Der Anfang der Ermittlungen in der Causa Böhmermann ist gleichzeitig das Ende des § 103 StGB. Dabei gab es Zeiten, in denen die Majestätsbeleidigung nicht nach festen Regelungen, sondern mehr oder weniger "freestyle" geahndet wurde.
Am Freitag gab Kanzlerin Angela Merkel im Namen der Bundesregierung grünes Licht für die Ermittlungen gegen Satiriker Jan Böhmermann. Heiß diskutiert wird, welche rechtlichen Aspekte in der Böhmermann-Erdogan-Affäre besonders berücksichtigt werden sollen. Darf das Schmähgedicht des ZDF-Fernseh-Clowns außerhalb seines Kontexts betrachtet werden und sein Urheber auf dieser Grundlage bestraft werden? Ist die Bundesrepublik sogar völkerrechtlich verpflichtet, die Ehre des türkischen Staatsoberhaupts vor Glimpf und Schmach zu schützen? Oder ist der besondere Ehrenschutz gekrönter wie ungekrönter Staatsoberhäupter ein rechtshistorisches Relikt?
Zumindest letztere Frage dürfte sich erledigt haben, nachdem die Chefin der Bundesregierung ebenfalls ankündigte, den § 103 Strafgesetzbuch für entbehrlich zu halten. Die folgenden Beispiele aus der jüngeren und älteren europäischen Geschichte bieten vielleicht etwas Inspiration, wie man ohne die Vorschrift, die für Böhmermann zumindest theoretisch zu einer Verurteilung führen kann, ähnliche Fälle handhaben könnte.
Die unvorteilhafte Zeichnung des französischen Königs Louis-Philippe I. trug Honoré Daumier (1808-1879) im Jahr 1832 sechs Monate Gefängnis ein.
Sowohl die Methode wie der Gegenstand der beleidigenden Darstellung sind auf die politische und industrielle Revolution des frühen 19. Jahrhunderts zurückzuführen. Die in den 1790er Jahren entwickelte Lithografie erlaubte hohe und auch aktuelle Auflagen. Der hier angegriffene König, ein abenteuerlicher Nebenspross der Bourbonen, hatte sich - zum Wohlgefallen des liberalen Besitzbürgertums - durch eine Art Staatsstreich ins Amt befördern lassen.
Heutige Staats- und Wirtschaftslenker zeigen sich, jedenfalls wenn sie dem liberalen Bürgertum gefallen wollen, eher als schlanke Marathonläufer denn als fürstliche Wanstgestalten. Der von Daumier karikierte Weg der königlichen Körperfettbeschaffung taugt daher kaum noch als Gegenstand öffentlicher Schmähungen.
Ein Jahrhundert zuvor wäre es bei der kurzen Haftstrafe nicht geblieben, galt bis zur französischen Revolution – oder eben dem Aufkommen gedruckter Massenmedien – das Staatsoberhaupt als gottgewollt und heilig. Entsprechend brutal fielen bis dahin Haft- und Körperstrafen bereits dann aus, wenn der Angriff gegen den Monarchen mit bloß rhetorischer Aggression geführt worden war.
Eine neunmonatige Gefängnisstrafe erhielt der SPD-Politiker August Bebel (1840-1913) für eine als Majestätsbeleidigung ausgelegte Kritik am preußischen König und frisch gekürten Kaiser.
Bei Beginn des Deutsch-Französischen Krieges 1870/71 hatte Wilhelm I. (1797-1888) in einem öffentlichen Brief seiner Hoffnung Ausdruck gegeben, dass "die Freiheit und Einheit Deutschlands das Ergebnis des Krieges sein" würden. Bebel sagte dazu in einer politischen Versammlung seinen Memoiren zufolge: "Seien die Könige in der Verlegenheit, so fehle es nicht an schönen Versprechungen, habe aber das Volk die Opfer gebracht und die Könige gerettet, dann würden die gemachten Versprechen vergessen und nicht eingelöst."
Der wachsenden Beliebtheit Bebels taten diverse politische Urteile gegen ihn keinen Abbruch, am Ende seines Lebens war die SPD stärkste politische Kraft in Deutschland. Wahlkampfversprechen musste der SPD-Führer allerdings nie brechen, denn seine Partei kam erst zum Regieren, als der letzte kaiserliche Kampfversprechenbrecher ins Exil geflohen war.
Das Versprechen eines siegreichen Kampfes brach er, als er 1918 ins niederländische Exil floh. Brüche zeigte seine Popularität allerdings schon früher wegen homoerotischer Affären in Kreisen seines Hofs. Die deutschen Truppen sollten über die Chinesen kommen, wie einst die Hunnen, sprach er, weitere pompöse öffentliche Reden gingen voraus und sollten noch folgen: Dieser deutsche Fürst, seit 1888 König in Preußen und deutscher Kaiser, sorgte derart großzügig für schlechte Presse, dass manch heutiger Historiker bemüht ist, die guten Seiten Wilhelms II. (1859-1941) herauszustreichen.
Nachdem sich der Kaiser 1903 dazu ausgelassen hatte, er verstehe die Probleme der deutschen Arbeiter besser als jeder Sozialdemokrat, reagierte die linke SPD-Politikerin Rosa Luxemburg (1871-1919): "Der Mann, der von der guten und gesicherten Existenz der deutschen Arbeiter spricht, hat keine Ahnung von den Tatsachen." Wegen Majestätsbeleidigung wurde Luxemburg daraufhin zu drei Monaten Gefängnis verurteilt, von denen sie sechs Wochen absaß.
Elf Jahre später stimmten ihre Genossen aus der Reichstagsfraktion der Kriegsfinanzierungsvorlage der kaiserlichen Regierung zu. Vielleicht hatte der preußische Fürst das Proletariat doch besser verstanden als die Genossin Luxemburg.
Die Orden zeigen, dass es sich nicht um einen jungen urbanen Großstadt-Bartträger unserer Tage handelt, sondern um einen sehr beleidigungsfähigen Herrn aus dem 19. Jahrhundert.
Franz Joseph I. (1830-1916), seit 1848 bzw. 1867 österreichisch-ungarischer Staatschef, ließ in seinem Reich ein - etwa im Vergleich mit Deutschland - streckenweise extrem antiquiertes Strafrecht exekutieren. Der Sozialpolitiker und Philosoph Emil Kaler-Reinthal (1850-1897) wurde allerdings 1879 für die auch heute problematische Äußerung verurteilt, dass in jüngster Zeit Gerüchte über Attentatspläne auf den Kaiser kursierten. Er finde es erstaunlich, dass es nur bei Gerüchten geblieben sei.
Obwohl sich diese Aussage streng genommen keine Mordpläne zu eigen macht, lautete das Urteil auf 14 Monate schweren Kerkers. Dies war eine Haftform, die unter meist schlechten, gesundheitsbeschädigenden Bedingungen vollzogen wurde, mit Zwangsarbeit und als "Fastentagen" gesetzlich vorgesehenen Hungerzeiten.
Der Staatsrechtslehrer Wilhelm Joseph Behr (1775-1851), Bürgermeister von Würzburg (1821-1832) und Professor an der ortsansässigen Universität, wurde nach rund vierjähriger Untersuchungshaft 1836 zu einer unbefristeten Festungshaft verurteilt, weil ihm seine liberal-nationalen Positionen unter anderem als Majestätsbeleidigung und "Beleidigung der Amtsehre der unterfränkischen Regierung" ausgelegt wurden.
Entsprechend der Gepflogenheiten, jedenfalls mit bürgerlichen und populären politischen Feinden milde umzugehen, wurde beim Vollzug der Festungshaft allerdings auf die angeschlagene Gesundheit Behrs Rücksicht genommen. Noch im 20. Jahrhundert wurde in Deutschland darüber nachgedacht, das Privileg der Festungshaft auf allerlei politische Gewissenstäter auszuweiten.
Ein bemerkenswertes Detail in Behrs Verurteilung, das zwar im bayerisch-katholischen Bilderkult seinen Ursprung haben mochte, aber sicher auch manch heutigem Potentaten gefallen würde: Das Gericht zwang Behr dazu, vor einem Bild des Königs öffentlich Abbitte zu leisten. Es nimmt Wunder, dass diese theatralische rechtshistorische Alternative zur presserechtlichen Gegendarstellung außer Gebrauch kommen konnte.
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Nachdem König Ludwig II. von Bayern sich 1886 zunächst selbst getötet hatte, um hernach auch noch seinen Psychiater Bernhard von Gudden in den nassen Tod des Starnberger Sees zu ziehen, begründete der gewesene Monarch eine spezifisch bayerische Form der politischen Kommunikation durch Beleidigung.
Schon die Errichtung von Ludwig-Denkmälern (hier in Murnau) galt bald nach dem Hinscheiden des märchenhaften bayerischen Königs als heimliche Kritik am Regierungsstil seines nunmehr regierenden Onkels, des Prinzregenten Luitpold. Ein Lob auf den Vorgänger stand damit bereits im Ruf, verdächtige Kritik am aktuellen Amtsinhaber leisten zu wollen. Womöglich lobt daher heute in Bayern niemand mehr die Fähigkeit von Franz Josef Strauß, als Pilot Kleinflugzeuge durch die Lüfte zu steuern, während es einer seiner Nachfolger nur zum Lokomotivführer einer Modelleisenbahn im Keller bringt.
In der rechtshistorischen Forschung heißt es, dass die Beleidigung des jeweiligen Stammesfürsten als eine Art Mutprobe des bayerischen Wirtshauswesens galt, die man freilich – auch bei gehäuftem Vorkommen wie bei der Einweihung des Ludwig-Denkmals in Murnau – ungern der Staatsgewalt anzeigte und im Fall des öffentlichen Skandals durch spontanen Gedächtnisverlust der Zeugen außer Verfolgung brachte.
Sogar rüpelhafte Bemerkungen wie jene, die alte Dame sollte ihren Familiennamen in Mrs. Bratwurst-Kraut-Nazi ändern – wegen ihrer nahen Verwandtschaft zu einigen der zuvor gezeigten bärtigen Herren – führte im Vereinigten Königreich nur zu ein wenig Pressetumult. Es heißt, seit dem 19. Jahrhundert sei wegen bloßer Beleidigung einer britannischen Fürstin niemand mehr vor Gericht gekommen.
Ihre australischen Untertanen reagierten 1998 allerdings sehr verschnupft, als die Firma Toyota das neue Luxusfahrzeug Lexus LX470 gegen den königlichen Rolls Royce mit Anzeigen in Stellung brachte, in denen es hieß: "Keine Sorge, Eure Majestät, Ihr seid nicht der einzige britische Exportartikel, dessen Tage vorbei sind."
Der Protest der australischen Monarchisten war so wütend, dass der Schaden für Toyota durch eine förmliche Strafverfolgung wohl kaum hätte größer ausfallen können.
Ob sich derweil die Aborigines über die Tumulte in der zugewanderten britischen Parallelgesellschaft ihres Kontinents verwundert zeigten, ist nicht überliefert.
Das niederländische Herrscherhaus böte genug Anlass für sachliche Kritik. Republikanische Geister könnten sich etwa daran stören, dass ein Familienunternehmen im Wert von mehreren Hundert Millionen Euro auch noch von Verfassungs wegen in die Staatsgeschäfte eingebunden wird – im europäischen Verfassungsvergleich sogar außerordentlich eng am Geschäft der Exekutive angesiedelt ist.
Dass die niederländische Nationalhymne das "deutsche Blut" ihrer Fürsten rühmt, ist für sich schon komisch genug, jedenfalls, wenn man davon in hochdeutscher Übersetzung hört.
Artikel 111 bis 113 des niederländischen Strafgesetzbuchs stellen allerdings unter der Überschrift des "Verrats" die Beleidigung des Königs, seines Lebensabschnittsgefährten (m/w) sowie des potenziellen Nachfolgers unter Strafandrohung bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe bis 20.000 Euro.
Jährlich kommt es zu ein bis zwei Dutzend Verurteilungen wegen Fürstenbeleidigungen, die offenbar gern in englischer Sprache unter Verwendung des F-Worts ausgedrückt werden.
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Im Jahr 2012 kamen in Schweden gefälschte Ein-Kronen-Münzen in Umlauf, auf denen statt "Carl XVI. Gustaf, Schwedens König" die Worte "Unser Hurenbock von einem König" eingeprägt waren.
Die schwedische Polizei soll wegen beider Delikte, der Falschmünzerei wie der Majestätsbeleidigung, untätig geblieben sein - mangels Strafanzeigen, wie es heißt.
Dass die schwedischen Strafverfolgungsbehörden ihren König nicht vor dem ungeheuerlichen Vorwurf ehebrecherischer Sexualkontakte in Schutz nahmen, sondern wie irgendeinen Bürger des Landes behandelten, könnte mit dem verfassungsrechtlich etwas zweifelhaft possessiven Status "ihres" Königs zu tun haben.
1974 goss nämlich die notorisch starke schwedische Sozialdemokratie Sätze wie: "Alle öffentliche Gewalt geht vom Volk aus" in die Verfassung. Seither heißt es dort, die "Volksherrschaft" konstituiere sich als "parlamentarische Staatsform". Seit dieser sozialdemokratischen Verfassungsreform sei der König in eine fast beleidigende Randstellung gedrängt, stellte früh der damals noch linke Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger fest. Viel mehr als die Thronfolge und die Vorgabe, dass die Regierung gelegentlich mit dem König sprechen soll, wenn sie mag, schreibt die schwedische Verfassung nicht vor.
Ausgerechnet das als etwas humorlos geltende skandinavische Volk hat damit die vielleicht gewitzteste Form von Majestätsbeleidigung der Rechtsgeschichte begangen: Man behält die Majestäten, degradiert sie im Übrigen aber zum fast ganz normalen Bürger.
Martin Rath, Kritik an Staatsoberhäuptern: Majestätsbeleidigung in der Geschichte . In: Legal Tribune Online, 17.04.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/19104/ (abgerufen am: 28.04.2024 )
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