Nach 1945 blickte Deutschland bewundernd auf die Reformpolitik in Schweden. Ein Fall von "Abtreibungstourismus" aus dem Jahr 1965 bringt uns den Vermittler dieser deutschen Schweden-Liebe etwas näher. Schwedische Abgründe kamen erst später.
Der 29-jährige, schwedische Student Hans Nestius löste im Jahr 1965 eine für die Verhältnisse seines Heimatlandes heftige politische Auseinandersetzung aus, die zur Anwendung eines staatsrechtlich zweifelhaften, außerordentlichen Eingriffs in die Strafrechtspflege führte.
Wie heftig die Auseinandersetzung tatsächlich war, ist schwer zu beurteilen. Weniger wegen des Abstands der 50 Jahre, die seither vergangen sind. Nur heißt es, dass in dem Parlament, das sich der Sache Nestius annehmen musste, Beifallskundgaben unüblich sind – im Vergleich zum Reichstag des Königreichs Schweden muss der Bundestag mit seinen lautstarken Abgeordneten südländisch wirken.
Schwangerschaftsabbruch in Schweden
Hans Nestius, Funktionär des "Liberalen Studentenverbands Schwedens" hatte beim laienhaften Blick ins Gesetz zutreffend festgestellt, dass in Polen, der Tschechoslowakei und dem – freilich allzu fern liegenden Japan – "freiere Regelungen als in Schweden existieren". Freiere Regelungen, was den damals im skandinavischen Königreich grundsätzlich verbotenen Schwangerschaftsabbruch betraf. Nach einem Gesetz vom 17. Juni 1938 war der Schwangerschaftsabbruch zwar aufgrund "medizinischer, eugenischer, humanitärer (ethischer) und sozial-medizinischer Indikation" genehmigungsfähig.
Dass die Anträge zu den 2.500 bis 3.000 jährlich genehmigten Abbrüchen zu 70 Prozent von verheirateten Frauen stammten, ließ zeitgenössische Beobachter darauf schließen, dass die "Zahl der kriminellen Abtreibungen […] unzweifelhaft ein Vielfaches davon" betrage.
Blick ins Gesetz verwirrt die Rechtserkenntnis
"Nestius hat als Gegner der restriktiven schwedischen Vorschriften", heißt es in der "Juristenzeitung" (JZ) in Deutschland, wo der § 218 Strafgesetzbuch (StGB) im Jahr 1965 noch ein zwingendes, mit Zuchthaus bedrohtes Verbot formuliert, "in seinem Wunsch, Frauen zu helfen und sie vor kriminellen und riskanten Kurpfuscher-Eingriffen zu bewahren, einer Reihe von schwedischen Schwangeren die Anschriften polnischer Ärzte vermittelt".
Vom neutralen Schweden ins sozialistische Polen ist es nur eine Fahrt mit der Ostseefähre, das kommunistische Land im Süden Schwedens hat bereits 1959 den Schwangerschaftsabbruch von der bloßen Erklärung der Schwangeren gegenüber dem Arzt abhängig gemacht, in einer schweren Lebenssituation zu sein.
Die schwedische Staatsanwaltschaft ermittelte gegen Nestius, obwohl dieser "und die anderen Beteiligten in der festen Überzeugung gehandelt hatten, sich nicht strafbar zu machen". Das schwedische Strafgesetzbuch sah – entgegen der Auffassung des womöglich wirklich gutgläubigen – Studenten die Strafbarkeit der Auslandstaten der Schwedinnen vor. Den Verdacht eines provozierten Skandals entkräftet der Berichterstatter der JZ damit, dass "die kompliziert gefaßten Vorschriften über die örtliche Geltung des Strafgesetzbuches […] den schwedischen Juristen wenig, den Nichtjuristen fast nie bekannt" seien.
Abtreibungstouristinnen und Spanien-Kämpfer
Wegen der Strafverfolgung gegen ihre Kommilitonen verteilten Studenten auf den Straßen Stockholms 30.000 Flugblätter, Presse, Radio und Fernsehen interessierten sich brennend für den Fall. "Im Hinblick darauf entschloß sich die schwedische Regierung im Einvernehmen mit dem Reichsankläger das Rechtsinstitut der Abolition anzuwenden, das sonst nur in den staatsrechtlichen Lehrbüchern ein wenig beachtetes Dasein führt", berichtet Gerhard Simson in der JZ.
Damit wird der Fall Nestius endgültig – unter gleich drei Aspekten – zu einer Rechtsangelegenheit, die sich Hochschullehrer sonst für ihre juristischen Erstsemesterveranstaltungen ausdenken müssen. Erster Aspekt: die Auslandsgeltung des inländischen Strafrechts. Als zweiter Aspekt folgt ein wenig angestaubtes Staatsrecht in Aktion. Die schwedische Regierung unter dem sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Tage Erlander (1901-1985, im Amt: 1946-1969) verfügt mittels Regierungsbeschlusses, dass die Strafverfolgung für einen unbestimmten Personenkreis, von dem hier nicht zufällig Hans Nestius erfasst wird, niederzuschlagen.
Die Kompetenz der Regierung wird dabei hergeleitet aus dem Gnadenrecht des Königs, mit einem vergleichbaren Abolitionsbeschluss waren 1938 Verfahren gegen schwedische Freiwillige beendet worden, die als Angehörige der Internationalen Brigade am spanischen Bürgerkrieg teilgenommen hatten.
Deutschschwedische Vermittlung schwedischer Gardinen
Der Beschluss in der Sache der schwedischen Abtreibungsreisenden und ihres studentischen Vermittlers wurde im Stockholmer Reichstag verhandelt, das Plenum kam aber mit 118 gegen eine Stimme zu dem Urteil, das Verhalten der Regierung sei nicht zu beanstanden – obwohl die politischen Meinungen zuvor heftig ausgetragen wurden, vermutlich aber eben nur so heftig, wie es in einem Parlament zugeht, in dem das Händeklatschen als südländischer Temperamentsausbruch gilt. 118 zu 1, man mag sich das merken, wenn wieder einmal der böse Konformitätsdruck beklagt wird, der heutzutage angeblich durch die "politische Korrektheit" herrscht.
Der dritte Aspekt, der den Fall zu einem didaktisch besonders wertvollen macht, wurde noch nicht erwähnt. Es ist der Name, genauer gesagt, es sind die Amtsbezeichnungen, mit denen der Berichterstatter aus Schweden damals den interessierten Juristen in Deutschland vorgestellt wurde: "Dr. Dr. h.c. Gerhard Simson. Ministerialrat im Schwedischen Justizministerium, Deutscher Leit. Regierungsdirektor a.D."
Der 1902 in Berlin geborene Gerhard Simson schied 1939, wie das biografische Lexikon "Munzinger" in mageren Auskünften mitteilt, "wegen seiner oppositionellen Einstellung aus dem deutschen Staatsdienst und siedelte nach Schweden über". In Deutschland hatte der promovierte Jurist es bis zum Regierungsdirektor gebracht. In Schweden war er, wie die "Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft" 1951 in nicht ganz zeittypischen Stolz über exilierte Juristen mitteilt, einer der engeren Mitarbeiter des langjährigen schwedischen Justizministers und Hofgerichtspräsidenten Karl Schlyter, einem der wichtigsten Strafrechtsreformer Schwedens.
Arme Deutsche lernen bei den reichen Schweden
Nach 1945 muss sich Simson einige Verdienste nicht nur um die Vermittlung der schwedischen Reformen unter westdeutschen Juristen erworben haben. Deren Rückkehr in die internationale "Scientific Community" fiel nach dem Ende des NS-Staats nicht überall leicht. Die Kollegen im westlichen Ausland hatten gewiss im Blick, wie viel Selbstverdummung deutscher Wissenschaftler in der zeitgenössischen Idee lag, "von Hitler verführt" worden zu sein.
Simson lieferte, gestützt auf die fortschrittliche schwedische Perspektive, zahlreiche Übersichtsbeiträge zur Rechtsentwicklung in der Welt, vor allem zu modernen, vom Gleichberechtigungsprinzip getragenen Rechtspositionen von Frauen, beispielsweise im Staatsangehörigkeitsrecht, oder zu anderen heiklen Themen, wie dem Ehescheidungs- oder eben dem Recht des Schwangerschaftsabbruchs. Von Stockholm aus forschte es sich leichter als in den Trümmerlandschaften deutscher Großstädte. Und es ließ sich leichter Reformpolitik treiben.
Der bekannte Strafrechtskommentator Adolf Schöne bemerkte beispielsweise 1949 fast verwundert, dass in Schweden die Zahl der Ersatzfreiheitsstrafen von über 13.000 im Jahr 1932 auf 313 im Jahr 1944 gesunken war. Man bereiste die modernen schwedischen Gefängnisse, die nun gemeindenah eingerichtet wurden und solche Ungeheuerlichkeiten erlaubten wie mehrtägige Hafturlaube – was deutsche Beobachter als gute Lösung für das "Sexualproblem" des Strafvollzugs anerkannten. Gerne nahm man Einladungen an, das schwedische System kennenzulernen, wunderte sich, dass im kleinen Hessen 4.500 Gefangene einsaßen, während es im großen Schweden nur 2.000 waren – und darüber, dass der Reichstag in Stockholm Strafrechts- und -vollzugsreformen einstimmig verabschiedete. Wie konnte das in einer Demokratie nur möglich sein?
Heute sieht man auch die Schattenseiten
Die deutsche Aufgeschlossenheit für die schwedische Moderne war der Blick auf eine Reformpolitik, die man wegen des 12-jährigen Totalitarismus selbst nicht hatte leisten können. Man sah aber nur das Licht.
Die Schattenseiten hätten sich ebenfalls früh finden lassen, zum Beispiel das alte, populäre Anliegen linker Reformpolitik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, psychisch oder sozial auffällige Menschen zwangsweise unfruchtbar zu machen. Warum man Thilo Sarrazin in die rechte Ecke stellte, nur weil er im Reich der Statistik die alte sozialdemokratische Liebe zur Eugenik neu entflammen lassen wollte, lässt sich nur mit Geschichtsvergessenheit erklären. In keinem anderen demokratischen Land Europas nahm die eugenische Reformpolitik so gewalttätige Formen an wie in Schweden.
Gerhard Simson, der große, in Deutschland offenbar weitgehend in Vergessenheit geratene Vermittler zwischen schwedischen und deutschen Rechtsreformern, starb 1991 in Stockholm. Er hat nicht miterlebt, wie – sicher auch durch die Kriminalromane von Henning Mankell – sich das deutsche Schwedenbild verfinsterte, wohl eine realistischere Form annahm.
Quellen & Tipps:
Gerhard Simson: "Fragen der Abtreibung und Sterbehilfe in Schweden", in: JZ 1965, S. 636-639.
Adolf Schönke: "Die Strafrechtsreform in Schweden", in: Deutsche Rechts-Zeitschrift 1949, S. 49-52.
Albert Krebs: "Schwedens Gefängniswesen. Bericht über eine Studienreise", Zeitschrift für die gesamte Strafrechtwissenschaft 64 (1952), S. 406-433.
Einen schönen Kriminalroman über die deutsche Schwedenliebe in den 1950er Jahren schrieb, ohne Mankell’sche Düsternis, Karl Schlegel: "Richter wider Willen", Zürich 1986.
Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.
Martin Rath, Rechtsgeschichten: Deutsche Juristen träumten von schwedischen Gardinen . In: Legal Tribune Online, 25.10.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/17318/ (abgerufen am: 08.05.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag