Mit den Auswirkungen der Entscheidung setzt sich auch die taz (Simone Schmollack) auseinander. In einem weiteren Artikel der FAZ (Dietrich Creutzburg/Joachim Jahn) wird eine Äußerung aus den Reihen der Bundesregierung zitiert, angesichts der Entscheidung sei eine bloße Weiterreichung der Mittel an die Länder "verfassungsrechtlich kaum vorstellbar".
Rechtspolitik
Bayerisches Versammlungsgesetz: Die CSU will das Bayerische Versammlungsrecht verschärfen und Verstöße gegen das Vermummungsverbot wieder als Straftat und nicht nur als Ordnungswidrigkeit geahndet wissen. Während die Freien Wähler das Projekt unterstützten, übten SPD und Grüne scharfe Kritik an dem Entwurf, so lto.de.
Asylrecht: Während der bayerische Ministerpräsident seine Pläne verteidigt, "Aufnahmeeinrichtungen" für Asylbewerber mit wenig Aussicht auf ein Bleiberecht zu schaffen, nimmt auch die Kritik daran zu, berichtet die FAZ (Albert Schäffer). Dabei komme diese zumeist aus den Reihen der Bundestags-Opposition, von den Landesregierung sei sie "allenfalls verhalten zu hören", weiß die SZ. Sie bietet in einem gesonderten Artikel einen Überblick über die Reaktionen aus den Ländern.
Jasper von Altenbockum (FAZ) reagiert auf die Kritiker und sieht die Verantwortung für die jüngsten Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte nicht bei den Politikern, die scharf gegen Asylmissbrauch wettern, sondern bei denen, die diesen nicht erkennen oder benennen wollen.
Cannabis-Legalisierung: Der Vorstoß des Bremer Regierungschefs Carsten Sieling (SPD) für eine Legalisierung von Cannabis findet Unterstützung in weiteren Bundesländern. Der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) sprach sich für eine Entkriminalisierung des Cannabis-Konsums aus; auch Hamburg erwägt entsprechende Regelungen, so die FAZ. Eine umfassende Bestandsaufnahme zu dem Thema findet sich auf zeit.de (Lisa Caspari/Alina Schadwinkel).
Daniel Deckers (FAZ) kritisiert die Entwicklung scharf und meint, eine "jahrzehntelange Verharmlosung des Cannabiskonsums" identifizieren zu können.
Teilhabegesetz: In einem Gastbeitrag für die FAZ äußerst sich der Geschäftsführer des Deutschen Städtetags Stephan Articus zum geplanten Bundesteilhabegesetz für Menschen mit Behinderung. Das Vorhaben sei "eines der größten Sozialprojekte der vergangenen Jahrzehnte." Nachdem der Bericht der Arbeitsgruppe vorliege, gelte es auf dem Weg zum Gesetzentwurf nun, "das Machbare vom Wünschenswerten zu trennen" – was nicht einfach werde.
Lockerung des Tanzverbots: Unter der Überschrift "Das Ländle macht sich locker" beschäftigt sich die Welt (Hannelore Crolly) mit der von der baden-württembergischen Landesregierung geplanten "maßvollen Lockerung des Tanzverbots" an religiösen Feiertagen.
Justiz
ThürVerfGH zu Stimmzetteln: Die Gestaltung der Stimmzettel zur Wahl des 6. Thüringischen Landtags im September 2014 verstieß gegen die Landesverfassung. Nach dem Thüringischen Verfassungsgerichtshof ist es nicht gerechtfertigt, nur die im Landtag vertretenen Parteien in der Reihenfolge des letzten Wahlergebnisses aufzuführen – und alle übrigen Parteien in alphabetischer Reihenfolge, so lto.de. Die Wahl bleibe wegen fehlender Auswirkungen auf das Ergebnis trotzdem gültig.
BGH – Gröning-Revision: Der "Buchhalter von Auschwitz", Oskar Gröning, hat Revision gegen seine Verurteilung durch das Landgericht Lüneburg eingelegt. Sollte der Bundesgerichtshof das Urteil bestätigen, würde das in den Augen von Werner Renz (zeit.de) "endgültig mit einer Rechtspraxis brechen, in der seit Jahrzehnten die Schuld von NS-Verbrechern mit zweierlei Maß gemessen wird."
Auch der BGH-Richter Thomas Fischer nimmt das Urteil als Anlass "zu ein paar Erinnerungen" im Rahmen seiner Rechts-Kolumne auf zeit.de.
"Richter Gründlich": Thomas Schulte-Kellinghaus ist Richter am Oberlandesgericht Karlsruhe und in den Medien besser als "Richter Gründlich" bekannt. Er klagte gegen eine Ermahnung seines Dienstvorstands, die er wegen einer angeblich zu geringen Anzahl erledigter Fälle erhalten hatte. Gegenüber lto.de (Constantin van Lijnden) äußert er sich nun erstmals persönlich zu der Sache.
OLG München – NSU-Prozess: Beate Zschäpe, die Hauptangeklagte im Münchner NSU-Prozess, hat einen erneuten Antrag gestellt, ihren Pflichtverteidiger Wolfgang Heer von seiner Aufgabe zu entbinden. Begründet habe ihr neuer Verteidiger Mathias Grasel den Antrag laut FAZ (Karin Truscheit) damit, dass Heer sich außerhalb der Verhandlung mit dem Vorsitzenden Richter über Zschäpes Aussagebereitschaft unterhalten haben soll. Aus diesem Grund habe es auch einen neuen Antrag zur Sitzordnung gegeben. Auch spiegel.de (Gisela Friedrichsen) berichtet.
Helene Bubrowski (FAZ) hält die Gefahr, dass der Prozess noch platzen könnte, für so groß wie nie zuvor. Das Gericht bewege sich "auf ganz dünnem Eis", wird ein erfahrener Strafverteidiger zitiert. zeit.de (Tom Sundermann) analysiert, dass die Berufung des vierten Pflichtverteidigers Mathias Grasel die Situation nicht beruhigt habe, sondern erst recht habe eskalieren lassen. Annette Ramelsberger (SZ) ist dagegen der Auffassung, dass sich Zschäpe geradewegs selbst entlarvt – als die "hochmanipulative, Strippen ziehende Führungspersönlichkeit", als die sie die Anklage auch darstellt.
LG München – Deutsche-Bank-Prozess: Laut SZ (Stephan Radomsky) nähert sich der Strafprozess gegen fünf ehemalige und amtierende Manager der Deutschen Bank wegen Prozessbetrugs im Zusammenhang mit der Kirch-Pleite "der Kernfrage" – nämlich der nach dem Vorsatz der Angeklagten. Die FAZ meldet, dass der Richter Zweifel am Vorsatz des Angeklagten Fitschen habe.
Das Handelsblatt (Kerstin Leitel) portraitiert den Journalisten Michael Storfner, dessen Interview vor 13 Jahren die Kirch-Prozesse auslöste und der nun als Zeuge vor Gericht aussagte.
LG Berlin – Schleuser-Prozess: Die taz berichtet vom Prozessbeginn gegen einen mutmaßlichen Schleuser syrischer Flüchtlinge vor dem Berliner Landgericht. Er soll als Teil einer internationalen Bande mehr als 300 Menschen von Italien Richtung Norden gebracht haben.
LG Frankfurt/Düsseldorf: Der Insolvenzverwalter des Karstadt-Mutterkonzerns Arcandor, Hans-Gerd Jauch, verklagt die Beratungsunternehmen KPMG und BDO vor den Landgerichten Frankfurt und Düsseldorf auf insgesamt fast 100 Millionen Euro, meldet spiegel.de. Diese hätten die drohende Insolvenz frühzeitig erkennen müssen.
LG Frankfurt – Messe-Streit: Der Streit zwischen dem Ausrichter der Werkzeugbauer-Messe "Euromold", Demat, und der Stadt sowie der Messe Frankfurt eskaliert und wird laut Handelsblatt (Jens Koenen) nun auch das Landgericht beschäftigen: Demat habe nach dem Erwirken einer einstweiligen Verfügung nun auch Klage eingereicht. Hintergrund sei eine Konkurrenz-Messe in Frankfurt, dem früheren Standort der Euromold, die jetzt in Düsseldorf stattfinde.
ArbG Berlin zu sexueller Belästigung: Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz rechtfertigt nicht stets eine fristlose Entlassung. Das hat laut blog.beck.de (Markus Stoffels) das Berliner Arbeitsgericht entschieden.
VG Osnabrück zu AStA-Mandat: In Osnabrück ist ein Jura-Student mit seiner Unterlassungsklage gegen die Studierendenvertretung (AStA) gescheitert. Wie lto.de berichtet, sah das Verwaltungsgericht in der großen Mehrzahl der Fälle keine allgemeinpolitische Betätigung des Gremiums, die der Student untersagt sehen wollte. Bezogen auf wenige Fälle habe das Gericht aber "die orangene Karte" gezeigt. Aufrufe z.B. zu NPD-Gegendemonstrationen seien nicht zulässig.
EuGH zu Patentklagen: Die FAZ beschäftigt sich auf ihrer "Recht und Steuern"-Seite mit dem Patent-Urteil des EuGH im Streit zwischen ZTE und Huawei. Die Rechtsanwälte Oliver Stegmann und Philipp Engelhoven erläutern das Urteil und seine Bedeutung für die Inhaber von Monopol-Patenten.
Recht in der Welt
Tschad – Prozess gegen Ex-Diktator: Der Prozess gegen den ehemaligen Diktator des Tschad, Hissène Habré, ist vom dafür eingerichteten Sondergericht der Afrikanischen Union auf September vertagt worden, um der Verteidigung mehr Vorbereitungszeit zu gewähren. Das melden die FAZ und taz.
Brasilien – Petrobas-Prozesse: Im Zusammenhang mit dem Petrobas-Skandal in Brasilien sind die ersten Urteile verkündet worden. So sind der ehemalige Vorstandsvorsitzende eines Baukonzerns und sein Stellvertreter verurteilt worden. Die Korruptions-Affäre zieht laut FAZ (Carl Moses) wegen der Aussagebereitschaft der auf Strafmilderung hoffenden Angeklagten immer weitere Kreise und sei der "vermutlich größte Korruptionsskandal der brasilianischen Geschichte".
Neuseeland – Klimawandel kein Asylgrund: Das Oberste Gericht der neuseeländischen Hauptstadt Wellington hat letztinstanzlich die Klage eines Bewohners der Pazifik-Insel Kiribati abgewiesen. Laut SZ hatte dieser gegen seine Abschiebung geklagt und sich auf den Klimawandel und den drohenden Untergang seiner Heimat berufen. Voraussetzung für Asyl sei nach der UN-Flüchtlingskonvention aber eine Verfolgung im Heimatland, so das Gericht.
Russland – Ukrainischer Regisseur vor Gericht: In Russland hat ein umstrittener Prozess gegen den ukrainischen Regisseur Oleg Senzow wegen Terrorismusverdachts begonnen. Ihm wird vorgeworfen, auf der Krim eine verbotene Partei gegründet und Anschläge vorbereitet zu haben. Die Welt (Julia Smirnova) berichtet von dem "Schauprozess".
Kambodscha – Haftstrafen gegen Oppositionelle: Laut taz sind in Kambodscha elf Oppositionelle wegen "Aufruhrs" zu langen Haftstrafen verurteilt worden.
Frankreich – Arafat-Ermittlungen: Die ermittelnde Staatsanwaltschaft von Nanterre hat beantragt, die Mordermittlungen zum Tod des Palästinenserführers Jassir Arafat einzustellen. Das meldet die taz.
Sonstiges
Klein ist in: Der "Vormarsch der Boutiquen" ist Thema bei lto.de (Désirée Balthasar): Kleine, hochspezialisierte Anwaltskanzleien machten unter anderem den Großkanzleien zunehmend ihren Platz streitig. Eine Triebkraft: Die Einkaufsabteilungen der auftraggebenden Unternehmen, wo "eben nicht mehr alle Stundensätze abgenickt" würden.
Interpol: Mit einer Reportage aus dem "Maschinenraum der Weltpolizei" wartet die FAZ (Julian Staib) auf. Anlass ist der Besuch einer deutschen Delegation mit Bundesinnenminister de Maizière bei der Interpol-Zentrale in Lyon. Die seit November von dem Deutschen Jürgen Stock als Generalsekretär geleitete Behörde dient dem Informationsaustausch der Polizeien der Mitgliedstaaten.
Germanwings-Absturz: Das Handelsblatt (Jens Koenen) beschäftigt sich im Zusammenhang mit dem Absturz der Germanwings-Maschine mit 150 Toten unter anderem mit Fragen der den Angehörigen zustehenden Entschädigung. Danach biete Lufthansa deutlich mehr an, als das Unternehmen gesetzlich müsste.
Ein Berliner Jura-Professor nimmt den Absturz der Maschine dagegen zum Anlass, ihn zum Thema einer Hausarbeit im Zivilrecht zu machen. Es sei üblich, "Studenten in Hausarbeiten mit aktuellen Fällen zu konfrontieren", sagte er laut FAZ zur Rechtfertigung. Warum also nicht Schadensersatzansprüche zu einer Flugzeugkatastrophe abprüfen?
NSA-Sonderermittler: Mit der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der Einsetzung eines Sonderermittlers durch den NSA-Untersuchungsausschuss beschäftigt sich auf dem Verfassungsblog die Rechtswissenschaftlerin Emma Peters.
Das Letzte zum Schluss
Diebische Friseurin: Das Amtsgericht Frankfurt hat eine Frau wegen gewerbsmäßigen Diebstahls verurteilt, weil diese ihre Kundinnen beim Frisieren um ihren Schmuck erleichtert hatte. Herumgekommen ist die Frau um die Qualifikation des bewaffneten Diebstahls: Weder sie noch ihre Kundinnen hatten zu irgendeinem Zeitpunkt daran gedacht, sie könnte ihre Schere dazu einsetzen, die Beute zu erlangen, berichtet die FAZ (Helmut Schwan) aus der Hauptverhandlung.
Ohne Zugtoilette Schmerzensgeld: Dringend auf Toilette gehen zu müssen und dabei in einem Zug ohne funktionierende Toilette eingesperrt zu sein, ist keine angenehme Situation. Das sah auch das Amtsgericht Trier so und sprach nach lto.de einer Frau einen Schmerzensgeldanspruch gegen die Deutsche Bahn zu, die den toilettenlosen Regionalzug betrieben hatte.
Beiträge, die in der Presseschau nicht verlinkt sind, finden Sie in der Printausgabe oder im jeweiligen E-Paper.
Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.
lto/thd
Was bisher geschah: zu den Presseschauen der Vortage.
Die juristische Presseschau vom 22. Juli 2015: BVerfG kippt Betreuungsgeld – verfassungswidrige Stimmzettel – attraktive Bouti& . In: Legal Tribune Online, 22.07.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/16317/ (abgerufen am: 04.05.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag