Dass auch in Zeiten moderner Überwachungstechnik und omnipräsenter Mobiltelefone Menschen einfach spurlos verschwinden können, zeigen nicht allein die Fälle rätselhaft verschollener Verkehrsflugzeuge. Das 20. Jahrhundert brachte viele grauenhafte Ereignisse, um die Lücken des deutschen Verschollenheitsrechts unter Beweis zu stellen. Von einem makabren Fall aus dem März 1955 erzählt Martin Rath.
Wenn die Schwägerin mit dem Schwager über den Todeszeitpunkt von Frau, Kindern und Schwiegermutter des Mannes streitet, bewegen wir uns im klassischen Drama oder in der jüngeren Rechtsgeschichte. Die Angelegenheit, die der Beschluss des Bayerischen Obersten Landesgerichts (BayOLG) vom 22. März 1955 dokumentiert (Az. BRega 2 Z2, 10-52-54/55), könnte tragisch genannt werden, wäre das Adjektiv "tragisch"" durch das Mediengeplapper nach jedem unschönen Verkehrsunfall nicht so furchtbar abgenutzt.
Man kann sich für den folgenden Sachverhalt aber unschwer auf das Adjektiv "makaber" einigen: Am 13. Mai 1945 waren nach Angaben des BayOLG-Beschlusses die Bäuerin Wilhelmine S. und deren Tochter Wilma H. durch Suizid verstorben. Damit nicht genug: "Die beiden Frauen nahmen auch ihre Kinder bzw. Enkelkinder Karl-Heinz und Günther H. mit in den Tod."
Melitta L., die Tochter bzw. Schwester der Suizidentinnen, beantragte 1952, dass als Zeitpunkt des Todes der vier Personen der 13. Mai 1945 festgestellt werden solle. Diesem Antrag entsprach das zuständige Amtsgericht nach verschollenheitsrechtlichen Normen. Der verwitwete Ehemann und seiner Söhne beraubte Vater Karl H. beantragte 1953 dagegen, die Todeszeitfeststellung dahingehend zu ändern, dass "die Kinder Karl-Heinz und Günter am 13.5.1945 erst nach ihrer Mutter Wilma H. gestorben sind".
Verschollenheitsrecht in den Randzonen des Krieges
Schwager und Schwägerin trugen ihre Auseinandersetzung hier auf der Grundlage des Verschollenheitsrechts aus. Artikel 2 § 1 Absatz 1 Verschollenheitsänderungsgesetz (VerschÄndG v. 15.1.1951, BGBl. I, S. 59) besagt: "Wer vor dem 1. Juli 1948 im Zusammenhang mit Ereignissen des letzten Krieges vermißt worden und seitdem unter Umständen, die ernstliche Zweifel an seinem Fortleben begründen, verschollen ist, kann für tot erklärt werden."
Die Schwägerin erhielt die genannte verschollenheitsrechtliche Feststellung und beantragte die Erteilung eines Erbscheins. Der Witwer und verwaiste Vater, dem unabhängig davon die Todesurkunden zu Frau und Kindern bereits vorlagen, sah sich, hier wird es nun ein bisschen makaber, in seinen rechtlichen Interessen verletzt: Nach seinem Kenntnisstand waren seine Kinder nach ihrer Mutter verstorben, die folglich, wie der BayOLG-Beschluss weiterdenkt, "von ihm und ihren Kindern beerbt und er wiederum Alleinerbe der Kinder sei".
Nachlasskalkulationen unter Verschollenheitsbedingungen
Nach dem Kalkül des Mannes war also der ganze Nachlass seiner Frau auf ihn übergegangen. Das entgegengesetzte Kalkül der Schwägerin: Sollten die Kinder vor oder zugleich mit ihrer Mutter verstorben sein, wäre ihr Schwager neben ihr als Verwandter der 2. Ordnung nur zur Hälfte an der Erbschaft seiner Frau beteiligt.
Ein Zeuge hatte einen der Söhne allerdings "in den Vormittagsstunden des 13.5.1945 noch weinend und schreiend" mit den Worten gehört: "Die Oma hat jetzt die Mutti tot gemacht", doch war dies nach den verschollenheitsrechtlichen Feststellungen zunächst unerheblich. Das Amtsgericht hatte hier auf § 11 Verschollenheitsgesetz (VerschollG) zurückgegriffen: "Kann nicht bewiesen werden, daß von mehreren gestorbenen oder für tot erklärten Menschen der eine den anderen überlebt hat, so wird vermutet, daß sie gleichzeitig gestorben sind."
Diese Ungenauigkeit der amtsgerichtlichen Feststellung wurde vom Bayerischen Obersten Landesgericht im Beschluss vom 22. März 1955 allerdings ebenso getadelt wie der Griff zu einer weiteren Legalfiktion, § 9 Abs. 4 VerschollG: "Ist die Todeszeit nur dem Tage nach festgestellt, so gilt das Ende des Tages als Zeitpunkt des Todes."
2/2: Zivilisten als Kriegsverschollene
Nun wird sich der geneigte Leser vielleicht fragen, warum sich die bayerische Justiz des Jahres 1955 auf die Ungenauigkeiten von Legalfiktionen nach dem Verschollenheitsrecht einließ, statt medizinisch-forensisch Beweis zu erheben, zumal der Witwer Todesurkunden beibringen konnte. Ein Teil der Antwort ist nachzuliefern: Die Bäuerin Wilhelmine S., ihre Tochter Wilma und die Enkelsöhne Karl-Heinz und Günther fanden ihren Tod auf einem Gehöft, das auf dem Gebiet des mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs wiederbelebten Völkerrechtssubjekts Tschechoslowakei lag – einfacher gesagt: im sogenannten Sudetenland, dem bis dahin deutschsprachigen Teil der Böhmens und Mährens, der 1939 vom Deutschen Reich annektiert worden war.
Der spätere SPD-Politiker Peter Glotz (1939-2005), selbst Kind einer böhmisch-deutschen Familie, beschreibt die Zeit vor der systematischen Vertreibung der Sudetendeutschen, namentlich jenen Mai 1945, der den bayerischen Richtern am 22. März 1955 vor Augen stand, als eine Zeit völliger Verrohung und Rache: "Vierzehnjährige Jungen auszupeitschen und anschließend zu erschießen, weil sie aus Hunger Äpfel vom Baum gestohlen hatten, ist ein Verbrechen, selbst wenn diese Burschen die Söhne von Verbrechern gewesen sein sollten. Sicher war nur, dass sie die Söhne von Deutschen waren." Glotz hält fest, dass "solche Verbrechen tausendfach vorkamen" – und dem politischen Kalkül der Beseitigung von 3,5 Millionen deutschsprachiger Menschen aus der Tschechoslowakei entsprachen.
In der räumlichen und seinerzeit noch zeitlichen Nähe vertrat das Bayerische Oberste Landesgericht die Rechtsauffassung, dass auch die Flucht vor dieser Menschenschinderei in die Selbsttötung unter Art. 2 § 1 Abs. 1 VerschÄndG zu subsumieren ist. Der Suizid wegen der drohenden wilden Enteignung und Folter galt als "im Zusammenhang mit Ereignissen des letzten Krieges vermißt".
Verschollenheitsrecht: ein Massengeschäft wird normiert
Um die Masse der unaufgeklärten, im gewaltsamen Detail oft unaufklärbaren Todesfälle des Zweiten Weltkriegs personenstands- und erbrechtlich abschließen zu können, gaben Gesetz und höchstrichterliche Entscheidungspraxis auch hier eine großzügige Subsumtion unter das Verschollenheits- beziehungsweise das noch etwas weitere Verschollenheitsänderungsgesetz vor.
Damit sind sie Teil einer Gesetzgebungsgeschichte, das sich als Versuch lesen lässt, der bestialischen Szenen des 20. Jahrhunderts wenigstens personenstandsrechtlich Herr zu werden.
Im ursprünglichen Zustand der §§ 13 bis 20 Bürgerliches Gesetzbuch und der §§ 960-976 Civilprozeßordnung (Rechtsstand: 1.1.1900-TT.MM.1939) nimmt sich das Verschollenheitsrecht nachgerade niedlich aus. Beispielsweise unterschied § 16 Abs. 2 BGB, ob das Schiff eines mutmaßlich Verstorbenen im der Ostsee, dem Mittelmeer oder einem entfernteren Gewässer untergegangen war.
Im Ersten Weltkrieg beschleunigte die Kriegsverschollenenverordnung vom 18. April 1916 (RGBl. S. 296) das Todesfeststellungsverfahren, begrenzte dieses aber auf den geografischen Raum der Schlachtfelder und Schützengräben und die beteiligten Streitkräfte. Ihr § 17 unterstellte, dass es immer noch verantwortliche Offiziere gab, die das Verfahren durch amtlich gesiegelte Urkunden über militärische Gefahrensituationen aufzuklären helfen.
Das Verschollenheitsgesetz von 1939 schrieb eine novellierte Kriegsverschollenenverordnung von 1917 fort (RGBl. S. 702 bzw. 704), wonach die Staatsanwaltschaft im zuvor rein zivilprozessual aufgebauten Verschollenheitsverfahren zu beteiligen ist. Bereinigt um jene Vorschriften, die im Sommer 1939 die personenstandsrechtliche Übernahme der "Ostmark" Österreich sowie des "Reichsgaus Sudetenland" regelten (Verschollenheitsgesetz v. 4.7.1939, RGBl. I S. 1186), ist es, leicht überarbeitet und neu herausgegeben, seit 1951 das geltende Recht (BGBl. I S. 63).
Juristisches "Palimpsest"
Die ursprünglichen Paragraphenziffern des BGB-Verschollenheitsrechts hat der Gesetzgeber im Jahr 2002 neu verwendet, das Gesetz wirkt hier nun ein wenig wie ein Palimpsest, eine antike, mehrfach überschriebene Urkunde. Wie viel "zivilistische" Substanz dem deutschen Recht im 20. Jahrhundert verlorgenging, dazu geben die §§ 13 bis 20 BGB und §§ 960 bis 976 der Civilprozeßordnung Anschauungsmaterial.
Der Fall des sudetendeutschen Familienselbstmords mit dem anschließenden etwas makabren verschollenheits- und erbrechtlichen Nachspiel, das der Beschluss des Bayerischen Obersten Landesgerichts vom 22. März 1955 dokumentiert, gibt einen Fingerzeig auf die bestialischen Vorgänge der letzten Kriegs- und der ersten sogenannten Friedensmonate 1945 bis 1948. Man vergisst das gern, wenn aktuell Entschädigungsforderungen diskutiert werden.
Unwillkürlich fragt man sich – mit der Arroganz von 60 Jahren Zeitabstand –, um welches Erbe sich Schwager und Schwägerin wohl gestritten haben könnten. Um einen Bauernhof in Böhmen, den beide nie wiedersehen würden? Bestenfalls Forderungen aus dem Lastenausgleich?
Von den zwölf bis 14 Millionen Menschen, die zwischen 1945 und 1949 aus den sogenannten Ostgebieten auf das spätere Gebiet der Bundesrepublik Deutschland flohen, kam die Mehrzahl ohne solche Gerichtsverfahren aus. Zumeist mangels Masse. Ihre Enkel und Großenkel hören heute von Kredit-, Schadensersatz- und Reparationsforderungen aus jener Zeit und wundern sich.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.
Martin Rath, Rechtsgeschichten: Sicher tot und doch verschollen . In: Legal Tribune Online, 22.03.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/15002/ (abgerufen am: 03.05.2024 )
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