Vergangene Woche nahm der Fall Mollath eine in der modernen Rechtsgeschichte des Freistaats Bayern wohl einmalige Wende: Justizministerin Merk wies die Staatsanwaltschaft an, auf eine Wiederaufnahme des Strafverfahrens hinzuwirken. Henning Ernst Müller über die unrühmliche Rolle der Justiz und Wege, die zu einer Freilassung führen könnten.
2006 sprach das Landgericht Nürnberg-Fürth Gustl Mollath wegen Schuldunfähigkeit von den Vorwürfen der Körperverletzung an seiner Frau und Sachbeschädigung frei und ordnete seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an. Der Angeklagte hatte seiner Frau und ihren Kollegen bei der Hypovereinsbank (HVB) vorgeworfen, "Schwarzgelder" in die Schweiz verschoben zu haben. Ein Gutachter hatte diese Aussagen als Teil eines "paranoiden Gedankensystems" eingeordnet und die Unterbringung des heute 56-Jährigen empfohlen.
Ein kürzlich bekannt gewordener Bericht der Bank bestätigte die von Mollath erhobenen Vorwürfe nun jedoch, was die Justiz in Erklärungsnot brachte. Das bayerische Justizministerium hatte sich gegenüber der öffentlichen Kritik zunächst auf die Rechtskraft des Urteils und die gutachterlichen Feststellungen zur Gefährlichkeit Mollaths berufen.
Nachdem die Medien in der vergangenen Woche jedoch berichteten, ein Richter habe schon vor der Erstellung des ersten psychiatrischen Gutachtens gegenüber der Steuerfahndung geäußert, Mollath sei psychisch gestört, gab Beate Merk nach. Sie folgte der schon zuvor von Ministerpräsident Horst Seehofer eingeschlagenen Linie und forderte die Staatsanwaltschaft auf ein Wiederaufnahmeverfahren in die Wege zu leiten.
Vorhersagen zum Ausgang des Verfahrens nicht möglich
Dass die Staatsanwaltschaft einen Wiederaufnahmeantrag nach § 359 Strafprozessordnung (StPO) stellt, ist eine absolute Ausnahme. Daneben machen politische Erwägungen den Fall einmalig. Vorhersagen über die Erfolgschancen des Antrags und eines dann möglichen neuen Prozesses können daher kaum getroffen werden. Trotz des politischen Wunsches, die Sache möglichst noch vor dem Wahlkampf in Bayern vom Tisch zu bekommen, wird die Justiz die Voraussetzungen einer Wiederaufnahme genau prüfen müssen. Und die sind nicht leicht zu erfüllen.
Da es für andere Wiederaufnahmegründe an den Voraussetzungen etwa des § 364 S. 1 StPO fehlt, kommen nur solche nach § 359 Nr. 5 StPO in Betracht. Dazu müssten Tatsachen oder Beweismittel dargelegt werden, die nicht schon zum Zeitpunkt des Urteils bekannt waren und die möglicherweise eine andere Entscheidung nach sich ziehen. Fehler des psychiatrischen Gutachtens, das der Entscheidung zugrunde lag, sind daher für sich betrachtet kein unmittelbarer Wiederaufnahmegrund; ebenso wenig hilft es, dass das Gericht die Zeugenaussage von Mollaths Ehefrau schon im Urteil unzureichend gewürdigt hat.
2/2: HVB-Bericht begründet Wiederaufnahme
Eine neu bekannt gewordene Tatsache ist aber der Bericht der Hypovereinsbank. Das Urteil bezeichnete die Angaben Mollaths zu Schwarzgeldverschiebungen ausdrücklich als "fixe Idee" und das psychiatrische Gutachten erklärte sie an verschiedenen Stellen zum inhaltlichen Kern der Wahnvorstellungen, die Mollath schuldunfähig gemacht haben sollen. Wenn sich nun diese Angaben als (teilweise) wahr herausstellen, ist damit zwar eine wahnhafte Störung nicht ausgeschlossen, aber eine erneute Diagnose müsste dies berücksichtigen.
Außerdem macht der Bericht deutlich, dass die Ehefrau Mollaths ein erhebliches Belastungsmotiv hatte. Ihr Mann hatte ihr damit gedroht, die Vorgänge zu melden; sie musste deshalb mit einer Kündigung oder gar mit Strafverfolgung rechnen. Ihre Strategie könnte es also gewesen sein, die Anschuldigungen ihres Mannes als die eines "Wahnsinnigen" darzustellen und zugleich Straftaten als Unterbringungsgrund zu etablieren.
Sollte sich das ärztliche Attest, das die Verletzungen belegt, die Mollath seiner Frau zugefügt haben soll, als Gefälligkeitsattest oder gar als Fälschung erweisen, wäre dies ein weiterer Wiederaufnahmegrund.
Unterbringung in der Psychiatrie mittlerweile möglicherweise unverhältnismäßig
Erst wenn der Antrag auf Wiederaufnahme in einem zweistufigen Verfahren positiv beschieden worden ist, kommt es zu einer erneuten Hauptverhandlung, in der dann über die Tat und – nur bei Bestätigung derselben – über die Voraussetzungen der Unterbringung erneut Beweis zu erheben ist. Dass öffentlicher Druck und politische Konstellation allein schon ein bestimmtes Ergebnis vorgeben, ist zu bezweifeln.
Unabhängig von einem Wiederaufnahmeverfahren könnte Mollath auch nach § 67d Strafgesetzbuch (StGB) freigelassen werden. Danach kann das Gericht jederzeit die Unterbringung für erledigt erklären. Den 56-Jährigen in einem psychiatrischen Krankenhaus zu behalten, könnte mittlerweile möglicherweise unverhältnismäßig sein (§ 62 StGB).
Mollath will jedoch nicht nur seine Freilassung bewirken. Sein Interesse ist es, das rechtskräftige Urteil zu beseitigen und vollständig rehabilitiert zu werden.
Die Rolle des BGH im Fall Mollath
Justizministerium und Bayerischer Richterverein haben immer wieder darauf hingewiesen, das Urteil sei vom Bundesgerichtshof (BGH) bestätigt worden. Wie wenig aussagekräftig das Qualitätssiegel "höchstrichterlich geprüft" ist, wird jedoch am tatsächlichen Umfang der Prüfung im Fall Mollath deutlich (Beschl. v. 13.02.2007, Az. 1 StR 6/07).
Von einer gründlichen und transparenten Urteilskontrolle kann nämlich nicht die Rede sein. Die schon in den Urteilsgründen zu Tage tretenden Beweislücken erkannten die Karlsruher Richter offenbar nicht. Dabei hatte die Strafkammer eine kritische Prüfung der Zeugenaussage der Ehefrau unterlassen. Zudem wurde die Feststellung, Mollath sei (schon) bei der angeklagten Körperverletzung zumindest nach § 21 StGB vermindert schuldfähig gewesen, allein auf die angeklagte Straftat selbst gestützt. Im Streit zwischen Ehepartnern wäre eine – hier vier Jahre zurückliegende – Körperverletzung aber auch ganz ohne wahnhafte Störung zu erklären.
Zwar hatte die Revision die mangelnde Darlegung der Kausalverknüpfung zwischen psychischer Störung und Straftat gerügt. Allerdings hatte die Verteidigung keine zulässige Verfahrensrüge erhoben, so dass das psychiatrische Gutachten selbst nicht zum Gegenstand der Revision gemacht wurde. Der Senat verwarf daraufhin die Revision als "offensichtlich unbegründet" nach § 349 Abs. 2 StPO ohne schriftliche Begründung. Die Strafsenate des BGH sind mittlerweile aus strukturellen Gründen offenbar immer weniger in der Lage, Urteile der Tatsacheninstanzen effektiv zu überprüfen und Fehlurteile zu verhindern.
Es ist leider zu befürchten, dass der Fall Mollath, der durch seine Verknüpfung mit der Hypovereinsbank und mit landespolitischem Streit nun bundesweite Berühmtheit erlangt hat, kein Einzelfall ist.
Der Autor Henning Ernst Müller ist Professor für Strafrecht und Kriminologie an der Universität Regensburg. Er bloggt regelmäßig im Beck-Blog über strafrechtliche und kriminologische Themen.
Prof. Dr. Henning Ernst Müller, Der Fall Mollath vor einer Wiederaufnahme: Qualitätssiegel "höchstrichterlich geprüft" . In: Legal Tribune Online, 06.12.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/7719/ (abgerufen am: 26.04.2024 )
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