Recht auf Vergessen I und II (plus X), Mietenbremse, Wellnessurlaub mit NPD-Mann, ein "Hexenprozess", Schweigerecht für Eltern, Stiefkindadoption, Hartz-IV-Sanktionen, und ein heimlicher Eingriff auf der Autobahn: Nur eine Auswahl wichtiger BVerfG-Entscheidungen.
1: Recht auf Vergessen: BVerfG prüft auch europäische Grundrechte
Man könnte auch sagen, dass diese unbedingte Lektüreempfehlung gleich vier wichtige BVerfG-Entscheidungen des Jahres 2019 umfasst. Denn in den zwei jeweils rund 150 Randnummern starken Beschlüssen zum "Recht auf Vergessen" steckt genug Stoff für mindestens noch weitere zwei Entscheidungstexte. Es geht in den Beschlüssen nämlich nicht nur um die Verantwortung für das "Vergessen" von personenbezogenen Informationen im Internet durch Suchmaschinen und Online-Archive. Daneben enthalten beide Beschlüsse auch noch ganz grundsätzlich Aussagen zum Verhältnis von BVerfG und EuGH bei der Grundrechtsprüfung (Beschl. v. 6.11.2019, Az: 1 BvR 16/13 u. 1 BvR 276/17).
Bei "Recht auf Vergessen I" hat das BVerfG betont, dass es in Regelungsbereichen, die nicht durch Europarecht vollharmonisiert sind, weiterhin primär die deutschen Grundrechte als Maßstab ansieht. Wo es also deutschen Umsetzungsspielraum gibt, wirkt die Grundrechtsvielfalt. Platz für eine Prüfung der Grundrechte der EU-Charta sehen die Richter nur dann, wenn das Schutzniveau des Grundgesetzes gegenüber der Charta zurückbleibt. Das dürfte ganz regelmäßig nicht der Fall sein, aber diese Aussage ist in jedem Fall eine gute Nachricht für alle Grundrechtsträger in Deutschland sein: Über sie legt sich eine umfassend schützende Grundrechtsdecke.
Die zweite Entscheidung "Recht auf Vergessen II" hat es europarechtlich mehr in sich. Denn das BVerfG stellt fest und führt sogleich auch aus, EU-Chartagrundrechte unmittelbar selbst zu prüfen, wenn es sich um einen vollharmonisierten Regelungsbereich handelt. Das bedeutet eine deutliche Zäsur gegenüber der bisherigen BVerfG-Rechtsprechung. Bisher war das Aufgabe des EuGH. Und damit hat sich das BVerfG auch für die Zukunft einen festen Platz im europäischen Grundrechtsverbund gesichert. Die Folgen vor allem dieser zweiten Entscheidung des Ersten Senats werden Gerichte, Rechtssuchende und Wissenschaftler noch eine ganze Weile beschäftigen.
Während in den beiden vom BVerfG entschiedenen Fallkonstellation kein echtes Konfliktpotential steckte für ein Kräftemessen zwischen dem EuGH und dem BVerfG, dürfte es auch abzuwarten bleiben, wie harmonisch zukünftige Konstellation zwischen Luxemburg und Karlsruhe verarbeitet werden.
2: Hartz IV: Fördern und Fordern – und Sanktionen
Wer als Arbeitsloser ein Jobangebot oder eine Fördermaßnahme ablehnt oder abbricht, dem wurden bislang beim ersten Mal nach § 31a Sozialgesetzbuch (SGB) II die Leistungen um 30 Prozent gekürzt, beim zweiten Mal um 60 Prozent, bei weiteren Weigerungen entfällt die Leistung ganz.
Der Erste Senat des BVerfG hält die Sanktionen grundsätzlich für verfassungsgemäß, er begrenzt ihre Höhe aber auf eine 30-prozentige Kürzung (Urt. v. 05.11.2019, Az. 1 BvL 7/16). Die stärker einschneidenden Kürzungen seien verfassungswidrig.
Die Richter betonten, dass das menschenwürdige Existenzminimum "einheitlich" geschützt werde. Die Kürzung könne also nicht dadurch gerechtfertigt werden, dass nur "Randbereiche" des Existenzminimums betroffen werden.
3: Hausverbot: Keine Wellness mit dem Mann von der NPD
Der ehemalige NPD-Vorsitzende Udo Voigt scheiterte im August nach langem Rechtsstreit um sein Hausverbot in einem brandenburgischen Wellnesshotel auch vor dem BVerfG (Beschl. v. 27.08.2019, Az. 1 BvR 879/12). Im Dezember 2009 hatte er mit seiner Frau vier Tage in Bad Saarow am Scharmützelsee verbringen wollen. Das Hotel bestätigte die Buchung zunächst, schrieb ihm aber später, dass ein Aufenthalt nicht möglich sei. Als Voigt nachhakte, erteilte ihm das Hotel ein Hausverbot. Seine politische Überzeugung sei nicht mit dem Ziel des Hauses vereinbar, jedem Gast ein exzellentes Wohlfühlerlebnis zu bieten.
Die Karlsruher Richter nahmen Voigts Verfassungsbeschwerde gar nicht erst zur Entscheidung an. Weder aus dem allgemeinen Gleichheitssatz noch den speziellen Gleichheitsrechten aus Art. 3 GG ergebe sich im Wege der mittelbaren Drittwirkung ein allgemeiner Grundsatz, wonach auch private Rechtsbeziehungen prinzipiell gleichheitsgerecht ausgestaltet werden müssten, so die Richter.
Grundsätzlich könne jede Person frei darüber entscheiden, mit wem sie wann und unter welchen Bedingungen welche Verträge abschließe und wie sie hierbei von ihrem Eigentum Gebrauch machen wolle, erläutert das BVerfG. Ausnahmen davon, wie der Ausschluss vom gesellschaftlichen Leben oder das Ausnutzen einer Monopolstellung, lägen nicht vor.
4: Mietpreisbremse soll weiter bremsen
Es ist ein Dauerthema für alle, die in Ballungsräumen wohnen: steigende Mieten und Verdrängung. Während die politische Diskussion 2019 vor allem im Zeichen des "Mietendeckels" stand, hatte das BVerfG zur bereits 2015 eingeführten "Mietpreisbremse" gem. § 556d BGB zu entscheiden. Das Instrument ist ein sozialpolitisches Prestige-Projekt der SPD. Nach der Norm darf die Miete in Gebieten mit einem angespannten Wohnungsmarkt die ortsübliche Vergleichsmiete höchstens um zehn Prozent übersteigen. Die Länder wurden gleichzeitig ermächtigt, für eine Dauer von fünf Jahren solche Gebiete mit einer Rechtsverordnung auszuweisen und dort die Mietpreisbremse in Kraft zu setzen.
Die Vorlagen sahen die Karlsruher Richter als unzulässig an, die Verfassungsbeschwerde nahmen sie nicht zur Entscheidung an (Beschl. v. 18.07.2019, Az. 1 BvL 1/18, 1 BvL 4/18, 1 BvR 1595/18). Zwar gebe es einen Eingriff in das Eigentumsrecht nach Art. 14 GG, der sei aber gerechtfertigt, entschied das BVerfG. Denn, so die Richter, "der gesetzgeberische Zweck, durch die Begrenzung der Miethöhe bei Wiedervermietung der direkten oder indirekten Verdrängung wirtschaftlich weniger leistungsfähiger Bevölkerungsgruppen aus stark nachgefragten Wohnquartieren entgegenzuwirken, liegt im öffentlichen Interesse".
5: "Hexenprozess" am Amtsgericht – Schmähkritik vor dem BVerfG?
Was müssen sich Politiker gefallen lassen, und wie weit geht die Meinungsfreiheit? Die Grünen-Politikerin Renate Künast scheiterte beim Landgericht Berlin mit ihrem zivilrechtlichen Versuch, an die Daten von Internetnutzern zu gelangen, die sie vorher im Netz übel beschimpft hatten. Das LG sah in den Facebook-Kommentaren keine strafbaren Beleidigungen und berief sich insbesondere auch auf die Rechtsprechung des BVerfG zum Äußerungsrecht – möglicherweise aber mit einem Missverständnis.
Das BVerfG hatte im Juni dieses Jahres seine Maßstäbe auf diesem Gebiet noch einmal aktualisiert (Beschl. v. 14.06.2019, Az. 1 BvR 2433/17). Der Kläger in einem Zivilprozess hatte beim Amtsgericht gemeint, das Verfahren erinnere ihn stark an "einschlägige Gerichtsverfahren vor ehemaligen nationalsozialistischen deutschen Sondergerichten" und "eher an einen mittelalterlichen Hexenprozess als ein nach rechtsstaatlichen Grundsätzen geführtes Verfahren". Die 2. Kammer des Ersten Senats beim BVerfG hatte darüber zu entscheiden, ob es sich bei den Aussagen um eine strafbare Beleidigung handelt.
Das BVerfG mahnte an, dass eine Aussage nicht vorschnell als Schmähkritik bewertet werden dürfe. Denn als Konsequenz dieser Vorentscheidung findet dann keine Abwägung mehr statt - eine aus grundrechtlicher Sicht einschneidende Folge. Solange also ein Bezug zu einer Sachauseinandersetzung bestehe und sich die Äußerungen nicht auf bloße persönliche Herabsetzung beschränkten, seien sie auch nicht als Schmähung einzustufen. Sie könnten dann nur nach einer umfassenden Abwägung mit der Meinungsfreiheit als Beleidigung bestraft werden.
Aber genau diesen zweiten Schritt hatte die Zivilkammer am LG Berlin in der Künast-Entscheidung versäumt.
6: Schweigende Eltern haften für ihre Kinder im Netz
Eines der Kinder in einer fünfköpfigen Familie hatte im Internet illegal Musik der Sängerin Rihanna zum Download angeboten. Auf Nachfrage des Musikkonzerns, der eine Urheberrechtverletzung sah, wollten die Eltern nicht sagen, welches ihrer volljährigen Kinder die Musik angeboten hat. Sie beriefen sich auf Art. 6 GG, den Schutz der Familie. Damit scheiterten sie beim BVerfG (Beschl. v. 18.02.2019, Az. 1 BvR 2556/17). Bereits der BGH hatte entschieden: Zwar dürfen die Eltern schweigen, dann sei es aber auch in Ordnung, wenn sie als Anschlussinhaber wegen Schadensersatz in Anspruch genommen werden.
7: Stiefkindadoption: Stabile Beziehungen gibt es auch ohne Ehe
Stabile Beziehungen kann es auch ohne die Ehe geben. Anfang Mai entschied das BVerfG zur Stiefkindadoption (Beschl. v. 26.03.2019, Az. 1 BvR 673/17). Nach der bisherigen Rechtslage ist die nur möglich, wenn der Stiefelternteil mit dem rechtlichen Elternteil verheiratet ist. Den vollständigen Ausschluss der Stiefkindadoption allein in nichtehelichen Familien halten die Richter des Ersten Senats für verfassungswidrig.
Wenn in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft ein Stiefelternteil die Kinder des anderen nicht adoptieren kann, ohne dass die Verwandtschaft zu dem bisherigen Elternteil erlischt, dann stellt diese Gesetzeslage einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes dar. Bis zum 31. März 2020 muss der Gesetzgeber eine Neuregelung schaffen.
8: Heimlicher Eingriff auf der Autobahn
Es ist seit Jahren eine ständige Praxis der Gefahrenabwehr. Einige Bundesländer erfassen auf bestimmten Strecken automatisch die Kennzeichen der vorbeifahrenden Fahrzeuge. Die Kennzeichen werden dann mit Fahndungsdaten abgeglichen.
Die Richter des BVerwG in Leipzig hatten 2014 zu dieser Praxis zu entscheiden und konnten sich noch ausdrücklich auf die Vorgaben aus Karlsruhe berufen. Denn im Jahr 2008 hatte das BVerfG entschieden, dass bei einer automatischen Kfz-Kennzeichenüberwachung erst dann ein Eingriff vorliege, wenn nach der Erfassung auch ein Treffer mit der Fahndungsdatenbank erfolgt. Die Leipziger Richter sahen 2014 deshalb für eine Klage eines bayrischen Informatikers gegen den Kennzeichenabgleich schon gar keinen Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, Art. 2 Abs. 1 iVm Art. 1 Abs. 1 GG.
Das BVerfG verpasste nun seinem eigenen 2008er Urteil ein Update (Beschl. v. 18.12.2018, Az. 1 BvR 142/15 und 1 BvR 3187/10). Der Erste Senat nennt die Entscheidung in den Leitsätzen selbst "Kfz-Kennzeichenkontrollen 2". Das Erfassen von Kfz-Nummernschildern zum Abgleich mit Fahndungsdateien ist doch ein Grundrechtseingriff, entschieden die Richter. Also das bloße optische Erfassen genügt für den Grundrechtseingriff, auch wenn die Daten gleich wieder gelöscht werden. Damit dürfte es Bürgern in Zukunft in Karlsruhe leichter fallen, auch andere heimliche Überwachungsmaßnahmen verfassungsgerichtlich überprüfen zu lassen – auch wenn sie nicht sicher sein können, ob sie tatsächlich selbst betroffen sind. Die Landespolizeigesetze in Bayern, Baden-Württemberg und Hessen müssen nun nachgebessert werden.
Sollten Juristen kennen: 9 wichtige BVerfG-Entscheidungen 2019 . In: Legal Tribune Online, 27.12.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/39415/ (abgerufen am: 03.05.2024 )
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