Staaten dürfen den Familiennachzug nur zwei Jahre pauschal aussetzen, der Heilige Stuhl genießt Staatenimmunität und Deutschland hat den Kundus-Luftangriff ausreichend aufgeklärt. Was sonst noch so in Straßburg los war.
Beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) geht es oftmals um hochpolitische Gegenstände: So forderte er bereits im Februar, Alexey Nawalny unverzüglich aus der Haft zu entlassen. Das Gericht gab damit dem Antrag des russischen Oppositionsführers auf Erlass einstweiliger Maßnahmen statt – das passiert nur höchst selten. Russland indes kritisierte diese "klare und grobe Einmischung" in die Arbeit der Justiz eines souveränen Staates, Nawalny sitzt noch immer in russischer Haft.
Aufgrund der Corona-Pandemie war das Gebäude des EGMR über einen langen Zeitraum quasi für die Öffentlichkeit geschlossen, deshalb war eine Verhandlung Ende September aus mehreren Gründen besonders: Es ging um zwei Großelternpaare aus Frankreich, die die französische Regierung dazu bewegen wollen, ihre Töchter und Enkelkinder, die sich einst freiwillig dem IS angeschlossen hatten, zurückzuholen. Verhandelt wurde vor der Großen Kammer, was nur in seltenen Fällen, etwa zur Klärung grundsätzlicher Fragen, passiert. Und: Die Verhandlung fand als eine der ersten wieder in Präsenz statt.
Auch inhaltliche Fragen der Corona-Pandemie landeten beim EGMR, so zog etwa ein Feuerwehrmann gegen die in Frankreich geltende Corona-Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen nach Straßburg.
In unserem Rückblick finden Sie sechs wichtige Entscheidungen – vom Kundus-Luftangriff bis zum Putschversuch in der Türkei.
1/6: Kundus-Luftangriff: Deutsche Justiz hat genug aufgeklärt
Im September 2009 war es in Afghanistan zu einem folgenschweren Bundeswehreinsatz gekommen, bei dem zahlreiche Menschen starben. Es konnte nicht mehr aufgeklärt werden, wie viele Menschen bei dem Luftangriff genau ums Leben kamen; Berichte gehen von 14 bis 142 Toten aus.
Der EGMR hat Mitte Februar entschieden, dass die deutsche Justiz genug getan hat, um den Vorfall aufzuklären und damit nicht gegen Menschenrechte verstoßen hat. Im Kern ging es um die Frage, ob Deutschland durch unzureichende Aufklärung der Umstände und der strafrechtlichen Verantwortlichkeit der Beteiligten gegen Art. 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verstoßen hat. Dieser schützt das Recht auf Leben.
Geklagt hatte der afghanische Staatsbürger Abdul Hanan, der zwei Söhne im Alter von acht und zwölf Jahren bei dem Angriff verloren hatte. Er war der Ansicht, es habe keine ausreichende juristische Aufarbeitung des Falles in Deutschland gegeben.
Das sahen die Straßburger Richterinnen und Richter anders, sie beanstandeten die deutschen Ermittlungen nicht. Der Generalbundesanwalt hatte im Jahr 2010 seine Ermittlungen aufgenommen und sie einen Monat später eingestellt. Er untersuchte die Rolle von Oberst Klein und einem Stabsfeldwebel, der ihn in der Nacht unterstützt hatte und kam zu dem Ergebnis, dass keine Straftaten nach dem Völkerstrafgesetzbuch oder dem Strafgesetzbuch vorlägen.
Oberst Klein hatte zwei US-Militärflugzeuge aufgefordert, Bomben auf zwei Tanklastwagen in der Region Kundus abzuwerfen. Dabei soll er davon ausgegangen sein, dass die Taliban die beiden Tanklaster als rollende Bomben gegen sein Lager einsetzen könnten. Es hatten sich jedoch zahlreiche Menschen versammelt, die von den Lastwagen Benzin abzapften. Diese kamen bei dem Angriff ums Leben.
2/6: Big Brother is watching you?
Außerdem gab es vom EGMR strengere Vorgaben für die anlasslose Internetüberwachung durch Geheimdienste. Vor gut drei Jahren hatte der Straßburger Gerichtshof die frühere Überwachungspraxis der britischen Regierung und ihres Geheimdienstes GCHQ für rechtswidrig erklärt. Eine derartige massenhafte Datenabschöpfung könne nur unter engen Voraussetzungen zulässig sein.
Die Große Kammer des EGMR hat in diesem Jahr das Urteil bestätigt und den Staaten weitere Regeln an die Hand gegeben: So brauche es "end-to-end"-Absicherungen, also eine Kontrolle in allen Schritten des Überwachungsvorgangs – von der Bestimmung des Suchbegriffs, nach dem ein Datenstrom gefiltert werden soll, bis hin zum nachträglichen Rechtsschutz.
Die Praktiken des britischen Geheimdienstes aus der Snowden-Ära im Zusammenhang mit dem Abfangen von Daten und der Abschöpfung bei Providern hätten sowohl gegen das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens aus Art. 8 der EMRK als auch gegen Art. 10 verstoßen, der unter anderem die Pressefreiheit schützt.
Das Votum der Großen Kammer ging indes nur mit zwölf zu fünf Stimmen aus – einige Sondervoten enthielten teils dramatische Appelle: So beendete der portugiesische EGMR-Richter Pinto de Albuquerque seine abweichende Meinung mit den Worten: "Das gegenwärtige Urteil des Straßburger Gerichts hat die Tore geöffnet für ein elektronisches 'Big Brother' in Europa."
3/6: Subsidiärer Schutz: Staaten dürfen Familiennachzug nur zwei Jahre pauschal aussetzen
Viele Geflüchtete kommen zunächst allein in ein Land, um dann später ihre Familie nachzuholen. Bei den subsidiär Schutzberechtigten wurde der Familiennachzug insbesondere im Zusammenhang mit der Bundestagswahl 2017 kontrovers diskutiert. Seit März 2016 war diese Möglichkeit ausgesetzt, im Sommer 2018 wurde eine Kontingentlösung eingeführt. Seither dürfen monatlich bis zu 1.000 Nachzugsvisa erteilt werden.
In Dänemark gab es seit 2015 eine generelle und ausnahmslose Wartefrist von drei Jahren. Diese pauschale Frist verstößt gegen das Recht auf Privat- und Familienleben, urteilte der EGMR. Geklagt hatte ein syrischer Ehemann. Dieser hatte im Sommer 2015 einen dänischen Aufenthaltstitel erhalten, der mit dem subsidiären Schutz vergleichbar ist. Seine Frau erhielt erst drei Jahre später ein Nachzugsvisum.
Die große Kammer des EGMR entschied, dass Staaten den Familienauszug nur für zwei Jahre aussetzen dürfen, danach müsste jeder Einzelfall geprüft werden. Dabei hob der Straßburger Gerichtshof hervor, dass Staaten "das wohletablierte Recht besitzen, die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern zu kontrollieren". Dieses sei gegen die Interessen der Schutzberechtigten abzuwägen. Die deutsche Kontingentlösung hat auch nach der Entscheidung des EGMR Bestand. Allerdings hat die Ampel im Koalitionsvertrag angekündigt, die Familienzusammenführung der subsidiär Geschützten mit den Flüchtlingen nach der Genfer Flüchtlingskonvention "gleichzusetzen" – deshalb sind hier Änderungen zu erwarten.
4/6: Der Heilige Stuhl ist immun
Der Heilige Stuhl ist zwar kein Staat, wird aber wie einer behandelt – und genießt deshalb auch Staatenimmunität. Auch bei schweren Verstößen gegen Menschenrechte gilt keine Ausnahme, entschied der EGMR. Damit bewegt er sich in einer Linie mit dem Internationalen Gerichtshof. Dieser hatte in Bezug auf Entschädigungszahlungen italienischer Staatsangehöriger für Kriegsverbrechen der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg die Immunität Deutschlands angenommen.
24 Opfer des sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche hatten in Belgien Klage auf Schadensersatz unter anderem gegen den Heiligen Stuhl und den Erzbischof erhoben. Sie machten geltend, die Kirche habe durch ihr Stillschweigen und ihren Umgang mit dem Problem des sexuellen Missbrauchs durch Priester Schäden verursacht. Die belgischen Gerichte wiesen die Klage unter Hinweis auf die Immunität des Heiligen Stuhls ab.
Die Kläger sahen ihr Recht auf ein faires Verfahren verletzt und wandten sich mit einer Beschwerde an den EGMR – diese blieb allerdings erfolglos. Zwar sei das Recht auf Zugang zu einem Gericht beschränkt, das sei aber wegen des Grundsatzes der Staatenimmunität gerechtfertigt.
5/6: Kein faires Verfahren in Polen
Nicht nur der Europäische Gerichtshof (EuGH), sondern auch der EGMR durfte sich in diesem Jahr mit Polenz Justizsystem beschäftigen. Im Oktober hatte der EuGH Polen per einstweiliger Anordnung zur Zahlung eines täglichen Zwangsgeldes in Höhe von einer Million Euro verpflichtet, weil das Land ein früheres Urteil zu umstrittenen Justizreformen nicht umgesetzt hat.
Beim EGMR ging es um das Verfahren zur Ernennung von Richterinnen und Richtern in Polen. Dieses sei von Parlament und Exekutive unzulässig beeinflusst worden. Deshalb muss Polen zwei Richtern, die sich in Straßburg beschwert hatten, je 15.000 Euro zahlen.
Rechtskräftig ist das Urteil indes noch nicht. Es bleibt auch abzuwarten, ob Polen sich an die Entscheidung halten wird. Die nationalkonservative PiS-Regierung baut das Justizwesen des Landes seit Jahren trotz internationaler Kritik um und setzt Richterinnen und Richter unter Druck. Bei den Gerichten sind zahlreiche Verfahren gegen das Land anhängig: Allein beim EGMR gingen zwischen 2018 und 2021 wegen der polnischen Justizreform 57 Beschwerden (Stand Anfang November 2021) ein.
6/6: Putschversuch in der Türkei: Entschädigung für verhaftete Juristen
Nach dem Putschversuch in der Türkei im Jahr 2016 waren mehr als 400 Juristinnen und Juristen verhaftet worden. Laut EGMR sollen sie dafür jeweils mit 5.000 Euro von der türkischen Regierung entschädigt werden.
Richter:innen, Staatsanwält:innen und andere Jurist:innen waren von den Behörden verdächtigt worden, Teil der Gülen-Bewegung zu sein, die Präsident Erdogan für den versuchten Umsturz verantwortlich macht. Der Namensgeber der Bewegung bestreitet dies.
Der EGMR hat entschieden, dass das Menschenrecht auf Freiheit der Betroffenen verletzt wurde. In ähnlichen Fällen hatte er die Türkei bereits mehrfach verurteilt.
Sollte man kennen: Sechs wichtige EGMR-Entscheidungen 2021 . In: Legal Tribune Online, 31.12.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/47067/ (abgerufen am: 10.05.2024 )
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