Höchstens zwei von fünf Richtern kennen im strafrechtlichen Revisionsverfahren die Akte, wenn sie durch Beschluss entscheiden. Dieses Vier-Augen-Prinzip am BGH beschäftigt nicht nur Juristen, seit der Vorsitzende des 2. Strafsenats Thomas Fischer das Thema aufbrachte. Ihn regen die Ausführungen des früheren Generalbundesanwalts Kay Nehm zur Beratungskultur der Strafsenate zum Widerspruch an.
Eingangs seines Beitrags "Sowieso nur Teile der Akte verwertbar" befasst Nehm sich mit Stilfragen in der aktuellen Diskussion. Der Stil, so mahnt er, müsse höchstrichterlichen Anforderungen genügen. Ihn stören die "Harschheit" des Tonfalls und die Gewissheit, mit der die eigene Meinung als einzig richtige dargestellt werde.
Wer solche Verstöße wo begangen hat, erfährt man nicht. Nehm selbst lässt es weder an Harschheit noch an Gewissheit fehlen; militärische Einsprengsel – er hat es mit "Kombattanten" und "Fehden" zu tun - geben seinem Text metallischen Glanz.
Zu Vorwürfen gegen Richterkollegen bestehe kein Anlass, meint er, und hat damit Recht. Gern wüsste man: Von wem sind welche "Vorwürfe" erhoben worden? Zählen die Zielpersonen seiner eigenen Vorwürfe zu Nehms Richterkollegen? Oder sind sie bereits ausgegliedert, als Nestbeschmutzer oder gar Schlimmeres - da sie eine "Verunsicherung der Bevölkerung" unternehmen?
Querelen und Zirkelschlüsse
Die ganze Angelegenheit, so Nehm, sei "vor dem Hintergrund der Querelen um die Neubesetzung freier Senatsvorsitze" zu sehen. Was dies in der Sache bedeutet, sagt er nicht, so dass dem Leser das dunkle Gerede vom "Hintergrund" nichts nützt. Aber immerhin ließ sich so der Begriff der Querelen unterbringen: eitle Zwistigkeiten über Angelegenheiten minderer Bedeutung. In den Schubladen journalistischer Kunst wird er für Fälle aufgehoben, in denen es um Inhalte nicht mehr geht.
Nach Nehms Ansicht hat "die Kritik mit Rechtslage und Praxis nur wenig gemein". Zur Kritik erfahren wir ebenso wenig wie zur Rechtslage und zur Praxis. Immerhin folgt nun die laut Nehm zentrale Frage: Ob die Besonderheiten des Beschlussverfahrens es rechtfertigen, generell vom Procedere der Urteilsfindung abzuweichen. Das ist eine petitio prinzipii, denn die Abweichung, um die es geht, ist gerade das Beschlussverfahren. Dieses könnte nur durch seine Inhalte, nicht aber durch sich selbst gerechtfertigt werden. In der Frage ist die bestätigende Antwort schon enthalten.
Die sich aufdrängende Frage, welche Besonderheiten eigentlich das Urteils-Verfahren rechtfertigen, in dem alle Richter alles lesen, obwohl in der Hauptverhandlung das Wesentliche sowieso vorgetragen werden muss, wird nicht gestellt.
Sehen sechs Augen nicht mehr als vier?
Bemerkenswert sind Nehms Argumente gegen die Kritik am derzeitigen Vier-Augen-Prinzip.
- Keinem Richter, der dies ausdrücklich verlange, so Nehm, werde der Blick in die Akten verwehrt – niemand hat das bestritten.
- Die Revision sei sowieso nur ein "Rechtsmittel mit begrenzten Möglichkeiten", findet Nehm - als mindere dies das Maß der erforderlichen Gründlichkeit.
- Die Bundesanwaltschaft prüfe alle Revisionen so sorgfältig, dass ein "auch nur versehentliches" (!) Übersehen wichtiger Fragen "mehr als unwahrscheinlich" (scil.: unmöglich?) sei.
- Häufig stehe der Umfang der Rügen in keinem Verhältnis zum erwarteten Ertrag.
- Und schließlich dienten viele Revisionen sowieso nur der Verzögerung der Vollstreckung.
Mit keinem dieser Argumente geht Nehm auf eine "Kritik" ein. Er wendet sich vielmehr – im Ergebnis – gegen das Revisionsverfahren insgesamt. Denn wenn seine Argumente stimmten, wäre alles egal: Zehn Augen, sechs oder eines. Damit stellt er – unfreiwillig – das ganze Prinzip in Frage, dem er doch eigentlich einen Ewigkeitsschimmer verleihen will.
Was soll, wenn keine Fehler übersehen werden, das Vier-Augen-Prinzip? Wieso soll die Fehlervermeidung durch das Lesen von zwei statt einem Richter gesteigert werden, nicht aber durch das Lesen von drei statt zwei oder von fünf statt drei? Warum lesen in Urteilsverfahren alle Richter die Revisionsakte?
2/2: Wunder als Funktionsprinzip des Rechtsmittelverfahrens?
Nehm meint: Die Revisionsrichter sollten, statt Akten zu lesen, lieber ihre "eigentlichen Aufgaben" erfüllen. Was könnte das sein? Nach Nehms zutreffender Ansicht gehören Herstellung von Rechtseinheit und Rechtsfortbildung dazu. Er tut freilich so, als stünden diese beiden Aufgaben in Konkurrenz zur höchstrichterlichen Aufgabe "Genauigkeit". Das ist ein Trick: Rechtsfortbildung und Rechtseinheits-Sicherung stehen nicht neben der Genauigkeit, sondern neben der Einzelfallgerechtigkeit. Und die hat mit Genauigkeit sehr viel zu tun.
Was ist mit den Senats-Vorsitzenden, die alle Revisionsakten lesen? Würde dies die Erfüllung der "eigentlichen Aufgaben" hindern, hieße das, dass gerade die Allerhöchsten der Höchstrichter nur belangloses Zeug treiben.
Oder sollte es sich bei ihnen um Übermenschen handeln, die vom Moment ihrer Ernennung an – zu einer Zeit, da sich die menschlichen Kräfte schon gen Ruhestand neigen – plötzlich sechsmal so viel lesen und verstehen können wie andere Bundesrichter, zugleich noch die "eigentlichen" Aufgaben erfüllen, alle Sitzungen leiten und den Senat führen können? Darf man Wunder zum Funktionsprinzip eines Rechtsmittelverfahrens machen?
Offensichtlich unbegründet und die Realität
Schließlich bringt Nehm doch noch ein wenig Revisions-Inhalt: Beschlussverfahren seien für offensichtlich unbegründete Revisionen. Das ist erstaunlich falsch, denn die für begründet erachteten Revisionen fehlen.
Vor allem aber hat sich das Revisionsrecht vom Offensichtlichkeits-Kriterium bekanntlich seit Jahrzehnten verabschiedet. Heute kommen jährlich hunderte von Anträgen der Bundesanwaltschaft "im Ergebnis letztlich" zur Ansicht, das Verfahren des Tatgerichts sei "noch vertretbar" oder "jedenfalls nicht willkürlich" gewesen, das angefochtene Urteil beruhe "wohl" nicht auf einem festgestellten Rechtsfehler usw. – und sie stellen den Beschluss-Antrag, "um dem Senat alle Möglichkeiten offen zu halten".
Wenn Nehms Behauptung stimmen und die – vom Wortlaut des Gesetzes noch immer vorgeschriebene – Offensichtlichkeit des Ergebnisses entscheiden würde, müsste auf der Stelle der Anteil der Urteilsverfahren von fünf auf mindestens fünfzig Prozent gesteigert werden.
Vorschläge für mehr Prüfung sind keine ärgerliche Zeitverschwendung
Jeder Richter entscheidet völlig unabhängig darüber, wie er sich umfassende Sachkenntnis verschafft, sagt das Bundesverfassungsgericht. "Wer sich mit dem Vortrag des Berichterstatters nicht zufrieden geben will, mag künftig selber lesen", mäkelt Nehm. Freilich handele es sich nicht nur um eine Frage individueller Berufsauffassung; die Zahl der Strafsenate könne nämlich nicht beliebig vermehrt werden.
Nehms Duktus signalisiert nicht allein herrschaftlichen Unwillen, sondern wirft – unfreiwillig, aber eindrucksvoll – ein kleines Licht ins Dunkel der Praxis: Wer sich nicht, wie die Mehrheit, "zufrieden geben will", wird Sand im Getriebe, am Ende gar missbraucht er seine Unabhängigkeit. Wie viele Höchstrichter haben auf dem langen Weg nach oben die Kraft bewahrt, das jahrelang auszuhalten?
Unklar bleibt, wie Nehm auf eine beliebige Vermehrung von Senaten kommt. Niemand hat das verlangt; man erfährt auch nicht, wieso eine solche notwendige Folge der von ihm monierten Kritik sein soll. Zwar mag das Lesen von Voten oder Aktenauszügen zeitraubend sein. Gilt das nicht aber auch für das tagelange Anhören der Nacherzählungen von Senatskollegen?
Die fünf Strafsenate des BGH, die im Jahr 1989 am Rande ihrer Leistungsfähigkeit waren, bewältigten ab 1990 einen Zuwachs von 17 Millionen Bürgern - ohne jede Stellenvermehrung. Haben die Strafrichter des BGH seither 25 Prozent mehr gearbeitet? Sind alle Revisionen um 25 Prozent kürzer und leichter geworden? Nein: 25 Prozent mehr Revisionen werden in derselben Zeit von derselben Zahl von Richtern bearbeitet, und zwar mit derselben Genauigkeit. Es gibt Wunder!
Nehms Meinung, dass das derzeit praktizierte Vier-Augen-Prinzip ausreicht, wird bisher auch von einer Mehrheit der Strafsenatsmitglieder geteilt. Ich selbst vertrete eine andere Auffassung. Wenn darüber sachlich und mit Gründen gestritten wird, wird das die Ruhe der Bevölkerung nicht stören. Diese erwartet zu Recht, dass Revisionsrichter ihre Aufgabe erfüllen, bestmöglich über Revisionen zu entscheiden. Vorschläge zur Erhöhung der Prüfungstiefe sollte man nicht als ärgerliche Zeitverschwendung abtun.
Der Autor Prof. Dr. Thomas Fischer ist Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof.
Prof. Dr. Thomas Fischer, Revisionspraxis beim BGH: Sowieso egal? . In: Legal Tribune Online, 17.01.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/10681/ (abgerufen am: 06.05.2024 )
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