Als Merkel vor zwei Wochen beim türkischen Ministerpräsidenten Erdogan zu Besuch war, ging es auch wieder um den EU-Beitritt. Gökçe Uzar Schüller, Leiterin des Türkei-Desks bei Graf von Westphalen, erklärt im LTO-Interview, in welchen Aspekten sie ihr Land noch nicht für beitrittsreif hält, wieso sie ein Gesetz zur Sicherheit am Arbeitsplatz fasziniert und wie sie dazu kam, das Grundgesetz zu übersetzen.
LTO: Anfang der vergangenen Woche besuchte Angela Merkel die Türkei. In ihren Gesprächen mit Recep Tayyip Erdogan ging es auch um deren Beitritt zur Europäischen Union (EU). Noch immer hat die Kanzlerin Vorbehalte, der türkische Ministerpräsident sieht sein Land dagegen schon de facto in der Gemeinschaft. Frau Dr. Uzar Schüller, haben Sie rechtsstaatliche Bedenken gegen einen Beitritt?
Uzar Schüller: Vielleicht in bestimmten Bereichen. Der letzte EU-Fortschrittsbericht von Oktober 2012 weist darauf hin, dass die Angeklagten wie beispielsweise Journalisten viel zu lange in Untersuchungshaft sitzen. Manchmal vier bis fünf Jahre. Allgemein dauern Gerichtsverfahren einfach viel zu lange.
Ich sehe aber auch, dass von Regierungsseite viel gemacht wird. Erdogan selbst hat in letzter Zeit immer wieder gesagt, dass die Untersuchungshaft viel zu lange dauere.
Wie im Gegenbericht zum EU-Fortschrittsbericht ausgeführt, sind zahlreiche Justizreformen in Kraft getreten. Es ist nun beispielsweise vorgesehen, dass der Beschluss einer Untersuchungshaft begründet werden muss. Auch wurden die allgemeinen Voraussetzungen für die Untersuchungshaft erschwert.
Die notwendigen Gesetze werden also erlassen, können aber in der Praxis nicht vollständig umgesetzt werden, da es noch an der erforderlichen Infrastruktur fehlt. Die Bemühungen gehen aber weiter.
LTO: Wann wird die Türkei Ihrer Meinung nach bereit sein für einen Beitritt?
Uzar Schüller: Von 35 Verhandlungspunkten wurde erst einer abgeschlossen. Leider werden seit 2006 acht davon blockiert, weil die Türkei den EU-Mitgliedstaat Zypern nicht anerkennt beziehungsweise ihre Häfen für Südzypern nicht öffnet. Da geht es nicht voran.
Trotzdem hat die Türkei schon vor Aufnahme der offiziellen Verhandlungen, also zwischen 1999 und 2004, große Harmonisierungsanstrengungen unternommen. Das war – angesichts der kurzen Zeit - eine große Entwicklung. Als Rechtsanwältin musste ich mich damals häufig in neue Gesetze einarbeiten. Das hat sich in den letzten Jahren fortgesetzt. 2012 wurden wichtige Gesetze für das Wirtschaftsleben, wie das Handelsgesetzbuch, das Obligationsgesetzbuch und die Zivilprozessordnung substantiell geändert.
"Es braucht es erst einmal die Infrastruktur, um neue Gesetze umsetzen zu können"
LTO: Was waren wesentliche Änderungen im Bereich des Handels- und Zivilprozessrechts?
Uzar Schüller: Es ging dabei vor allem um Anpassungen an europäische Richtlinien. Im Handelsrecht wurde viel mehr Transparenz für das Wirtschaftsleben geschaffen. Große Unternehmen müssen jetzt ihre Bücher offenlegen und durch unabhängige Wirtschaftsprüfer nach internationalen Standards prüfen lassen. Außerdem wurden die privat- und strafrechtliche Haftung von Vorstandsmitgliedern und Geschäftsführern detailliert geregelt. Die neuen Regelungen sind dem deutschen und dem EU-Recht sehr ähnlich.
LTO: Wie gut werden diese Regeln in der Praxis umgesetzt?
Uzar Schüller: Da braucht es natürlich erst einmal eine entsprechende Infrastruktur sowie ausgebildete Richter und Mitarbeiter. Von heute auf morgen kann das nicht funktionieren. Aber es gibt Fortschritte. In Istanbul gibt es seit 2011 ein neues Justizgebäude auf der europäischen Seite, das mit neuester Technik ausgestattet ist. Auf der asiatischen Seite ist in der letzte Woche ebenfalls ein neuer Komplex eröffnet worden, über den man behauptet es sei der größte der Welt.
In anderen Bereichen fehlt es allerdings an Institutionen, die Mitarbeiter entsprechend schulen könnten. So gibt es etwa seit kurzem ein Gesetz zur Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz, das alle Unternehmen nach Risikoklasse einstuft und vorschreibt, dass die Mitarbeiter entsprechend geschult werden müssen. Es gibt aber keine Institutionen, die die Schulungen tatsächlich durchführen könnten. Das Gesetz ist da im Grunde für die Praxis zu fortschrittlich.
2/2: "In der Türkei wird in den Verhandlungen nicht so viel diskutiert"
LTO: Sie leiten bei Graf von Westphalen den Türkei-Desk. Welche Aufgaben sind damit verbunden?
Uzar Schüller: Hauptsächlich berate ich deutsche Unternehmen, die in der Türkei Geschäfte machen wollen. Ich bin allerdings auch öfters in der Türkei und vermittle dann zwischen türkischen Unternehmen, die nach Deutschland kommen wollen, und meinen deutschen Kollegen. Es ist natürlich für Mandanten immer angenehm, in der eigenen Sprache sprechen zu können.
LTO: Treten Sie auch als Anwältin in der Türkei vor Gericht auf?
Uzar Schüller: Ich bin bei der Istanbuler Anwaltskammer zugelassen. In den letzten sechs, sieben Jahren war ich aber nur wenige Male vor Gericht. Wenn es zu Streitigkeiten kommt, haben wir Anwälte vor Ort, die für uns vor Gericht auftreten- das ist ja auch eine Kostenfrage. Wenn der Mandant ausdrücklich wünscht, dann reise ich natürlich gerne zum Prozess in die Türkei. In der Türkei wird in den Verhandlungen aber gar nicht so viel mündlich vorgetragen, wie das in Deutschland üblich ist. Es wird eher ein schriftliches Verfahren durchgeführt, in der Verhandlung verweist man dann nur noch auf die Akten.
"Früher wurde vertagt, vertagt und wieder vertagt"
LTO: Was ist Ihre persönliche Erfahrung, wie gut funktioniert das Justizsystem?
Uzar Schüller: Im Vergleich zu Deutschland ist die Justiz in der Türkei langsamer. Die neue Zivilprozessordnung, die Anfang 2012 in Kraft getreten ist, hat aber einiges zum Positiven verändert. Alle Schriftsätze müssen jetzt schon im Vorverfahren ausgetauscht werden. Gutachten müssen erstellt und Zeugen benannt sein. All das muss innerhalb von zwei Monaten passieren. In der mündlichen Verhandlung geht es dann nur noch um die Sache. Wenn die Richter das so praktizieren – und ich habe den Eindruck, sie bemühen sich darum –, dann werden Zivilverfahren in Zukunft sehr viel schneller ablaufen. Früher gab es mündliche Verhandlungen, in denen nur festgestellt wurde, dass die Gegenseite noch einmal auf einen Schriftsatz reagieren darf, dann wurde vertagt. Im nächsten Termin ging es dann darum, einen Gutachter zu bestellen, dann wurde wieder vertagt. Der Gutachter sagte einen Termin ab, und wieder wurde vertagt. So ging das immer weiter. Das hat sich wahnsinnig lange hingezogen.
In einem Strafverfahren ist die lange Verfahrensdauer natürlich noch viel gravierender. Da geht es ja nicht nur um Geld, sondern im Zweifel auch um die Freiheit.
LTO: Für den Deutschen Bundestag haben Sie das Grundgesetz ins Türkische übersetzt. Wie sind Sie dazu gekommen?
Uzar Schüller: Das lief über meine ehemalige Kanzlei. Der Sprachdienst des Deutschen Bundestags ist auf uns zugekommen, weil sie eine Übersetzung für die in Deutschland lebenden Türken haben wollten.
"Beim möglichen EU-Beitritt ist die Luft ein bisschen draußen"
LTO: Sie waren drei Jahre als Lehrbeauftragte an der Universität in Ankara am Lehrstuhl für Zivilprozess- und Insolvenzrecht tätig. Was halten türkische Jura-Studenten von einem EU-Beitritt und wie bewerten sie die aktuelle Diskussion? Uzar Schüller: Sie sind überwiegend für einen EU-Beitritt. Nachdem wir 2004 die politischen Kriterien von Kopenhagen erfüllt hatten und die Beitrittsverhandlungen offiziell eröffnet wurden, waren wir alle sehr motiviert. Seit einige Verhandlungskapitel wegen der Zypern-Politik wieder geschlossen wurden, ist die Luft ein bisschen draußen. 1963 fand das erste Gespräch über einen möglichen EU-Beitritt statt. Man kann nicht über 50 Jahre hinweg die gleiche Motivation beibehalten. Das ist unmöglich.
Was meine persönliche Motivation als Rechtsanwältin steigen lässt, sind neue Gesetze wie das zur Sicherheit am Arbeitsplatz. Endlich haben wir dieselben Standards wie andere Länder in Europa. Es gibt also nach wie vor eine Entwicklung. Selbst wenn wir der EU letztlich nicht beitreten sollten, sind das ja alles Fortschritte, die uns bleiben.
Ich denke, die politischen Probleme, an denen es derzeit hakt, wie Zypern, könnten innerhalb kürzester Zeit gelöst werden, wenn es die Politiker denn wollten. Bis dahin sollte unser Justizystem für den Betritt vorbereitet sein.
LTO: Wieso sind Sie nach Deutschland gekommen?
Uzar Schüller: Ich habe ein Stipendium vom DAAD für eine Promotion an der Universität Regensburg bekommen. Eigentlich wollte ich nur promovieren und danach wieder zurückgehen, um weiter an der Uni zu arbeiten. Die Tätigkeit als türkische Avukat in einer deutschen Anwaltskanzlei hat mir aber so gut gefallen, dass ich von meinen ursprünglichen Plänen wieder abgerückt bin.
LTO: Vielen Dank für das Gespräch.
Dr. Gökçe Uzar Schüller ist Rechtsanwältin bei Graf von Westphalen in München und dort Leiterin des Türkei-Desk. Sie hat in der Türkei studiert und in Deutschland promoviert.
Das Interview führte Claudia Kornmeier.
Dr. Gökçe Uzar Schüller, Justizsystem in der Türkei: "Es gibt Gesetze, die sind für die Praxis zu fortschrittlich" . In: Legal Tribune Online, 11.03.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/8299/ (abgerufen am: 02.05.2024 )
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