Im Sommer 1915 ging der Erste Weltkrieg ins zweite Jahr. Vor dem Reichsgericht in Leipzig wurden Fälle verhandelt, die den kriegsbedingten Wandel der Rechtsordnung greifbar machten – auf teils dramatische Art und Weise.
Ob dem Kind die Todesstrafe drohe, war nicht Gegenstand der Verhandlung und auch weder von juristischem noch von öffentlichem Interesse. Die Strafkammer beim Amtsgericht Wollstein im Bezirk des Königlich Preußischen Oberlandesgerichts Posen hatte den am 4. Oktober 1900 geborenen Angeklagten wegen "vorsätzlicher Inbrandsetzung eines Strohschobers", begangen am 30. August 1914 im 200-Seelen-Dorf Alt Obra-Hauland nach § 308 Strafgesetzbuch (StGB) wegen Brandstiftung verurteilt.
Das kindliche Alter stand der Strafverfolgung nicht entgegen, nach § 55 bis 57 StGB a.F. konnte strafrechtlich verfolgt werden, wer das zwölfte Lebensjahr vollendet hatte.
Kind kommt vors Kriegsgericht
Das Reichsgericht hob mit Urteil vom 19. März 1915 (Az. IV 38/15) das Wollsteiner Verdikt auf, weil zum maßgeblichen Tatzeitpunkt für den Regierungsbezirk Posen mit Beginn des Krieges zum 31. Juli 1914 ein Kriegsgericht bestand, dem nach dem "Gesetz über den Belagerungszustand" vom 4. Juni 1851 unter anderem "die "Untersuchung und Aburteilung des Verbrechens der vorsätzlichen Brandstiftung" oblag.
§ 8 Belagerungszustandsgesetz (BZG) gab für Brandstiftungen, Überschwemmungen oder "Widerstands gegen die bewaffnete Macht" die Todesstrafe, bei mildernden Umständen zehn bis 20 Jahre Zuchthaus vor, die Höchststrafe für kindliche und jugendliche Täter lag bei fünf Jahren Gefängnis (§§ 55-57 StGB a.F.).
Die Zuständigkeit des Kriegsgerichts begründete das Reichsgericht auf der Grundlage einer so verwickelten Technik aufeinander bezogener Normen, dass sie für Staatsexamensquälereien geeignet wäre. Unklar war u.a., ob § 4 des Einführungsgesetzes zum Strafgesetzbuch (EGStGB) vom 31. Mai 1870, der die Todesstrafe in Kriegszeiten für eine Reihe in der Verfassung genannter Delikte aufführte, die Brandstiftung nach § 308 StGB aber ausnahm, die Strafandrohung nach § 8 des älteren Belagerungszustandsgesetzes beseitigte.
Kriegsgericht schlägt zivile Strafgerichtsbarkeit
Obwohl das nach Maßstäben moderner, bereits im Kaiserreich einigermaßen etablierter Regeln der Gesetzgebungskunst recht krude formulierte Belagerungszustandsgesetz von 1851 Ansätze bot, die Zuständigkeiten der kommandierenden Generäle und ihrer Kriegsgerichte zurückzudrängen, nutzte das Reichsgericht keine Möglichkeit, die zivile Strafjustiz zu stärken.
Welches Verdikt das zuständige Kriegsgericht gegen den nun 14-jährigen Beschuldigten fand, bzw. iob es überhaupt zu einem zweiten Verfahren kam, ist nicht überliefert. Immerhin war die deutsche Militärgerichtsbarkeit des Ersten Weltkriegs weit entfernt vom Justizterror, den die Kollegen der k.u.k-Truppen ausübten, erst recht vom Terror des Zweiten Weltkriegs.
Gleichwohl fragt man sich, was eine zivilere Gesellschaft als die deutsche, was eine wache Öffentlichkeit in dem Fall hätte leisten können: Zivile Richter überantworten ein Kind dem Kriegsgericht, ist man da nicht auch selbst in seinen bürgerlichen Freiheiten bedroht?
Bürgertum lässt sich den Schneid abkaufen
Weitere Urteile des Reichsgerichts aus dem Jahr 1915 zeigen, dass es der deutschen Öffentlichkeit für eine solche skandalisierende, vielleicht etwas hysterische Strategie, eigene Rechtspositionen zu verteidigen, damals neben unzensierten Freiräumen auch an Übung gefehlt haben muss.
Anlässe zum präventiven Aufschäumen hatte das Bürgertum reichlich. Nach § 4 Belagerungszustandsgesetz ging etwa nach Erklärung des Kriegs- bzw. Belagerungszustands die vollziehende Gewalt an die "Militairbefehlshaber" über. Behörden der Zivil- und Gemeindeverwaltung wurden weisungsabhängig.
Seit Kriegsbeginn im August 1914 bildete sich auf dieser Grundlage eine Rechtsordnung parallel zu den parlamentarischen, jedenfalls verfassungsmäßigen Geschäftsgängen des Kaiserreichs aus. Ein Beispiel gibt das Urteil des Reichsgerichts vom 7. Mai 1915 (Az. IV 47/15) zu den Pflichten der Fleischer von Danzig.
Vorweg: Was ihre Wirtschaftsordnung anging, waren die europäischen Mächte auf den Krieg nicht vorbereitet gewesen. In Deutschland trat am 4. August 1914 ein Gesetz in Kraft, das den Behörden erlaubte, nicht zuletzt für Produkte des täglichen Bedarfs Höchstpreise festzulegen. Schlau ist das nie. Grundsätzlich zuständig war aber der Magistrat der Stadt, immerhin also eine demokratisch legitimierte Körperschaft. Entsprechend seiner belagerungsrechtlichen Allmacht hatte derweil der Kommandant der Festung Danzig angeordnet, dass die Fleischer im Stadtbezirk Danzig in ihren Verkaufsstellen Preisverzeichnisse auszuhängen hatten. Der Angeklagte hatte gegen diese Pflicht verstoßen. Fraglich war, ob er allein nach dem Höchstpreisgesetz oder nach dem Belagerungszustandsgesetz zu verurteilen war.
2/2: Vergessen wir gute Auslegungskunst
Das Landgericht Danzig, ansässig in einer tief bürgerlichen Hansestadt, mochte immerhin die Strafnorm des § 9 b Belagerungszustandsgesetzes nicht anwenden. Ein Blick ins Gesetz zeigt, dass hier eine Quelle für richterliche Restriktionen militärischer Allmachtsansprüche zu finden war: "[Wer in einem in Belagerungszustand erklärten Orte oder Distrikte] ein bei Erklärung des Belagerungszustandes oder während desselben vom Militairbefehlshaber im Interesse der öffentlichen Sicherheit erlassenes Verbot übertritt, oder zu solcher Uebertretung auffordert oder anreizt [soll … mit Gefängniß bis zu Einem Jahr bestraft werden]."
Es wurde im Verlauf des 20. Jahrhunderts viel darum gestritten, wie weit es Richtern erlaubt sein müsse, Normen nach ihrem Sinn und Zweck, also teleologisch, zu interpretieren. Weil es sich hier um die zentrale Machtfrage zwischen selbstreferentiellen Gerichten und dem Gesetzgeber handelt, lässt sich dazu auch gar nicht genug streiten. An sich findet man in Entscheidungen des Reichsgerichts noch viel klassischen Positivismus: die Auslegung folgt historischen Gesetzgebungsmaterialien, dem Wortlaut und der Systematik des Gesetzes. Sich teleologisch die Rolle des Gesetzgebers anmaßen, mochten die Reichsgerichtsräte gar nicht.
Für eine klassische Auslegung gab § 9 b Belagerungszustandsgesetz auf den ersten Blick viel her: Die Regelungsgewalt der Militärbehörden, jedenfalls soweit sie strafbewehrt sein sollte, war vom Wortlaut auf das "Interesse der öffentlichen Sicherheit" beschränkt. Die weiteren Buchstaben a, c und d der Vorschrift stellen Dinge unter Strafe, die 1851 dem Kommandanten einer – zu dieser Zeit tatsächlich oft noch mittelalterlich eingemauerten Festung – das Leben in Zeiten der Belagerung schwer machen konnten: Verbreitung von Gerüchten über Siege oder Marschrichtung des Feindes, Aufruhr oder tätliche Widersetzlichkeit oder auch die fraternisierende Kommunikation zwischen Bürgern und Soldaten mit dem Ziel der Subordination.
Man sollte meinen, es sei eine systematische Auslegung geboten. Hier lag ein restriktives Resultat nahe. Das Reichsgericht konstatierte zwar, dass "(w)elchen Charakter die Anordnung des Militärbefehlshabers" trage – ob sie im "Interesse der öffentlichen Sicherheit liege – "im einzelnen Fall im Wege der Auslegung zu ermitteln" sei. Weil man im Einzelfall jedoch aus den Anordnungen des Militärs, selbst wenn sie vom eigentlichen Kriegsgeschehen so weit entfernt sein mochten wie die Preisaushänge eines Metzgereibetriebs, ohnehin nicht erkennen könne, welchen "Charakter" sie hätten, habe man sich der bloßen Regelungsabsicht des Militärs zu unterwerfen: "Maßgebend muß vielmehr der Gesichtspunkt sein, unter dem die Anordnung erlassen ist, und der Zweck, den sie verfolgt."
Echter Krieg ist noch harmlos
Im Jahr 1915 hatte der Krieg bereits unvorstellbar vielen Menschen das Leben gekostet. An der Marne, im Norden Frankreichs, starben im Sommer/Herbst 1914 rund 250.000 deutsche Soldaten. In Kämpfen westlich des "Reichslands Elsass-Lothringen" kamen rund 20.000 bereits 1914 ums Leben.
Gemessen daran scheinen die Kriegsfolgen im Urteil des Reichsgerichts vom 3. Mai 1915 (Az. I 189/15) regelrecht harmlos auf: Vom Landgericht Zabern wegen Unterschlagung, § 246 StGB, war ein Zivilist verurteilt worden, weil er sich das Hemd eines bayerischen und die Schuhe eines französischen Soldaten zugeignet hatte.
Anlass, die Sache nach Leipzig zu bringen, bot eigentlich nur der Umstand, dass der Schwager des Angeklagten "nach einem Gefechte zwischen bayerischen und französischen Truppen eine große Menge von Bekleidungs- und Ausrüstungsgegenständen auf dem Gefechtsfeld aufgelesen" und bei ihm untergebracht hatte. In Betracht kam daher, dass der Schwager durch Verlust des einen Hemdes und der Schuhe geschädigt wurde. Dann hätte hier der Strafantrag gefehlt, § 247 StGB.
Obwohl dieses Argument ihrer Auffassung nach schnell erledigt war, erörterten die Reichsgerichtsräte ausführlich, dass die Uniformteile ohne jeden Zweifel Eigentum des Militärfiskus blieben und nicht herrenlos geworden seien. Ein Recht auf Beutemachen stehe allenfalls den kriegführenden Parteien, also den Staaten zu. Sicher war das Urteil vom 3. Mai 1915 früh zur Veröffentlichung bestimmt. Die ordnende Hand des Reichsgerichts mochte am Schlachtfeldrand noch Schlimmeres verhüten.
Die juristisch eindeutige Grenzziehung zwischen Menschen, die Krieg führen und zum Beutemachen berechtigt sind, und jenen, die sich vom "Gefechtsfeld" fernzuhalten haben, wirkt in der Gegenwart "asymmetrischer" Kriegführung anachronistisch. Und so bizarr in Zeiten massenhaft produzierter Wegwerftextilien ein Verfahren um ein Hemd und ein Paar Schuhe anmutet: Wäre es nicht gut, wenn alle rechtlich relevanten Aspekte des Kriegführens und Beutemachens heute solche höchstrichterliche Aufmerksamkeit erhielten?
Hinweis: Die zitierten Urteile des Reichsgerichts sind im 49. Band seiner "Entscheidungen in Strafsachen" zu finden.
Autor: Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.
Martin Rath, Rechtsgeschichten: Krieg vor dem Reichsgericht . In: Legal Tribune Online, 26.07.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/16371/ (abgerufen am: 27.04.2024 )
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