Die nahende Weihnachtszeit ist, zumindest der Idee nach, auch eine Zeit der Nächstenliebe. Doch im Vergnügungsslalom zwischen Weihnachtsmarkt, Geschenkekauf und Gänseessen gerät die Bedürftigkeit mancher Mitmenschen leicht in Vergessenheit. Immerhin ist die Bitte nach milden Gaben heute ungefährlicher als noch vor 100 Jahren. Martin Rath wirft einen Blick auf den Umgang der Justiz mit Bettlern.
Eine Witzblattszene griff der scharfe Journalismus- und Justizkritiker Karl Kraus (1874-1936) auf, um unterschiedliche Haltungen des Bürgers gegenüber der offenen Armut zu zeigen: "Ein Blinder und ein Lahmer betteln an der Straßenecke. Ein Passant wirft dem Blinden einen Heller in den Hut. Da reißt der Blinde die Augen auf: 'Was, nur an Heller?', und beschimpft den Wohltäter. Dieser holt einen Wachmann, was die Bettler veranlaßt, die Flucht zu ergreifen, bei der der Lahme, um besser vorwärts zu kommen, die Krücke unter den Arm nimmt."
Seinen Wiener Landsleuten unterstellte Kraus in seinem Ein-Mann-Medium "Die Fackel" (v. 27.07.1909, Nr. 285-286, S. 38 ff.), den nur vorgeblich behinderten Bettlern nun jene körperlichen Schäden zufügen zu wollen, derentwegen sie ihr Mitleid erregten - nur hilfsweise hole der gewaltbereite Wiener die Polizei. Den Deutschen attestierte Kraus eine entspanntere Haltung. In Berlin "würde man an einem Surrogatkrüppel nicht Anstoß nehmen und entweder die Findigkeit belohnen oder sein Mitleid jener Not zuwenden, die zu solchen Mitteln der Verstellung greifen muß".
Verfassungsgerichtshof verbietet absolutes Bettel-Verbot
Ob die Wiener heute ein weniger (staats-)gewaltbereites Verhältnis zu den Bettlerinnen und Bettlern in ihrer Stadt haben, mag dahingestellt bleiben. Zu den jüngsten rechtshistorischen Belegen zum Umgang der Justiz mit dem Phänomen "Bettelei" zählt jedenfalls ein Urteil des österreichischen Verfassungsgerichtshofs, der am 30. Juni 2012 zu einer Reihe betteleispezifischer Fragen Stellung nahm.
Eine diese Fragen betraf den § 29 des Landessicherheitsgesetzes für das Bundesland Salzburg, der eine (wohl kaum jemals beizutreibende) Geldstrafe bis 500 Euro bzw. Ersatzfreiheitsstrafe bis zu einer Woche jedem androhte, der "an einem öffentlichen Ort oder von Haus zu Haus von fremden Personen unter Berufung auf wirkliche oder angebliche Bedürftigkeit zu eigennützigen Zwecken Geld oder geldwerte Sachen für sich oder andere erbittet".
Der Verfassungsgerichtshof stellte fest, dass die Salzburger Norm gegen zwei Sätze des Österreichischen Bundesverfassungsrechts verstoße: Eine sachliche Begründung, auch das sogenannte "stille Betteln" zu unterbinden, konnte das Gericht nicht erkennen, womit der Gleichheitsgrundsatz nach Art. 7 des Bundesverfassungsgesetzes verletzt werde.
Ein undifferenziertes Verbot auch des stillen, nicht aggressiven Bettelns verstoße zudem gegen die Kommunikationsfreiheit nach Art. 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), die in Österreich Verfassungsrang hat (Urt. v. 30.6.2012, Az. G 155/10‐9). Dem Anliegen, das Betteln nach der EMRK auch als vom Grundsatz der Berufsfreiheit mitgeschützt anzuerkennen, folgte der Verfassungsgerichtshof hingegen nicht.
Betteln als sozial wichtige Funktion im katholischen Mittelalter
Das Land Salzburg erließ später einen neuen Bettelei-Paragraphen, der nun zwischen stillem und solchem Betteln differenziert, dessen Verbot sachlich gerechtfertigt erscheint. Aggressives Betteln ("aufdringlich durch Anfassen unaufgefordertes Begleiten oder Beschimpfen"), Betteln unter Beteiligung Minderjähriger oder unternehmerisch organisiertes Betteln sind danach untersagt.
Das Recht hat nicht immer so differenziert, Bettelei sogar als eine Art Beruf anerkannt. Mit dem Gedanken, dass sich vermögende Bürger durch die Gabe von Almosen ein besseres Leben nach dem Tod sichern könnten, erkannte das katholische Mittelalter dem Bettler noch eine sozial wichtige Funktion zu. Die Versuche, Bettler mit Zuckerbrot und Peitsche von der Straße zu bekommen - einerseits durch Armenspeisung, andererseits durch kommunale Polizei-Satzungen nebst Arbeits- und Zuchthäusern – begannen in den meist protestantisch-reformierten Städten. Bis ins Jahr 1974/75 schrieb auch das deutsche Strafrecht, unter anderem mit der Vorschrift des § 361 Ziffer 4 Strafgesetzbuch (StGB), das grundsätzlich absolute Betteleiverbot mit möglicher Einweisung ins Arbeitshaus fort.
2/2: Niemand wollte nach Brauweiler
Die unter anderem als "Provinzial-Arbeitsanstalt zu Brauweiler" firmierende Einrichtung in der Nähe von Köln war ein solches Arbeitshaus, in das nach §§ 361, 362 StGB nicht zuletzt Bettler und Landstreicher eingewiesen wurden. Todesfälle unter den Insassen machten die Einrichtung schon im Kaiserreich zum Skandal. Neben Konrad Adenauer, der als Gestapo-Häftling nach Brauweiler kam, zählte Rosemarie Nitribitt zu den bekanntesten Gefangenen. Von doppelter Ausbeutung alkoholkranker Insassen berichtete die Wochenzeitung Die Zeit noch 1967: Das Arbeitshaus bezog Geld vom Versicherungsträger für die vorgebliche Sucht-Rehabilitation und beutete die Arbeitskraft aus.
Trotz mancher Skandale wies ein breiter juristischer Weg ins Arbeitshaus, gepflastert mit höchst unbestimmten Rechsbegriffen. Nach § 362 StGB konnte ins Arbeitshaus - in Deutschland gut föderal unterschiedlich firmierend – unter anderem eingewiesen werden, "3. wer als Landstreicher umherzieht" oder "4. wer bettelt oder Kinder zum Betteln anleitet oder ausschickt".
Richter definieren "Betteln"
Weitaus komfortabler untergebracht war man da im Oberlandesgericht (OLG) Köln. In dem Wilhelminischen Repräsentationsbau, der auch heute noch die Gerichtssäle beherbergt, fiel so manches harte Urteil gegen Bettler.
Den durchaus unbestimmten Rechtsbegriff des "Bettelns" definierte das OLG mit Urteil vom 8. August 1961 (Az. 1 Ss 168/61). Unter "Betteln" sei, so das OLG Köln, "die Bitte um Gewährung eines geldwerten Geschenks, die sich auf wirkliche oder angebliche eigene Hilfsbedürftigkeit oder solche einer dem Täter nahestehenden Person stützt und die Mildtätigkeit einer Person in Anspruch nimmt, zu der keine entsprechenden persönlichen Beziehungen bestehen" zu verstehen.
Im Kölner Fall hatte der Angeklagte unter anderem um ein Butterbrot gebeten, von dem seine Freundin profitieren sollte. Sein Strafverteidiger hatte daraufhin in der Revision geltend gemacht, dass die rechtswissenschaftliche Literatur - und auch sein Mandant in Parallelwertung - die fremdnützige Bitte von der strafwürdigen Bettelei ausnehme.
Dem folgte das OLG Köln nicht. Zur strafrechtlich unbedenklichen "Sammlung" fremder Gaben werde das Erbitten erst, wenn der Empfänger der Gabe dem Sammler gänzlich unbekannt sei. Jemand, der für seine in nicht-ehelicher Gemeinschaft lebende Freundin bitte, bettle strafwürdig. Obwohl die juristische Literatur auch ein anderes Resultat hergegeben hätte, führte diese Subsumtion den Angeklagten im Ergebnis wohl ins gefürchtete Arbeitshaus vor den Toren der Stadt.
Juristische Ökonomie des Bettelns
Vierzehn Jahre nach dem Kölner Urteil wurden "Bettelei" und "Landstreicherei" aus dem Strafgesetzbuch gestrichen. Versuche, Betteleiverbote im Polizei- und Ordnungsrecht zu etablieren, scheinen seither in Deutschland, anders als in Österreich, nicht recht zu fruchten. Zeit also, das Thema abzuhaken?
Manche sozialen Mechanismen, rechtshistorisch belegt, bleiben für die Gegenwart womöglich lehrreich. Das im 20. Jahrhundert so gefürchtete Arbeitshaus Brauweiler wurde 1811 unter französischer Herrschaft als Dépôt de mendicité, als "Bettlerdepot", eingerichtet. Die Behörden im benachbarten Aachen begannen mit der strafrechtlichen Verfolgung der Bettelei - zuvor wirkte wohl noch das mittelalterlich-katholische Berufsbild vom Bettler nach - erst, als das "Dépôt" zur Verfügung stand. Ein solches Wechselspiel von Haft-Infrastruktur und "staatlichem Strafanspruch" ist bemerkenswert.
Dem Aufsatz "Bettler in rheinischen Städten des 19. Jahrhunderts", 2007 von der Trierer Historikerin Beate Althammer vorgelegt, ist als weiterer juristisch-ökonomischer Befund zu entnehmen, wie die Praxis der Bettler-Einweisung strafbehördlichen Opportunitäten folgte: Wurden in den 1880er-Jahren preußenweit rund 15 Prozent aller verurteilten Bettler in ein Arbeitshaus eingewiesen, waren es in Düsseldorf zeitweise nur rund 2 Prozent. Das beruhte aber nicht etwa auf dem berüchtigten rheinländischen Laissez-faire: 1879 wurde beispielsweise der 70-jährige Carl van der Burg drei Mal wegen Bettelei vor Gericht gestellt. Für Milde spricht das nicht, der Mann war vollständig arbeitsunfähig. Die geringe Zahl von Einweisungen ins Arbeitshaus beruhte in Düsseldorf vielmehr darauf, dass viele Bettlerinnen und Bettler von auswärts kamen und die Staatsanwaltschaft die Vorstrafen nicht kannte. Ein Datenabgleich mit "Brauweiler" ließ dann die Einweisungszahlen ansteigen.
Ob die Gesellschaft auf zunehmende Bettelei frei nach Karl Kraus "Wienerisch" oder "Berlinerisch" antworten möchte - vielleicht liegt die Antwort in Düsseldorf. 600 bis 700 Menschen wurden im Lauf eines Jahres wegen Bettelei vor Gericht gebracht - bei einer Einwohnerzahl von gut 100.000.
Zweifelhaft, dass eine Polizei- oder Justizbehörde heute solche Fallzahlen zusätzlich generieren möchte.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.
Martin Rath, Armenrecht: Rechtsgeschichte des Bettelns . In: Legal Tribune Online, 08.12.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/10284/ (abgerufen am: 04.05.2024 )
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