Von Eisenbahnern, die nach den Regeln der juristischen Kunst an einem "Schreck" sterben, über militärischen Richter-Verstand zum Reichsgerichtssound auf Schlagzeug – auch im Mai 1913 hatte das Justizwesen Unterhaltsames zu bieten. Mit einer Rhetorik, die Edmund Stoibers Augen zum Leuchten brächte, sinniert Martin Rath.
Die Welt ist klein. Jeder kennt jemanden, dem Nelson Mandela schon einmal die Hand geschüttelt oder huldvoll zugelächelt hat. Jedenfalls kennt jeder jemanden, der jemanden kennt, dem das widerfuhr. Zumindest kennt jeder jemanden, der das "Free Nelson Mandela"-Konzert am 11. Juni 1988 gehört hat. Wem das zu kompliziert ist, es wird sprachlich gleich noch wilder.
Die Welt ist aber nicht nur klein, sondern auch kurz. Im Jahr 1913 erhielt in Südafrika ein junger deutschstämmiger Mann namens Oswald Pirow (1890-1959) nach Schul- und Studentenjahren in Itzehoe, Kiel und London die Zulassung als Rechtsanwalt. Pirow machte Karriere als, so würde man heute sagen, rechtsextremistischer Politiker, wurde Justizminister, später Ankläger im "Treason Trial", in dem 1956 Nelson Mandela und Genossen wegen Verrats angeklagt waren.
Was juristisch im Mai 1913 geschah
Während Florian Illies in seinem Bestseller "1913. Der Sommer des Jahrhunderts" für den Mai 1913 als Marginalie zu berichten weiß, dass der 15-jährige Bertholt Brecht (1898-1956) unter Herzproblemen litt, mit der Folge, dass er wieder in Mutters Bett schlüpfte, nahmen sich das Reichsgericht zu Leipzig und der britische Innenminister in London allerlei Körperleid von Rechts wegen an.
Ende April 1913 war für das Vereinigte Königreich der "Prisoners (Temporary Discharge for Ill-health) Act, 1913" erlassen worden, der es dem Innenminister erlaubte, Strafgefangene mit Rücksicht auf gesundheitliche Beschwerden vorübergehend aus der Haft zu entlassen – um sie bei hinreichender Genesung wieder einsitzen zu lassen.
Mit dem Gesetz reagierte seiner Majestät Georg V. Regierung auf die zahlreichen Hungerstreiks inhaftierter Suffragetten, bürgerlicher Damen, die für das Frauenwahlrecht mit teils nicht zimperlichen Methoden protestierten. Ihren Kampf führten die Damen von Gesellschaft unter Einsatz von Leib und Leben. Die Hungerstreiks waren nicht zuletzt eine Reaktion auf den mittelalterlich verrotteten britischen Justizapparat.
Englischer Hungerstreik, preußischer Rückenmarksschreck
Den "Prisoners (Temporary Discharge for Ill-health) Act, 1913" nannte man wegen des Drehtür-Strafvollzugs bald auch boshaft "Cat and Mouse Act": Damen von Format in feucht-kalten Kerkern zu halten, sie zwangsweise zu ernähren, war einerseits anstößig. Andererseits war dem Gesetz Geltung zu verschaffen. Das Ergebnis war ein Katz-und-Maus-Spiel mit den Überzeugungstäterinnen. Dem nicht zuletzt autoaggressiven Protest der britischen Frauenbewegung nahm ab 1914 der Weltkrieg etwas den Schwung, als die Damen sich unter anderem für die Einwerbung von Kriegsanleihen für den Staat einsetzten.
Das Reichsgericht in Leipzig war derweil am 2. Mai 1913 um die Versorgung einer rheinpreußischen Offiziers- und Beamtenwitwe besorgt (Az. III 548/12): Am 13. November 1910 war ein beamteter Eisenbahnassistent verstorben. Witwe und Waisen machten einen erhöhten Versorgungsanspruch gegen den preußischen Fiskus geltend, weil sein Tod unter anderem auf einen "Schreck" zurückzuführen sei, den er beim Zusammenstoß zweier Züge am 31. Dezember 1906 um 4 Uhr früh erlitten haben soll.
Das Urteil des Reichsgerichts dreht sich um die Frage, wann "eine den Anspruch begründende Folge des Unfalls erst später bemerkbar geworden" sei. Der Eisenbahnassistent hatte sich zu Lebzeiten bei den Ärzten nicht mit dem Gedanken durchsetzen können, der "Schreck" sei ursächlich für seine Erkrankung, die Kausalität aber "erst später" bemerkbar gewesen. Die Reichsgerichtsräte mochten ihm beziehungsweise seiner Witwe die daraus folgende späte Anmeldung seines Versorgungsanspruchs nicht anlasten: "Eine den Anspruch begründende Unfallfolge ist vielmehr erst dann 'bemerkbar geworden', wenn der 'Verletzte' nach sorgfältiger Prüfung gemäß seinem Urteilsvermögen zu der gewissenhaften Überzeugung kam oder kommen mußte, sein Leiden sei durch den Unfall verursacht […]."
2/2: Richter allesamt Reservisten?
Im Staatsdienst unter echten oder nur eingebildeten, die Frühpensionierung rechtfertigenden Erkrankungen leidenden Menschen, die sich heutzutage mit allerlei ärztlichen Untersuchungen ihrem Ziel nähern müssen, mag das Urteil aus dem Mai 1913 tröstliche Lektüre bieten: Die höchsten deutschen Zivilrichter hielten es, entgegen den Vermutungen eines habilitierten Mediziners, für möglich, ja für wahrscheinlich, dass der "Schreck" über den Eisenbahnunfall im Jahr 1906 zu einem "Rückenmarksleiden" und 1910 zum Tod geführt habe – wohl eine Art medizinisches Negativ-Wunder.
Zu viel Trost sollte man aber nicht schöpfen: Das Gericht hält fest, dass der verstorbene Eisenbahnassistent "nach Militärdienst und Erwerb des Zivilversorgungsscheins" als "Stationsaspirant" angestellt wurde – will sagen: Bevor der Mann seine mit einem "Schreck" endende Karriere bei der Bahn begann, war er entweder nach zwölfjährigem Dienst oder wegen Invalidität als Offizier aus dem Militär ausgeschieden. Man darf annehmen, dass die Reichsgerichtsräte in ihrer zeittypischen Funktion als Reserveoffiziere auch ein wenig an die Ihren gedacht haben.
Ein Urteil des gleichen Senats in militärischen Belangen deutet jedenfalls stark auf solch richterlichen Corps-Geist hin: Ob die Schädigung einer Straße "bei einer Truppenübung vermeidbar war, kann selbstverständlich nur vom militärischen Standpunkt aus entschieden und deshalb grundsätzlich nur von den militärischen Vorgesetzten beurteilt werden […]", heißt es in einer Entscheidung über Straßenschäden, für die ein Gemeindeverband bei Lüneburg allenfalls aufgrund des "Gesetzes über die Naturalleistungen für die bewaffnete Macht im Frieden" Ersatz verlangen könne. Amtshaftung von "Personen des Soldatenstandes Dritten gegenüber" schloss das Reichsgericht aus (Urt. v. 27.5.1913, Az. III 71/13).
Ob bayerische Prädikats-Juristen derlei auswendig lernen?
Jeder kennt heute wohl jemanden, der einen Bundeswehr-Reservisten kennt, der mit leuchtenden Augen davon erzählt, wie er einst mit dem Panzer Landstraßen im Lüneburgischen zerpflügt habe. Darüber hätten die Reichsgerichtsräte wohl nicht gelacht.
Bei der großen Zeitung aus Frankfurt am Main, die derzeit darum bettelt, dass sich ihre Online-Leser von Popup-Werbung belästigen lassen, bekam man im Februar 2013 leuchtende Augen ob eines Youtube-Videos, das einen Schlagzeuger bei der Vertonung eines Edmund-Stoiber-Raps zeigt. Das führt zu einem Fall, bei dem die Reichsgerichtsräte zwar nicht gelacht haben, aber Anlass bieten.
Es erging am 3. Mai 1913 ein Urteil im Streit zwischen der Stadtgemeinde Cöln und dem Reichsmilitärfiskus, das Augen leuchten lässt (Az. V 517/12; RGZ 82, 232-243). Die Stadt Köln hatte ab den 1880er-Jahren ihre mittelalterlichen Befestigungsanlagen vom preußischen Staat zurückgekauft, um nach deren Abriss Wohnbebauung zu ermöglichen – zwei Weltkriege später heute heißbegehrte Altbau-Überreste. Die wichtige Industriestadt wurde stattdessen zu Kaisers Zeiten zu einer moderneren Festungsstadt ausgebaut. Bei den Grundstücksgeschäften in diesem Zusammenhang hatte der Reichsmilitärfiskus eine Forderung von 2.125.000 Mark, gegen die die Stadt Steuerforderungen von 9.373,13 Mark aufgerechnet hatte. Im Urteil ging es nun darum, ob sie die Aufrechnung gegen "dieselbe Kasse" des Reichs erklärt hatte. Das Reichsgericht diskutiert neben der interessanten staatsrechtlichen Frage, warum eine staatliche Stelle überhaupt bei einer anderen Steuern erheben darf, die Rechtsprobleme des § 395 Bürgerliches Gesetzbuch. Eine Formulierung ist der berüchtigten "Eisenbahn"-Definition des Reichsgerichts mindestens ebenbürtig und will, so komisch sie ist, erschöpfend zitiert werden:
"Vielmehr kommt es, wie für die Frage der Zulässigkeit oder der Unzulässigkeit der Aufrechnung nach § 395 BGB überhaupt, so insbesondere auch für die Frage, ob dem Schuldner, der an eine Kasse des Reichs oder eines Bundesstaats oder eines Kommunalverbandes zu leisten hat, dieselbe Kasse zugleich auch als wegen seiner Gegenforderung gegen das Reich usw. zahlungspflichtige Amtsstelle gegenübersteht oder nicht, nur darauf an, ob die einen Geldbestand selbständig verwaltende Amtsstelle, an welche die dem Reiche usw. geschuldete Leistung zu erfolgen, die also die Leistung von dem Schuldner tatsächlich entgegenzunehmen hat, und die Amtsstelle, von der die Gegenforderung des Schuldners gegen das Reich usw. tatsächlich zu berichtigen ist, die nämlichen sind oder nicht."
Das preußische Kriegsministerium unterhielt in Köln mindestens drei Kassen, aufrechnen durfte die Stadt nur bei einer. Mehr kommt bei dieser Sprachkunst nicht heraus. Aber ist das nicht von zeitloser Schönheit? Unwillkürlich fragt man sich, ob bayerische Prädikats-Juristen – wie Edmund Stoiber – derlei auswendig lernten und ihre Rhetorik daran schärften.
Mit Schlagzeug untermalt jedenfalls bekämen von solchem Reichsgerichts-Rap nicht nur Juristen leuchtende Augen.
Martin Rath, Rechtsgeschichten 1913: Katz, Maus und Rhetorik für Stoiber . In: Legal Tribune Online, 19.05.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/8762/ (abgerufen am: 29.04.2024 )
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