Das Mitbestimmungsgesetz wird bald 40, doch gut 800.000 Arbeitnehmer haben laut einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung nichts zu feiern. Wie das Gesetz entstanden ist, und warum es sich heute leicht umgehen lässt, erklärt Thomas Gennert.
Das Mitbestimmungsgesetz (MitBestG) trat am 4. Mai 1976 in Kraft. Die Beteiligung von Arbeitnehmern auf Ebene des Unternehmensträgers war zuvor gleichwohl nicht unbekannt, sondern fand sich bereits im Betriebsverfassungsgesetz von 1952, dem Vorgänger des heutigen Drittelbeteiligungsgesetzes (DrittelbetG), sowie seit 1957 für die Montanindustrie im Montanmitbestimmungsgesetz. Neu am MitBestG war die branchen-unabhängige paritätische Mitbestimmung der Arbeitnehmervertreter, die nun das jeweilige unternehmerische Kontrollgremium zur Hälfte besetzten.
Bedenken im Hinblick auf die Eigentumsgarantie des Art. 14 GG trat das Bundesverfassungsgericht 1979 entgegen und stellte fest, dass das Mitbestimmungsgesetz jedenfalls nicht zu einer "Überparität" der Arbeitnehmer(-vertreter) führe. An der Grundkonzeption des Mitbestimmungsgesetzes hat sich bis zum heutigen Tag praktisch nichts geändert. Kleinere Reformen gab es jedoch immer wieder, zuletzt wurden die Regeln zur sog. "Frauenquote" in das Gesetz integriert.
Inhalt der sogenannten Unternehmensmitbestimmung
Unter Unternehmensmitbestimmung versteht man im Gegensatz zu betrieblicher Mitbestimmung, die durch Betriebsräte verwirklicht wird, die Beteiligung von Arbeitnehmern in den Kontrollgremien auf Unternehmensebene. Der (mitbestimmte) Aufsichtsrat ist an vielen wichtigen Geschäften des Unternehmens beteiligt, sei es bei wichtigen Personalentscheidungen (etwa der Bestellung eines Geschäftsführers oder eines Vorstands), wichtigen Kapitalmaßnahmen oder anderen Gegenständen, bei denen die Entscheidung des Aufsichtsrats erforderlich ist. Zudem hat er die Geschäftsführung des Unternehmens zu kontrollieren.
Diese weitreichenden Einflussmöglichkeiten sind nicht jedem Unternehmen wilkommen. Insbesondere dann, wenn noch gar kein Aufsichtsrat besteht, ist dessen Errichtung mit nicht unerheblichem Aufwand und Kosten verbunden, denn es müssen Wahlen für die Arbeitnehmervertreter nach einem bestimmten Verfahren durchgeführt werden. Auch die Vorbereitung und Durchführung der Aufsichtsratssitzungen bringt einen nicht zu unterschätzenden Verwaltungsaufwand mit sich. Zudem kann gerade bei Familienunternehmen der unerwünschte Effekt eintreten, dass die Belegschaft durch die Beteiligung im Aufsichtsrat Einblick etwa in die konkrete Ertragslage des Unternehmens oder die Bezüge der Geschäftsführung erhält, was die Familie vor der Belegschaft lieber verborgen hätte.
Studie: Über 800.000 Beschäftigte von Umgehung betroffen
So manches Unternehmen entzieht sich deshalb den Mitbestimmungsregeln – nach einer aktuellen Studie der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung werden so mehr als 800.000 Beschäftigte um ihr Mitspracherecht im Hinblick auf die paritätische Mitbestimmung gebracht. Die Untersuchung betont vor allem die Vielzahl der Umgehungsmöglichkeiten.
Ein naheliegender Weg führt über die Wahl der "passenden" Rechtsform: Ein Blick ins MitBestG offenbart, dass sowohl die "klassischen" Kapitalgesellschaften wie die GmbH und die Aktiengesellschaft als auch Genossenschaften und Kommanditgesellschaften auf Aktien erfasst sind. Dieser "numerus clausus" der Rechtsformen wird aus dem Bereich der Personengesellschaften (GbR und OHG) nur durch die besonders aus steuerlichen Gründen beliebte Kapitalgesellschaft & Co. KG durchbrochen, bei der die Arbeitnehmer der Kommanditgesellschaft deren persönlich haftendem Gesellschafter zugerechnet werden. Darüber hinaus findet eine Zurechnung von Arbeitnehmern im Konzern statt. Bei all diesen Sonderkonstellationen ist gleichwohl immer der numerus clausus der Rechtsformen zu beachten.
Briefkastenfirma schlägt Mitbestimmungsgesetz
Es liegt daher auf der Hand, dass durch Gebrauch anderer Rechtsformen die Mitbestimmung ganz legal und ohne Rechtsverstoß ausgeschaltet werden kann. Hierbei kommt den "mitbestimmungsunwilligen" Unternehmen insbesondere der Umstand entgegen, dass der EuGH den BGH zur Wahrung der unionsrechtlichen Niederlassungsfreiheit zur Anwendung der sogenannten "Gründungstheorie" verpflichtet hat. Diese besagt, dass auf die jeweilige Gesellschaft grundsätzlich das Recht ihres Gründungsstaates anzuwenden ist.
Begibt sich beispielweise eine Limited (ähnlich einer GmbH) aus London nach Deutschland, so ist auf diese zum einen gesellschaftsrechtlich englisches Recht anzuwenden, zum andern fällt sie nicht unter das Mitbestimmungsgesetz. Beispiele für derartige Konstruktionen gibt es zuhauf, und werden auch von der Böckler-Stiftung benannt: Ob man nun eine österreichische GmbH oder eine deutsche Stiftung in Kombination mit einer deutschen KG oder auch für sich allein oder aber gleich eine niederländische B.V. verwendet – all diesen Konstruktionen ist gemein, dass sie nicht vom Mitbestimmungsgesetz erfasst werden. Mit anderen Worten lässt sich derzeit mit einer der heiß diskutierten Briefkastenfirmen das komplette Konzept der deutschen Mitbestimmung auf legalem Weg umgehen.
Da die verschiedenen ausländischen Rechtsformen in ihren Strukturen mit den inländischen jedoch durchaus vergleichbar sind, wurde und wird dafür plädiert, die Regeln des MitBestG entsprechend auf diese Rechtsformen anzuwenden. Die Rechtsprechung ist dem bislang nicht gefolgt.
2/2: Zurechnung von Arbeitnehmern im (EU-)Ausland?
Ein andere in diesem Zusammenhang auftretende Frage wird durch die Gerichte in jüngerer Zeit hingegen uneinheitlich beurteilt. Bisher waren bei Zurechnung der Arbeitnehmerzahlen im Konzern lediglich die Arbeitnehmer, die im Inland beschäftigt sind, bei den Wahlen ihrer Vertreter und auch bei der Berechnung der Gesamtzahl der Arbeitnehmer zu berücksichtigen. Begründet wurde dies mit dem sog. "Territorialitätsprinzip", das besagt, dass deutsches Recht seine zwingende Wirkung an der Grenze zu anderen (EU-)Staaten verliert.
Das Landgericht Frankfurt a.M. hingegen entschied vergangenes Jahr im Statusverfahren gegen die Deutsche Börse AG, dass im Ausland Beschäftigte an der Wahl der Arbeitnehmervertreter zum Aufsichtsrat zu beteiligen (und entsprechend bei der Berechnung der Schwellen des MitBestG zu berücksichtigen!) seien (Beschl. v. 16.02.2015, Az. 3-16 O 1/14). Das Kammergericht Berlin hat das Problem im Statusverfahren gegen die TUI AG nun sogar dem EuGH vorgelegt (Beschl. v. 06.10.2015, Az. 14 W 89/15). Gerade in dieser für grenzüberschreitende Unternehmen sehr wichtigen Frage ist also noch nicht das letzte Wort gesprochen.
Politik lässt Umgehung bewusst zu
Die Studie der Böckler-Stiftung weckt den Anschein, die deutsche Wirtschaft verfüge bei der Umgehung von Gesetzen über eine düstere Kreativität. Hierbei ist jedoch zu beachten, dass dem Gesetzgeber die Möglichkeiten zur Umgehung des MitBestG seit vielen Jahren bekannt und bewusst sind. Ihm wäre es, einen entsprechenden politischen Konsens vorausgesetzt, ein Leichtes, das MitBestG und die mit ihm verwandten Normen dahingehend zu modifizieren, dass auch mit den "numerus clausus-Gesellschaften" vergleichbare Rechtsformen erfasst würden.
Seine Entscheidung, dies (bislang) nicht zu tun, ist grundsätzlich hinzunehmen. Auch muss man anerkennen, dass es nachvollziehbare Gründe geben mag, die gegen die Etablierung mitbestimmter Aufsichtsräte sprechen. Insbesondere im Hinblick darauf, dass es in Konzernsituationen zur Errichtung einer Vielzahl von mitbestimmten Aufsichtsratsgremien kommen kann, ist es verständlich, wenn Unternehmen den damit verbundenen Aufwand scheuen.
Erfolgsmodell SE – Konzerne setzen auf flexible Mitbestimmung
Einen Kompromissweg geht hier die Rechtsform der Societas Europaea ("SE"), die gleichfalls nicht vom deutschen Mitbestimmungsrecht erfasst wird. Für diese europäische Form der Kapitalgesellschaft sehen deren gesellschaftsrechtliche Normen vor, dass zusammen mit den Arbeitnehmervertretern in einem sog. besonderen Verhandlungsgremium eine Verständigung auf eine bestimmte (und dann verbindliche) Form der Unternehmensmitbestimmung erfolgen soll. Kommt eine solche Verständigung nicht zustande, werden diejenigen Mitbestimmungsrechte, die für das Unternehmen zum Zeitpunkt der Umwandlung in eine SE galten "eingefroren". Das heißt, auch wenn die Arbeitnehmerzahl sich später stark erhöht und somit eigentlich das MitBestG anstelle des DrittelBetG anwendbar wäre, bleibt es bei der Anwendung der Regeln des DrittelbetG.
Das Konzept kommt bei den deutschen Großkonzernen augenscheinlich an: Unter den DAX-30 und TecDax Unternehmen firmieren inzwischen je sieben, beim MDAX und beim SDax je acht Unternehmen als SE. Es ist daher nicht auszuschließen, dass eine flexiblere Handhabung der Regelungen der Unternehmensmitbestimmung, etwa durch die Einführung flächendeckender Verhandlungslösungen, zu einer größeren Akzeptanz der Regeln zur Mitbestimmung führen könnte. Hiernach sieht es allerdings im Moment mangels entsprechenden politischen Konsenses ebenfalls nicht aus. Vielmehr wird sich das MitBestG in näherer Zukunft wohl zunächst nur auf geringfügige Änderungen einstellen müssen – ganz so, wie man das nach einem 40. Geburtstag auch erwartet.
Der Autor Dr. Thomas Gennert ist Rechtsanwalt im Düsseldorfer Büro von McDermott Will & Emery Rechtsanwälte und Steuerberater LLP. Er ist Mitglied der deutschen Praxisgruppe Arbeitsrecht.
Dr. Thomas Gennert, Arbeitnehmervertretung in Kontrollgremien: Mid-Life-Crisis der Mitbestimmung? . In: Legal Tribune Online, 27.04.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/19221/ (abgerufen am: 03.05.2024 )
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