Ein katholisches Krankenhaus verweigerte einer wohl sexuell missbrauchten jungen Frau nach einem Tanzabend die Untersuchung, weil das Personal wegen der "Pille danach" moralische Bedenken hatte. An dieser Meldung interessiert Martin Rath am meisten der Tanz, den ein Pfarrer verbieten wollte, dessen Organe nun auf Reisen sind, statt juristisch korrekt bestattet zu werden. Wundersame Nebenspuren.
Vor bald sieben Jahren lief im US-amerikanischen Fernsehen eine Folge der meist witzigen, oft auch aberwitzigen Serie "Boston Legal", in der das Thema aufgegriffen wurde: In der fiktiven Geschichte wurde die 18-jährige Amelia Warner nach einer Vergewaltigung in ein katholisches Krankenhaus eingeliefert. Die Ärzte verweigerten ihr die "Pille danach" aus ethischen Gründen, Amelia wird schwanger und verklagt die Klinik mithilfe der bizarren Anwältinnen und Anwälte von "Crane Poole & Schmidt" auf Schadensersatz.
Dieser Tage ging zunächst durch die lokale Presse, dann durch die überörtlichen Medien eine Meldung, die einen ähnlichen Fall thematisierte: Eine junge Frau war nach einer Nacht auf der linksrheinischen "Party-Meile" der Stadt Köln in einer Seitenstraße im Rechsrheinischen wachgeworden. Der hinzugezogenen Notärztin kam der Verdacht, die Frau könnte "K.O."-Tropfen und einem sexuellen Übergriff zum Opfer gefallen sein. Obwohl ihr die "Pille danach" bereits verschrieben worden war, verweigerte nun ein Krankenhaus in Stiftungsträgerschaft der "Cellitinnen zur heiligen Maria" sogar eine rein gynäkologische Untersuchung.
Heiliger Kämpfer gegen die Sünde des Tanzens
Die juristischen Aspekte des Falls werden sicher bald schon Gegenstand von akademischen Übungen sein. Von Fragen des kirchlichen Arbeitsrechts, das einer echten Gewissensentscheidung des ärztlichen Personals hier kaum Raum zu geben schien, über strafrechtliche Fragen bis hin zur politisch beziehungsweise staatskirchenrechtlich virulenten Frage, ob der tendenziell säkulare Staat von konfessionellen Unternehmen der Krankenbehandlung oder des Unterrichtswesens bekommt, was er mit seinen Subventionen bezahlt, ist hier alles vorhanden, womit man Dritt- bis Achtsemester rechtswissenschaftlicher Fakultäten quälen kann.
Uns hat hier hingegen ein Aspekt neugierig gemacht, auf den man wirklich erst einmal kommen muss: Die junge Frau des Kölner Skandal-Falls war offensichtlich zum Tanzen unterwegs gewesen. Dieser Umstand führt auf ein ganz merkwürdiges Problem zwischen Recht und Religion, das als ein wirklich gutes Geheimnis zu greifen war – wirklich gut, weil der Anlass ebenso publik wurde wie er ignoriert blieb.
Im jüngst veröffentlichten Tagebuch von Peter Sloterdijk findet sich zum 19. Juni 2009 der Eintrag, dass Papst Benedikt XVI. soeben "das balsamierte Herz des Pfarrers, der seinen Schäfchen die Kommunion verweigerte, wenn sie tanzen gingen, nach Rom bringen [ließ], um den Schatz an magischen Pfändern des Antimodernismus zu vergrößern".
Welcher Priester seinen Pfarrkindern das Tanzen verbot, verrät der Karlsruher Philosoph zwar nicht, ein wenig Recherche im katholischen Heiligenkalender gibt aber rasch Aufschluss: Es handelt sich um Jean-Marie Vianney, der als der "Heilige Pfarrer von Ars" bekannt wurde, geboren 1786, am Vorabend der Revolution in Frankreich, im Örtchen Dardilly bei Lyon. Gestorben 1859 in Ars-sur-Formans. In seiner Pfarrei mühte sich der Mann offenbar erfolgreich, die in Revolutionszeiten abspenstig gewordenen Dorfbewohner wieder ins Kirchenleben zu integrieren, als populärer Beichtvater kam er der Legende nach kaum aus dem Beichtstuhl heraus – und er kämpfte mit allen Mitteln gegen Trunk und Tanz, letzteres mit durchaus wahnhaften Zügen: "Der Tanz ist jener Strick, mit dem der Teufel die meisten Seelen in die Hölle zieht. Wer zum Tanzen geht, lässt vielfach seinen Schutzengel an der Türe zurück und der Teufel ersetzt ihn, so dass es im Tanzsaal alsbald ebenso viel Teufel wie Tänzer und Tänzerinnen gibt".
Drei Jahre nach seinem Tod wurde für Vianney ein Seligsprechungsverfahren eingeleitet, 1872 erklärte ihn der Papst für verehrungswürdig und am 17. Juni 1904 geschah – ein Jahr vor der Seligsprechung – etwas, das heute zu juristischen Werturteilen einlädt: Ein Jahr vor der Seligsprechung wurde der Leichnam Vianneys exhumiert, man stellte "die körperliche Unverwestheit des Heiligen" fest. – Die Heiligsprechung erfolgte 1925 und 1929 wurde Jean-Marie Vianney zum "Patron aller Pfarrer der Welt" ernannt, also zu einer Art Schutzgeist für katholische Priester.
Das bliebe bloß eine teils bizarre Geschichte, selbst wenn sie im Kampf zwischen römischer Kirche und französischem Staat ihre Rolle spielte – kaum zufällig fand die Seligsprechung des lustfeindlichen Landpfarrers aus dem Lyonnais in eben jenem Jahr statt, in dem die "Loi relative à la séparation des Eglises et de l’Etat" verabschiedet wurde, die bis heute nachwirkende Trennung von Kirche und Staat in Frankreich mit ihrem weitgehenden Ausschluss der Konfessionen aus dem bekenntnisneutralen öffentlichen Raum.
2/3: Gelsenkirchener Kinder und abgetrennte Körperteile im Bestattungsrecht
Bemerkenswert, aber ohne den Hinweis Sloterdijks und die Meldung vom traurigen Kölner Konfessions-Fall außerhalb einschlägig interessierter Kreise unbemerkt, ging in den vergangenen Jahren ein Leichenteil auf Reisen: Nicht allein nach Rom wurde das Herz Vianneys 2009 gebracht, sogar durch katholische Gemeinden Englands tourte es und – wer hat das eigentlich mitbekommen? – auch durch deutsche Lande wurde die Reliquie (zu Deutsch: "Überbleibsel") gefahren.
Am 29. März 2010 wurde das Überbleibsel Vianneys beispielsweise nach Gelsenkirchen gebracht, was sich im Internetauftritt des katholischen Rundfunks so liest: "ca. 21.00 Uhr Ankunft der Herz-Reliquie, Stille Gebetszeit 22.00 Uhr Komplet anschl. gestaltete Gebetszeit bis 23.00 Uhr, 23.00-24.00 Uhr Möglichkeit zum stillen Verweilen in der Kirche" und am nächsten Tag: "10.00 Uhr Kinder besuchen die Kirche, 12.00 Uhr Gebetsstunde…", insgesamt zwei dicht gefüllte Tage mit einer Reliquie, die für den außenstehenden Beobachter zunächst einmal eines ist (und wahrscheinlich bleibt): ein Leichenteil.
Im Zusammenhang mit den Gelsenkirchener Kindern, die dem Überbleibsel des heiligen Manns zugeführt wurden, fällt auf, wie unsäglich dämlich eine Formulierung im Bestattungsgesetz des Landes Nordrhein-Westfalen gewählt wurde: "Jede Frau und jeder Mann haben die Ehrfurcht vor den Toten zu wahren und die Totenwürde zu achten." (§ 7 Abs. 1 BestG NRW). Kinder, die sich am 30. März 2010 respektlos verhalten hätten, wären folglich vom Recht des Landes NRW schwer zu fassen gewesen. Aber die Verwunderung hat selbstredend eine andere Wurzel, denn es heißt in § 8 Abs. 2 BestG NRW: "Die Inhaber des Gewahrsams haben zu veranlassen, dass Leichenteile, Tot- oder Fehlgeburten sowie die aus Schwangerschaftsabbrüchen stammenden Leibesfrüchte, die nicht nach § 14 Abs. 2 bestattet werden, ohne Gesundheitsgefährdung und ohne Verletzung des sittlichen Empfindens der Bevölkerung verbrannt werden." Die entsprechende Vorschrift zum Beispiel im Landesrecht von Baden-Württemberg lautet: "Abgetrennte Körperteile sind, soweit sie nicht bestattet werden, hygienisch einwandfrei und dem sittlichen Empfinden entsprechend zu beseitigen, soweit und solange sie nicht wissenschaftlichen Zwecken dienen." (§ 30 BestattG BW).
Warum wurde das 1904 aus Sarg und Körper geschälte Herz des französischen Priesters nicht bei einer seiner zahlreichen Touren durch deutsche Bundesländer dorthin verbracht, wo Leichenteile üblicherweise landen, im Grab oder in einem Krematorium?
Eine mögliche Rechtfertigungsstrategie für behördliche Interventionsunlust zeichnete eine ähnlich moderne Darbietungsform von Leichenteilen vor: Seit 1997 ging die "Körperwelten"-Ausstellung mit plastinierten Leichen des Anatomen Gunther von Hagens auf Wanderschaft und zog allein in Deutschland ein Millionenpublikum an. Ernst Benda (1925-2008), der langjährige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, mokierte sich in der "Neuen Juristischen Wochenschrift" ein wenig darüber, dass die Mannheimer Ordnungsbehörden überhaupt keine Bedenken äußerten, während sich das Kölner Ordnungsamt bei einer Station der "Körperwelten" darauf hinausredete, dass "die Ausstellungsstücke als so genannte Plastinate nach Nordrhein-Westfalen gekommen [sind], und das sind keine Leichen mehr" (NJW 2000, S. 1.769-1.771). Benda damals wörtlich: "Das ist eine verblüffende Feststellung: Anatomische Präparate sind deswegen keine Leichen, weil sie, im Gegensatz zu diesen, unverweslich und damit, wie mir Professor v. Hagens geschrieben hat, für die Feuer- und Erdbestattung 'ungeeignet' geworden sind."
3/3: Wo haben heilige Leichenteile juristisch Platz?
Bemerkenswert ist, dass sich sogar die Kirche mit ihren eigenen "Überbleibseln" nicht recht anzufreunden scheint. Canon 1190 des Codex Iuris Canonici verbietet es zwar, "heilige Reliquien zu verkaufen" oder bedeutende Überbleibsel ohne vatikanische Erlaubnis zu veräußern oder dauerhaft an einen anderen Ort zu verbringen, eine positive oder Legaldefinition des "Überbleibsels", die sie von der Bestattungs- beziehungsweise Entsorgungspflicht ausnähmen, liegt aber – soweit erkennbar – außerhalb des deutschen Strafrechts nicht vor.
So befasst sich das deutsche Strafrecht mit Reliquien, indem beispielsweise § 304 Abs. 1 Strafgesetzbuch (StGB) "Gegenstände der Verehrung einer im Staat bestehenden Religionsgesellschaft" zu Objekten der "Gemeinschädlichen Sachbeschädigung" erklärt. Das hebelt immerhin das profane Landesrecht aus, entlässt aber niemanden aus Wertungsfragen. Und das StGB befasst sich mit der Reliquienverehrung, die es zu jenen "Gebräuchen" zählt, die gemäß § 166 Abs. 2 StGB vor friedensgefährdender "Beschimpfung" geschützt sind. Eine positive Klärung dessen, was Reliquie oder Reliquienverehrung sei, fehlt aber offenbar dem Kirchen- wie dem staatlichen Recht.
Im Schönke-Schröder, dem beliebten Strafrechtskommentar, werden zu § 166 beispielsweise zwei Fundstellen zur Reliquienverehrung genannt, Urteile des Reichsgerichts aus Zeiten, als Meinungs- und Pressefreiheit nicht zu den juristischen Kleinodien zählten und leider geht es ihnen auch nicht um Leichenteile, sondern bloß um Textilien. In Trier wird von Zeit zu Zeit die angebliche Unterwäsche von Jesus Christus (ca. 4 v.Chr.-30/31 n.Chr.) präsentiert, was in beiden Reichsgerichtsurteilen thematisiert wird. Dem Urteil vom 24. November 1891 (Az. IV 2470/91, RGSt 22, 238) lag etwa zugrunde, dass ein Redakteur im schlesischen Beuthen Geschehnisse rund um die "Ausstellung des heiligen Rocks zu Trier" als „Humbug“ bezeichnet hatte, was sich als unbedingt strafwürdig herausstellte.
Ein weiteres Urteil des Reichsgerichts in Reliquiendingen kommt der Sache immerhin etwas näher, indem es zwar keine "dogmatische Fixierung des Gebrauchs" eines Gegenstands als Objekt religiöser Verehrung verlangt, immerhin aber feststellt, dass die "Verehrung der Reliquie" jeweils "thatsächlich unter Billigung der kirchlichen Autorität in bestimmten Kultusakten geübt" werden müsse, um sich als strafrechtlich geschützter "Brauch" darzustellen (RGSt 24, 12-22 v. 13./20.2.1893, Az. 4117/92).
Interessanterweise fiel das Bundespatentgericht im vergangenen Jahr in einer Entscheidung zum Markenschutz eines Emblems der "Heiligen Hildegard von Bingen" ein bisschen hinter das reichsgerichtliche Erfordernis der "Billigung kirchlicher Autorität" zurück: Die in esoterischen wohl noch mehr als in kirchlichen Kreisen verehrte Kräuter-Nonne Hildegard (1098-1179) wurde vatikanamtlich – nach mehr lokaler und gelegentlicher Verehrung in der Zwischenzeit – erst am 10. Mai 2012 für weltweit verehrungswürdig erklärt. Das Bundespatentgericht erkannte dagegen in einer harmlosen Kinderzeichnung von der Heiligen ein Eintragungshindernis, weil sie "religiös anstößig" sei und "geeignet ist, das religiöse Empfinden derjenigen Gläubigen zu verletzen, die Hildegard von Bingen wegen ihres Lebens und ihrer Lehren als Heilige verehren". Die Markenentscheidung datiert vom 28. März 2012 (Az. 28 W pat 81/11) und kommt somit ohne die vatikanamtliche Approbation der auch von Esoterikern und Feministinnen angehimmelten Nonne aus.
"Ein Stamm von Menschenfressern inmitten Deutschlands"
Die Leiche eines französischen Priesters aus dem 19. Jahrhundert, dem man heutzutage vermutlich auch in Kreisen seiner Kirche eher mit dem Rat einer psychiatrischen Untersuchung als mit kritikloser Verehrung begegnen würde, wird 1904 exhumiert, sein Herz extrahiert. 1905 wird der Mann zum Heiligen erklärt, nicht zuletzt, weil sich seine Kirche mit dem Gesetz der säkularen Republik Frankreich schwertut.
Seit einigen Jahren geht ein Leichenteil, sein Herz, auf Reisen auch durch deutsche Lande. Vor der Bestattungs- oder Kremierungspflicht schützt es das deutsche Strafrecht, das die Anerkennung als "Gegenstand religiöser Verehrung" aber im Wesentlichen wohl darauf stützen muss, dass die Katholiken einen neumodischen Reisereliquienkult erfunden haben, dem kein Ordnungsamt eine kirchenamtliche Approbation abverlangt haben dürfte.
Der Journalist Jan Ross, der für eine recht fromme Wochenzeitung arbeitet (er schreibt für "Die Zeit") kritisierte unlängst die sogenannte "Beschneidungsdebatte" des Jahres 2012: Der deutschen Gesellschaft sei die religiöse Grundbildung derart abhandengekommen, dass viele vom jüdischen und muslimischen Ritual überrascht so gewesen seien, als habe man im Herzen Deutschlands einen unbekannten Stamm von Menschenfressern entdeckt.
Ein Leichenteil auf religiös begründeter Tournee durch die Gemeinden der größten inländischen Religionsgesellschaft – das sollte doch auch einmal überraschen. Mehr jedenfalls als der zwar traurige, aber doch sehr vorhersehbare Fall, dass ein katholisches Krankenhaus das Dogma seiner Kirche in eine – wie ich finde: sehr hässliche – Medizin- und Arbeitsrechtspraxis umsetzt.
Peter Sloterdijk führt, vielleicht etwas boshaft, die Zuneigung des amtierenden Papstes zum "Priester von Ars" übrigens auf eine ganz allgemeine anti-moderne Tendenz in der Führung der großen christlichen Religionsgesellschaft zurück. Was und wie viel davon im Arbeits-, Medizin- oder Staatskirchenrecht ankommt, ist gottlob eine Entscheidung, die inländische Juristen zu treffen haben.
Martin Rath, Wertungsprobleme: Ein heiliges Herz auf Deutschlandtour . In: Legal Tribune Online, 20.01.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/8001/ (abgerufen am: 02.05.2024 )
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