Für von der Abschiebung bedrohte Flüchtlinge liegt die letzte Hoffnung oftmals nicht bei den Gerichten, sondern in sozusagen himmlischer Instanz. Gewährt eine Kirche ihnen "Asyl" in ihren Räumen, sind sie vor behördlichem Zugriff bis auf Weiteres sicher. Doch die milde Tat ist mit dem geltenden Recht kaum überein zu bringen – und erntet deutlichen Widerspruch aus der Politik.
Mit ihren vier Kindern verbrachte eine Mutter Ende 2014 zwei Monate im Kirchenasyl in Marburg. Dort erhielt sie von der Gemeinde der Elisabethkirche, was zuvor oft gefehlt hatte: Wärme, Essen, Kleidung, ein Dach über dem Kopf. Spenden waren willkommen, Gespräche mit der Familie erst recht. Der Ehemann und Vater der Kinder war zuvor in einem anderen EU-Mitgliedstaat verhaftet und abgeschoben worden. Die Mutter und die Kinder konnten weiter fliehen – nach Deutschland.
Doch eigentlich hätte ihr Aufenthalt dort nicht lange währen sollen. Die Dublin-III-Verordnung sieht vor, dass derjenige Mitgliedstaat, in dem ein asylsuchender Mensch zuerst das Gebiet der EU betritt, für das Asylverfahren zuständig ist. Meist sind das die Länder an den Außengrenzen wie etwa Griechenland, Italien oder Malta. Gelangen die Asylanten von dort aus auf deutschen Boden, müssen sie in das Einreiseland "überstellt" werden, wie es im Amtsdeutsch heißt.
Die Frist zur Überstellung beträgt im Allgemeinen sechs Monate. Wenn bis dahin eine Überstellung nicht erfolgen kann, geht die Zuständigkeit für das weitere Asylverfahren auf Deutschland über. Diese Frist kann das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) jedoch auf maximal 18 Monate verlängern, wenn der Betroffene flüchtig ist.
Frist zur Überstellung: Bald 18 statt 6 Monate?
Von dieser Möglichkeit werde das BAMF womöglich in Zukunft Gebrauch machen, "wenn sich der Antragsteller in Kirchenasyl begibt, statt sich an dem von der Ausländerbehörde benannten Ort für die Überstellung einzufinden", erklärt Behördensprecherin Katrin Hirseland. Das würde es für die Gemeinden weitaus aufwändiger und teurer machen, Flüchtlinge bis zum Fristablauf zu beherbergen.
Damit wäre eine neue Eskalationsstufe in der Auseinandersetzung zwischen Staat und Kirchen um die Hoheit im Asylrecht erreicht. Prüfungen laufen, erste Gespräche bereits seit Längerem. Ein Kompromiss scheint nicht in Sicht. Es ist auch schwer vorstellbar, wie der aussehen sollte, nachdem Innenminister de Maizière kürzlich erklärt hat, dass er das Kirchenasyl "prinzipiell und fundamental" ablehne.
Damit macht er sich bei den Kirchen wenig beliebt. "Wir wehren uns dagegen, dass Kirchenasyl immer wieder illegalisiert und als Unterwanderung geltenden Rechts interpretiert wird. Zum einen, weil es gerade in einem Rechtsstaat wichtig ist, dass Menschen auch ethisch bewusst handeln. Zum anderen, weil wir zwar die behördliche Praxis in Frage stellen, aber gerade dadurch den Rechtsstaat schützen", sagt etwa Birgit Neufert, Referentin der Ökumenischen Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche (BAG). Nach ihrem Verständnis unterwandern die Kirchen das Recht nicht, sondern verhelfen ihm gerade zur Durchsetzung.
Angebliche Explosion der Fälle von Kirchenasyl
Das BAMF selbst schlägt etwas mildere Töne als der Innenminister an. Das Kirchenasyl wolle man nicht grundsätzlich in Frage stellen, schließlich habe es eine lange Tradition in Deutschland. Allerdings sei es früher lediglich nach dem negativen Ausgang eines Asylverfahrens zur Anwendung gekommen – "und nur in wenigen Einzelfällen", sagt BAMF-Sprecherin Hirseland. "Das hat sich deutlich verändert, es befinden sich nach unserer Kenntnis ganz überwiegend Personen im Kirchenasyl, deren Überstellung in einen anderen Unterzeichnerstaat der Dublin-Verordnung verhindert werden soll". Damit werde Kirchenasyl bewilligt, bevor das eigentliche Asylverfahren überhaupt begonnen habe, und die EU-rechtlichen Rahmenbedingungen in Frage gestellt.
Ein weiterer Vorwurf an die Kirchen lautet, sie würden nicht gründlich prüfen, wem sie Asyl gewähren. Prinzipiell ist es nur für Härtefälle vorgesehen, also für Asylsuchende, deren Schicksal besonders grausam ist, und für die eine Abschiebung bzw. Überstellung in besonderer Weise unzumutbar wäre. Kirchenvertreter bestreiten eine Explosion der Zahl aufgenommener Personen bzw. eine lasche Prüfungspraxis. Nach den Zahlen der BAG befinden sich derzeit (lediglich) 359 Personen bundesweit in kirchlichem Asyl.
Kirchenmitglieder können sich strafbar machen
Das sind nicht viele – doch es sind, rein rechtlich betrachtet, wohl zu viele. "Da die Kirche nicht die Aufgabe hat, gesetztes Recht zu verwirklichen, wird das Kirchenasyl immer in einer rechtlichen Grauzone bleiben", erklärt Sigmund Polutta, Rechtsanwalt aus Essen. Von Verfechtern des Instituts wird versucht, juristische Rechtfertigungen herzuleiten – etwa aus Artikel 16a Grundgesetz (GG), wonach politisch Verfolgte Schutz genießen, aus dem Recht der freien Religionsausübung nach Art. 4 oder als Ausdruck der religiösen Selbstverwaltung. Schließlich wird wegen der seit langem bestehenden Praxis mit dem Gewohnheitsrecht argumentiert.
Doch der Rückgriff auf derart generelle Prinzipien zur Rechtfertigung einer sehr speziellen Handlung ist bekanntlich schwierig. Eine einfachgesetzliche Legitimierung des Kirchenasyls gibt es jedenfalls nicht. Im Gegenteil kommt eine Strafbarkeit wegen Beihilfe zum illegalen Aufenthalt in Betracht, je nach Konstellation außerdem wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte, Begünstigung oder Einschleusens von Ausländern.
Behörden respektieren Asyl – obwohl sie nicht müssten
Strafrechtliche Konsequenzen gegenüber den Kirchenmitgliedern sind allerdings selten. Wo Verfahren einmal eröffnet werden, werden sie gern wegen Geringfügigkeit wieder eingestellt. Auch verzichten die Behörden meist auf den Zugriff auf Personen, die sich in Kirchenasyl befinden – obwohl sie es könnten. Die Losung der obersten Kirchenleitungen lautet, die Behörden über bestehende Kirchenasyle in Kenntnis zu setzen. Einem Betreten der Räumlichkeiten durch die Polizei steht dann allenfalls das kirchliche Hausrecht entgegen.
Dennoch respektieren die Vollzugsbehörden – mit einigen Ausnahmefällen – ein einmal gewährtes Kirchenasyl. "Eine Änderung dieser Praxis ist nicht beabsichtigt", heißt es aktuell aus dem BAMF und gleichlautend bereits Ende Oktober 2014 in einer Antwort von Staatssekretärin Emily Haber auf eine Anfrage der Bundestagsabgeordneten Petra Pau von DIE LINKE.
In einem offenen Brief hatte sich Rechtsanwalt Sigmund Polutta Ende Dezember an Unionsfraktionschef Volker Kauder gewandt. Mit dem Schreiben ging es ihm unter anderem darum, dass das Kirchenasyl als Schutzraum politisch unangetastet bleiben sollte. Ob er Gehör findet, könnte sich noch in dieser Woche zeigen: Ende Februar stehen erneut Gespräche zwischen Kirchen-Oberen auf der einen und Staatsvertretern auf der anderen Seite an.
Daniel Grosse, Kirchenasyl: Der wohltätige Rechtsbruch . In: Legal Tribune Online, 25.02.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/14784/ (abgerufen am: 08.05.2024 )
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