Am Landgericht Lüneburg beginnt der vielleicht letzte Auschwitz-Prozess. Kommt das Verfahren gegen den 94-jährigen Angeklagten zu spät? Außerdem in der Presseschau: Papier zu Erbschaftsteuerreform, LG Hamburg verurteilt Heinrich Maria Schulte, Haftbefehl gegen Thomas Middelhoff außer Vollzug, fragwürdige Haar-Analysen in US-amerikanischen Prozessen und ein unpassender Zeitpunkt für eine SMS.
Thema des Tages
Auschwitz-Prozess: Ab dem heutigen Dienstag muss sich ein 94-jähriger vor dem Landgericht Lüneburg wegen Beihilfe zum Mord in mindestens 300.000 Fällen verantworten. Als Mitglied der SS-Wachmannschaft des Konzentrationslagers Auschwitz soll der Angeklagte vor allem während der Deportation von ungarischen Juden im Sommer 1944 zu den damaligen Massentötungen beigetragen haben. Der ausführliche Vorbericht der FAZ (Alexander Haneke) geht auf historische Vorbilder für das jetzige Verfahrens ein und beschreibt es als "Fluch", dass der vom damaligen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer maßgeblich vorangetriebene Prozess vor dem Landgericht Frankfurt/M. 1965 zum "Mythos der konkreten Einzeltat" beigetragen habe.
Aufgrund der schieren Größe des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau folgerte das Landgericht damals, dass nicht jeder SS-Mann an konkreten Tötungen teilgenommen habe und verurteilte nur, soweit solche Taten, etwa als Exzess, nachgewiesen werden konnten. Ob die - zuvor bereits im Prozess gegen John Demjanuk angewandte - Konstruktion der Beihilfe durch Anwesenheit im Lager für eine Verurteilung ausreiche, sei umstritten. Über eine Pressekonferenz von Überlebenden, die im Verfahren als Zeugen auftreten werden, schreibt die SZ (Peter Burghardt).
Heribert Prantl (SZ) bedauert, dass der Prozess keine Erklärung oder Entschuldigung dafür liefern kann, "warum nicht schon vor fünfzig, dreißig oder wenigstens vor zwanzig Jahren verhandelt worden ist". Auch wenn eine Bestrafung nun keinen Sinn mehr ergebe, sei eine im Namen des Volkes ergehende "gerichtliche Feststellung der grausamen Wahrheit" durch die jetzige "Judikatur der letzten Sekunde" von Bedeutung, um "die Negation der unfassbaren Negation des Rechts im Nationalsozialismus fassbar zu machen für alle Zeit."
Rechtspolitik
Flüchtlinge: Angesichts erneuter Todesfälle von Flüchtlingen im Mittelmeer hält Dominic Johnson (taz) eine "sofortige, international koordinierte Evakuierungsaktion" für Insassen libyischer Transitlager für nötig. Eine rechtliche Verpflichtung hierzu bestehe aufgrund der nach dem Völkermord in Ruanda entwickelten völkerrechtlichen Doktrin der Schutzverantwortung.
Streikrecht: Die SZ (Detlef Esslinger) interviewt den stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden der Union im Bundestag, Michael Fuchs, zu einer von ihm mitgetragenen Initiative, das Streikrecht im Bereich der sogenannten Daseinsvorsorge einschränken zu wollen.
Erbschaftsteuer: Hans-Jürgen Papier, früherer Präsident des Bundesverfassungsgericht, hat den gegenwärtigen Entwurf zur Reform der Erbschaftsteuer als unnötig restriktiv kritisiert. Der Gesetzgeber besitze auch angesichts des Urteils des BVerfG vom Dezember letzten Jahres einen großen Spielraum bei der Verschonung von Familien-Unternehmen, so Papier in einem für den Wirtschaftsrat der CDU erstellten Gutachten, aus dem die FAZ (Manfred Schäfers) ausführlich zitiert.
Präventionsgesetz: Wesentliche Teile des von Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) forcierten Präventionsgesetzes sind verfassungswidrig. Zu diesem Schluss gelangt ein Gutachten der Richterin am Hessischen Landessozialgericht, Prof. Astrid Wallrabenstein. Wie die FAZ (Andreas Mihm) schreibt, stelle nach ihrer Einschätzung or allem die im Entwurf vorgesehene Übertragung von Präventionsaufgaben und -finanzierung auf die Krankenkassen eine Kompetenzüberschreitung des Bundes dar.
Justiz
Kritik am BVerfG: Auch zeit.de (Lisa Caspari) geht nun auf jüngst aus Unionskreisen geäußerte Kritik an vermeintlicher politischer Einflussnahme durch das Bundesverfassungsgericht ein. Neben einer Darstellung der Argumente zählt der Beitrag historische Vorbilder aus anderen politischen Lagern auf.
DGH zu richterlicher Unabhängigkeit: Der von einer Gerichtspräsidentin ausgesprochene Vorhalt unterdurchschnittlicher Erledigungszahlen und die damit verbundene Aufforderung, schneller zu arbeiten, verstößt nicht gegen die richterliche Unabhängigkeit. Dies entschied am vergangenen Freitag der Dienstgerichtshof für Richter in Stuttgart. Über Entscheidung und Verfahren berichtet lto.de (Pia Lorenz).
LG Hamburg zu Heinrich Maria Schulte: Wegen Veruntreuung von mehr als 147 Millionen Euro aus dem Vermögen von Immobilienfonds hat das Landgericht Hamburg den Arzt Heinrich Maria Schulte zu achteinhalb Jahren Haft verurteilt. Schulte bleibt in Untersuchungshaft, schreibt die FAZ (Carsten Germis/Joachim Jahn), es werde erwartet, dass die Vertreter der "schillernden Persönlichkeit" Revision einlegen. Das Handelsblatt (Gertrud Hussla) befragt einen der geschädigten Anleger zu Bemühungen, das veruntreute Geld zurückzuerlangen.
Joachim Jahn (FAZ) macht darauf aufmerksam, dass die Verurteilung auch zivilrechtliche Folgen nach sich ziehe. Geschädigte Anleger und Insolvenzverwalter versuchten, "nach dem Prinzip der "tiefen Taschen", von der Wirtschaftskanzlei Bird & Bird, die Schulte beraten hatte, mehr als 130 Millionen Euro Ersatz zu erlangen. Weil Berufshaftpflichtversicherer für vorsätzlich begangene Straftaten nicht aufkämen und im Zivilrecht auch keine "strenge Unschuldsvermutung" gelte, sei die Forderung "selbst für eine internationale Beratersozietät starker Tobak."
LG Essen – Thomas Middelhoff: Das Landgericht Essen hat mitgeteilt, dass der gegen den nach wie vor nicht rechtskräftig verurteilten Thomas Middelhoff verhängte Haftbefehl gegen Auflagen außer Vollzug gesetzt worden ist. Der Manager müsse eine Kaution zahlen, seinen Pass abgeben und Meldeauflagen erfüllen, schreibt die SZ (Hans Leyendecker).
Udo Vetter (lawblog.de) berichtet aus zweiter Hand von einer Mitteilung des nordrhein-westfälischen Justizministerium, nach der für die jetzige Entscheidung Middelhoffs Erkrankung nicht ausschlaggebend gewesen sei. Vielmehr dürfe die Untersuchungshaft nicht außer Verhältnis zur verhängten Strafe stehen. Dass bei einer Verurteilung zu drei Jahren Freiheitsentzug die Untersuchungshaft "geradezu zwangsläufig unverhältnismäßig wird, hätte man also problemlos" bei der Urteilsverkündung absehen können. Es sei demnach fraglich, "wieso es überhaupt zu einer Inhaftierung" kam.
LG Bonn zu Verzweiflungstat: Wegen Totschlags in einem minder schweren Fall hat das Landgericht Bonn einen 85-jährigen zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Wie die FAZ (Reiner Burger) schreibt, wollte der Rentner mit einem Verkehrsunfall seine demente und pflegebedürftige Ehefrau und sich selbst töten, weil er befürchtete, aufgrund eigener Gebrechen seiner Gattin nicht mehr zur Seite stehen zu können. Die ursprüngliche Anklage wegen heimtückischen Mordes wurde von der Anklagebehörde wegen der besonderen Umstände fallengelassen.
LG Bielefeld – Tönnies: Über die Fortsetzung des innerfamiliären Streits zwischen Robert und Clemens Tönnies vor dem Landgericht Bielefeld berichtet die Welt (Carsten Dierig). Sowohl der klagende Neffe Robert Tönnies als auch dessen beklagter Onkel Clemens Tönnies hätten sich nach einer zweieinhalbstündigen Beweisaufnahme in ihrer jeweiligen Rechtsansicht zur Schenkung von Vermögensanteilen am Fleischkonzern der Familie bestätigt gesehen. Das Verfahren wird im September fortgesetzt.
LG Frankfurt – Spielerberater: Eine Berateragentur hat beim Landgericht Frankfurt/M. eine einstweilige Verfügung gegen das vom Deutschen Fußball-Bund neu erlassene Reglement für Spielerberater beantragt. Nach Bericht der FAZ (Michael Ashelm) macht die Antragstellerin einen unzulässigen Eingriff in die Dienstleistungsfreiheit und einen Missbrauch der marktbeherrschenden Stellung des Verbandes geltend.
AG Altenburg – Einschlafhilfen: Vor dem Amtsgericht Altenburg müssen sich vier Erzieherinnen unter anderem wegen der Misshandlung Schutzbefohlener verantworten. Ihnen wird vorgeworfen, Kita-Schützlinge zum Zweck der "Einschlafhilfe" festgeschnürt und fixiert zu haben. Weil durch die Beweisaufnahme nicht belegt werden konnte, dass die Praxis den Kleinkindern geschadet habe, sei nach der Einschätzung des mit der Sache befassten Richters ein Freispruch zu erwarten. Die SZ (Cornelius Pollmer) berichtet.
StA Osnabrück – Anklage gegen Staatsanwalt: Nach Bericht der taz-Nord hat die Staatsanwaltschaft Osnabrück Anklage gegen einen früheren Oberstaatsanwalt aus Oldenburg wegen Strafvereitelung im Amt und Rechtsbeugung erhoben. Er soll im Verfahren gegen den wegen mehrfachen Mordes verurteilten, ehemaligen Krankenpfleger Niels H., unzureichend ermittelt haben.
Recht in der Welt
Griechenland – Goldene Morgenröte: Der in Griechenland gegen 69 Mitglieder der rechtsextremen Partei Goldene Morgenröte wegen Gründung einer kriminellen Vereinigung angestrengte Prozess ist unmittelbar nach Eröffnung bis zum Mai vertagt worden. Einer der Angeklagten habe keinen Rechtsbeistand besessen, schreibt die SZ (Luisa Seeling) in einem Beitrag, der die zahlreichen Vorwürfe zusammenfasst.
USA – Haarproben: Eine Spezialeinheit des FBI hat sich über mehrere Jahrzehnte bei der Analyse von Haar-Proben auf wissenschaftlich fragwürdige Methoden gestützt, schreibt die SZ (Nicolas Richter). Eine von einer Strafverteidiger-Vereinigung und einem privaten Projekt angestoßene Untersuchung habe ergeben, dass auf Grundlage dieser unzulänglichen Beweise 32 Todesurteile ausgesprochen wurden, von denen einige auch vollstreckt wurden.
Nach Meinung von Astrid Dörner (Handelsblatt) rütteln die Erkenntnisse "an den Grundfesten der Justiz". Denn das Justizministerium des Landes soll bereits in den 90er Jahren über Ungenauigkeiten der verwendeten Methoden unterrichtet gewesen sein.
Sonstiges
Völkermord: Christian Rath (taz) kommentiert, dass die Grundlage der Auseinandersetzung um die Anerkennung der Massaker an Armeniern im Osmanischen Reich 1915 nicht die Forderung nach Reparationen sei. Ein völkerrechtlicher Anspruch auf Entschädigungen für erlittenes Unrecht existiere nicht und könne auch "nirgends eingeklagt werden." Vielmehr ginge es den Armeniern um "schlichte Anerkennung", der Türkei dagegen um ein möglichst reines Geschichtsbild, im Kern also auf beiden Seiten "um Geschichtspolitik und nationale Identität."
Germanwings-Unglück: Über die Bemühungen des Rechtsanwalts Elmar Giemulla, für von ihm vertretene Hinterbliebene des Germanwings-Unglücks von der Lufthansa eine Entschädigung von einer Million Euro für jedes Todesopfer zu erwirken, schreibt die FAZ (Helene Bubrowski). Der Beitrag geht zudem auf die Bemessungsgrundlagen der Höhe von Schmerzensgeldansprüchen ein. Dass die vom Anwalt angedachte Verbindung der von ihm vertretenen Ansprüche mit solchen von US-amerikanischen Anspruchstellern vor einem dortigen Gericht möglich wäre, stellt IPR-Blog.de (Jannik Krone) in Abrede. Der diesbezüglich einschlägige Art. 33 des Montrealer Übereinkommens regele die hier maßgebliche Zuständigkeit deutscher Gerichte abschließend.
Gerichtsdolmetscher: Einer Schätzung zufolge kommen in jedem fünften deutschen Gerichtsverfahren Dolmetscher zum Einsatz. lto.de stellt die anspruchsvolle Tätigkeit der Gerichtsdolmetscher, zu der neben Sprach-Übertragung auch die Vermittlung zwischen oftmals verschiedenen Rechtskulturen gehört, vor.
Das Letzte zum Schluss
Revisionsgrund SMS: Lehrer und vielleicht auch Uni-Dozenten können sicherlich ein Lied davon singen, dass ihre Zuhörer durch extensive Telefonnutzung abgelenkt werden. Auf eine neue Konstellation weist Rechtsanwalt Carsten R. Hoenig (kanzlei-hoenig.de) hin. Nach einer Pressemitteilung des Bundesgerichtshofs wird in einem dort anhängigen Revisionsverfahren geltend gemacht, dass eine beisitzende Richterin während laufender Hauptverhandlung "über einen Zeitraum von 10 Minuten mehrfach ihr Mobiltelefon bedient hatte." Die Richterin habe dies auch eingeräumt, jedoch angegeben, dass sie hierdurch "nicht wesentlich in ihrer Aufmerksamkeit eingeschränkt gewesen" sei. Der Autor prognostiziert, dass die Karriere der Richterin "eher nicht steil nach oben zeigen" wird.
Beiträge, die in der Presseschau nicht verlinkt sind, finden Sie nur in der heutigen Printausgabe oder im kostenpflichtigen E-Paper des jeweiligen Titels.
Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.
lto/mpi
Was bisher geschah: zu den Presseschauen der Vortage.
Die juristische Presseschau vom 21. April 2015: Späte Sühne - Teure Untreue - Unverhältnismäßige U-Haft . In: Legal Tribune Online, 21.04.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/15295/ (abgerufen am: 28.04.2024 )
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