Besorgte Eltern mögen meinen, der Streit um die Sexualkunde-Lehrpläne in Baden-Württemberg behandle eine neue gesellschaftliche Frage. Doch schon in der Rechtsgeschichte findet Martin Rath überraschende Lösungen so mancher Genderfrage.
Die Polizei aufzusuchen, war unvermeidlich und mutig zugleich. Anfang Dezember 1938 meldete sich die 1894 in Wien geborene Emma K. bei der Kriminalpolizeileitstelle Wien, einer Behörde, die nach der "Wiedervereinigung" Österreichs mit dem Deutschen Reich dem "Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei" unterstand. Emma K. gab zu Protokoll, dass sie seit ihrem 26. Lebensjahr Männerkleidung trage, weil sie sich aus Veranlagung als Mann fühle und auch, weil ihre berufliche Existenz als Photografengehilfin von ihrem Auftreten als Mann profitiert habe.
Bei der Polizei meldete sich Emma K., die seit 1920 unter dem Namen ihres verschollenen Bruders Rudolf lebte und behördlich registriert war, weil sie das Wehrbezirkskommando aufgefordert hatte, sich auf ihre Diensttauglichkeit hin untersuchen zu lassen. Sie konnte belegen, dass sie mit dem Einkommen auch ihre Pflegemutter unterhielt. Zudem legte sie, die sich nun gegenüber der Polizei als "Transvestitin" enttarnte, Wert auf die Feststellung, trotz ihrer Neigung, sich als Mann zu fühlen, "unbescholten" sei: Zwischen 1852 und 1971 sah das Strafgesetz für das Kaisertum und die Republik Österreich für gleichgeschlechtliche Handlungen von Frauen wie Männern gleichermaßen "schweren Kerker" von einem bis fünf Jahren vor.
Geschlechterwechsel im Österreich der NS-Zeit
Den barbarischen Umgang des NS-Staats mit Menschen vor Augen, die man für seelisch und/oder körperlich abartig hielt, würde man einen fatalen Ausgang der Sache erwarten: Man denke an Strafverfolgung wegen Personenstandsfälschung, Maßnahmen der mörderischen Psychiatrie dieser Zeit oder justizfreie Inhaftierung – zumal der "Reichsführer SS" als Behörde auch noch eingebunden wurde.
Doch in diesem Fall, den die Wiener Juraprofessorin Ilse Reiter-Zatloukal in einer Studie über Geschlechterwechsel in der NS-Zeit ausführlich darstellt, geschah mit Emma K. nichts dergleichen. Seitens der Polizei wurde eine ärztliche Untersuchung angeordnet, die ergab, dass Emma K. keine biologischen Merkmale aufwies, die zu Zweifeln an ihrer weiblichen Existenz hätten Anlass geben können.
Auf dringendes Anraten der Wiener Kriminalpolizei stellte Emma K. bei der Polizeibehörde ihres Wohnorts St. Pölten den Antrag auf Bewilligung des Tragens von Männerkleidung und Namensänderung. Vertreten wurde sie/er dabei von einem Rechtsanwalt, der unter anderem ausführlich darstellte, wie mädchenuntypisch sich Emma K. schon von Kindesbeinen an verhalten habe.
Acht Monate nach der Selbstanzeige bei der Wiener Kriminalpolizei kam aus Berlin vom "Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei" der Bescheid: "Ich bin damit einverstanden, daß der Emma K. in Anbetracht ihrer ärztlich festgestellten seelischen Abart die Genehmigung zum Tragen von Männerkleidung erteilt wird. […] Wegen der notwendig werdenden Namensänderung ersuche ich das Weitere zu veranlassen."
Positive Nebenwirkung eines schlechten Gesetzes
Der St. Pöltener Rechtsanwalt konnte nun, gegen gewisse Widerstände bei den örtlichen Behörden, die Namensänderung von Emma in Rudolf K. betreiben – gestützt auf die Autorität der Berliner Behörde und auf der Grundlage des "Gesetzes über die Änderung von Familiennamen und Vornamen" vom 5. Januar 1938 (RGBl. I, S. 9). Emma/Rudolf K. starb 65-jährig im Nachkriegsösterreich, friedlich und nicht verfolgt.
Dessen erkennbarer Zweck bestand zwar eigentlich kaum darin, den heute so genannten Inter- oder Transsexuellen oder Transgenderpersonen das bürgerliche Leben zu erleichtern. Vielmehr ging es darum, jüdischen Deutschen, die einen "arischen" Namen angenommen hatten, diesen wieder zu nehmen, sowie "arischen" Deutschen die Möglichkeit zu geben, insbesondere "slawische" Namensbestandteile loszuwerden (zum Beispiel aus einem Raczinski ein Rath zu machen).
Reiter-Zatloukal merkt zu diesem Vorgang – ein bisschen verwundert – an, dass unter anderem im Fall von Herrn K. unter den Bedingungen des NS-Staats die rechtliche Anerkennung einer untypischen Geschlechteridentität ohne biologischen Befund oder medizinisch-operative Eingriffe möglich war – während sich die deutsche und österreichische Rechtsordnung sich dem in der Nachkriegszeit, teils bis heute, verweigerten.
2/2: Junge oder Mädchen? – Soll das Kind später selbst entscheiden
Verwunderung lässt sich beim Blick auch in juristische Fachliteratur mittleren Alters herstellen. In den neueren Genderstreitigkeiten, beispielsweise zu den Sexualkunde-Lehrplänen in Baden-Württemberg, tauchte der kabarettistische Witz auf: Fragt die Hebamme den werdenden Vater vor dem Kreißsaal: "Und, soll es ein Junge oder ein Mädchen werden?" – "Ist mir egal, Hauptsache es ist gesund. Und ob es Junge oder Mädchen werden will, kann es entscheiden, wenn es erwachsen ist."
Ausgerechnet in der Festschrift für den langjährigen Generalbundesanwalt Kurt Rebmann (1924-2005), den man vor allem in seiner Funktion als entschlossenen Ankläger in Staatsschutzsachen während der Hochzeiten des westdeutschen Linksterrorismus verbindet, findet sich 1989 ein Beitrag des Kölner Juraprofessors Andreas Wacke, der die "Stellung von Zwittern in der Rechtsgeschichte" behandelt.
Die offensichtliche Pointe des Kreißsaalwitzes verdarb Wacke vor nicht weniger als 25 Jahren bereits ein gutes Stück. Fühlt sich das Kabarettpublikum heute durch die Phrase vom "soll es später einmal selbst entscheiden" deshalb erheitert, weil sie an die weit verbreitete Unlust von Eltern erinnert, ihren Kindern schon mit der Taufe eine Konfessionszugehörigkeit beizubringen, findet sich bei Wacke eine interessante Beobachtung: Im Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten war in I 1 §§ 19-23 vorgesehen, dass nach der Geburt von "Zwittern" zwar die "Aeltern" bestimmen, "zu welchem Geschlechte sie erzogen werden sollen". Darauf heißt es in § 20: "Jedoch steht einem solchen Menschen, nach zurückgelegtem achtzehnten Jahre, die Wahl frey, zu welchem Geschlecht er sich halten wolle."
Wacke fühlte sich bei den preußischen Vorschriften über die Bestimmung der Geschlechteridentität aus dem Jahr 1794 an das spätere Gesetz über die religiöse Kindeserziehung von 1921 erinnert. Funktioniert die Pointe aus dem Kreißsaalwitz noch wirklich, wenn man weiß, dass der preußische Gesetzgeber 1794 jedenfalls für Menschen von nicht eindeutiger biologischer Identität eine Wahlfreiheit beim sozialen Geschlecht vorgab – und man die konfessionelle Wahlfreiheit erst rund 120 später ganz ähnlich organisierte?
Zwei Sächsinnen heiraten im Jahr 1729
Am 12. Dezember 1729 verteidigte der Freiberger Jurist Christian Gottlieb Ehrenhauß (verstorben 1742) an der kurfürstlich-mainzischen Universität Erfurt seine Dissertation "de matrimonio duarum foeminarum sexu masculino inito". Dieser lag ein Fall zugrunde, der sich einige Jahre zuvor in der sächsischen Bergbaustadt Freiberg abgespielt hatte: Angeklagt waren zwei Frauen, die formgerecht die Ehe geschlossen und rund zehn Jahre miteinander gelebt hatten, ohne dass ihr Verhältnis aufgefallen wäre. Die eine Frau hatte im Alter von sieben Jahren ihre Mädchenkleider abgelegt, sich als Mann gekleidet und einen Männernamen angenommen. Als Bergmann verdiente sie im Erzbergbau von Freiberg ihren Lebensunterhalt und schloss im Alter von 15 Jahren formgerecht die Ehe mit einer anderen Frau.
An die Öffentlichkeit kam der Vorgang, weil sich die Eheleute sexuell betrogen. Neben der Nichtigkeit der Ehe zweier Menschen gleichen Geschlechts wurde vor den sächsischen Gerichten das – strafrechtsdogmatisch noch völlig unausgereifte – Betrugsdelikt verhandelt. Worin konnte ein Irrtum bestehen, wenn sich die beiden Frauen hinsichtlich ihrer biologischen Eigenschaften durchaus im Klaren waren? Welcher Schaden sollte entstanden sein, wenn sich die Gattin des "Bergmanns" nachhaltig erfreut zeigte, dass ihr Gatte im soliden sächsischen Bergbau ein gutes Familieneinkommen erwirtschaftete? Die barocke Justiz hielt sich nicht allzu sehr mit diesen Feinheiten auf.
Zu klären galt vielmehr welches Ausmaß die "Sodomie" der Gattinnen angenommen hatte. Körperliche Züchtigung und Landesverweisung drohte bei "masturpatio", irregulärer homo- wie heterosexueller Verkehr war mit der Enthauptung, sexuelle Handlungen an Tieren mit dem Scheiterhaufen bedroht. Nicht ganz der Stand heutiger rechtspolitischer Vorstellungen.
Der Fall der beiden Sächsinnen endete mit der Landesverweisung, in diesen Zeiten vor Einführung der Gewerbefreiheit und sehr lange vor jeder Sozialstaatlichkeit dürfte damit die völlige Vernichtung der sozialen Existenz einhergegangen sein.
Rechtliches Durcheinander in Geschlechterfragen - nichts Neues
1939 erhielt eine österreichische "Transvestitin" das Recht, die Kleidung und den Namen eines Mannes zu tragen – letztlich mit dem Segen einer der furchtbarsten Behörden, die der deutsche Staat jemals hervorgebracht hat, dem Amt des "Reichsführers SS und Chef der Deutschen Polizei".
1794 regelte der wahrhaft detailfreudige preußische Gesetzgeber jedenfalls die "Gender"-Bestimmung von "Zwittern" erstaunlich autonom. Der Gesetzgeber des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) sollte 1896 die Regelungslust der Preußen nicht übernehmen und hinterließ uns damit manche Streitigkeiten, die bis in die Gegenwart anhalten.
Und schon in den 1710er-Jahren heirateten in Sachsen zwei Frauen.
Man kann vieles behaupten, aber sicher nicht, dass das juristische Durcheinander in Geschlechter- und Genderfragen erst in jüngerer Zeit ausgebrochen wäre.
Literatur:
Stephan Buchholz: "Liebesglück und Liebesleid in Sachsen. Ein Rechtsfall aus den Jahren 1725/1726". In: Rechtshistorisches Journal 5 (1986), S. 119-137.
Andreas Wacke: "Vom Hermaphroditen zum Transsexuellen. Zur Stellung von Zwittern in der Rechtsgeschichte". In: Festschrift für Kurt Rebmann, München (1989).
Ilse Reiter-Zatloukal: "Geschlechterwechsel unter der NS-Herrschaft". In: Beiträge zurRechtsgeschichte Österreichs (2014).
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.
Martin Rath, Rechtsgeschichte der Genderfragen: Junge oder Mädchen? Soll es selbst entscheiden . In: Legal Tribune Online, 20.09.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/16938/ (abgerufen am: 04.05.2024 )
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