Die Hessen stimmen am Sonntag auch über Änderungen der Landesverfassung ab. Das geht in der Landtagswahl etwas unter - zu Unrecht, zeigt Martin Rath. Die Verfassung bot schon viel Interessantes, von Entnazifizierung bis Sexualkundeunterricht.
Der bundesweiten Öffentlichkeit wäre dieser Vorgang wohl weitgehend unbekannt geblieben, stünde nicht auch eine Änderung der hessischen Vorschriften zur Todesstrafe an. Diese wirken wie ein Kuriosum, weil die Todesstrafe bundesweit durch Artikel 102 Grundgesetz (GG) seit 1949 abgeschafft ist. Die 1946 in Kraft getretene Hessische Verfassung hatte sie hingegen nur auf "besonders schwere Verbrechen" beschränkt (Artikel 21 Abs. 1 Satz 2) und das Begnadigungsrecht geregelt (Artikel 109 Abs. 1 Satz 2). Dass das Bundesrecht keinen Raum für die hessischen Normen ließ, konnte man bisher mit einem Schulterzucken oder mit Belustigung über den ältlichen Normbestand der Hessen quittieren.
Es sind nur vereinzelt Bedenken gegen die Verfassungsänderungen des Jahres 2018 geäußert worden. Dies wird wohl darauf zurückzuführen sein, dass die Landesverfassungen im allgemeinen wie im spezifisch juristischen Bewusstsein nicht die größte Aufmerksamkeit genießen.
Dass insbesondere die Hessische Verfassung – als älteste deutsche Landesverfassung – es nicht verdient, derart stiefelterlich behandelt zu werden, möchte die folgenden Auszüge aus ihrer Geschichte vermitteln. Denn schließlich enthält diese Landesverfassung weit über die überholten Vorschriften zur Todesstrafe oder neue, etwas hausbackene Staatszielbestimmungen hinaus auch Normen, die jedenfalls jeden Juristen in Wallung bringen können.
Kein Grundrechtsschutz nach Strohwitwen-Motorradverkauf
Streiten sich Eheleute heute über das Motorradfahren, darf man regelmäßig eine unterschiedliche Risikowahrnehmung und fehlende Bereitschaft zur verfrühten Witwenschaft unterstellen.
Von seiner Gattin ums Zweirad gebracht worden zu sein, schmerzte 1949 in einem der ersten hessischen Verfassungsfälle einen Kriegsheimkehrer gleich doppelt. In der schwach motorisierten Nachkriegszeit muss dies schon für sich genommen ein schmerzhafter Verlust gewesen sein: Während der Kriegsgefangenschaft ihres Mannes hatte die Frau das Zweirad einem Dritten verkauft und übereignet – nach Ansicht des Amtsgerichts zu Recht, da in Kriegs- und Notzeiten die Schlüsselgewalt der Gattin nach § 1357 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) weiter reiche als in Friedenszeiten.
Der zweite Schmerz: Der Staatsgerichtshof des Landes Hessen wies mit Beschluss vom 14. April 1949 nicht nur seinen Antrag auf Feststellung zurück, die Entscheidung des Amtsgerichts habe ihn in seinem nach Artikel 45 Hessische Verfassung geschützten Eigentumsrecht verletzt. Der Staatsgerichtshof legte ihm auch eine Gebühr von 100 Mark auf, damals mehr als ein Dreißigstel des durchschnittlichen Jahreseinkommens.
Damit verdankt die deutsche Rechtsgeschichte dem hessischen Verfassungsrecht einen frühen, wenn nicht gar den ersten Fall einer ausführlichen Belehrung über auszuschöpfende Rechtswege in Grundrechtsbeschwernissen – zuzüglich schmerzhafter Gebühr bei Mängeln in Form und Gründen.
Staatsgerichtshof des Landes Hessen, Beschl. vom 14.05.1949, Az. P.St. 20.
Die Verfassung soll kein Wunschkonzert mehr sein
Bereits die Weimarer Reichsverfassung von 1919 hatte zu einer wichtigen sozialen Frage Stellung bezogen. In ihrem Grundrechtsteil hießt es unter Artikel 145 Absatz 3: "Der Unterricht und die Lernmittel in den Volksschulen und Fortbildungsschulen sind unentgeltlich."
Wer nicht selbst von den eigenen, möglicherweise bildungsbeflissenen Eltern oder Großeltern gehört hat, welche Enttäuschung für sie darin lag, dass sie aus wirtschaftlichen Gründen, schon wegen der Schulgebühren nicht ans Abitur denken durften, geschweige denn an ein Hochschulstudium, wird schlecht nachvollziehen können, welch ungeheuerliches Versprechen die alte Reichsverfassung damit machte.
Das Problem: Nach ganz herrschender Auffassung handelte es sich nur um ein programmatisches Versprechen. Der Gesetzgeber der Weimarer Republik setzte es nicht in die Praxis um.
Mit Urteil vom 8. Juli 1949 entschied aber der Staatsgerichtshof des Landes Hessen, dass eine der Weimarer Norm entsprechende Regelung der Landesverfassung nicht bloß programmatischer Natur war, sondern seit ihrem Inkrafttreten 1946 als unmittelbar geltendes Recht zu behandeln sei – und erklärte damit zwischenzeitlich doch erhobene Gebühren für rechtswidrig.
Was sie von bloßer Verfassungslyrik hielten, notierten die Richter 1949 wie folgt:
"Daraus, dass die Weimarer Verfassung - wenn auch zum Teil zwangsläufig - sehr viel Programmsätze und wenig positives Recht enthielt, ergaben sich die aus der Vergangenheit hinlänglich bekannten Streitpunkte und Schwierigkeiten, die schließlich zu einer Aushöhlung der gesamten Verfassungsgrundlagen führten. Eine solche Entwicklung wollte die Hessische Verfassung bewusst verhindern und Programmsätze nach Möglichkeit vermeiden."
Knapp 70 Jahre später steht der Hessischen Verfassung ein ganzer Katalog neuer Staatsziele ins Haus.
Staatsgerichtshof des Landes Hessen, Urteil vom 08.07.1949, Az. P.St. 22.
Rechtswidrige Sozialisierung?
Ins Englische übersetzt müsste die folgende hessische Verfassungsnorm wie der Mittelfinger wirken, den das Volk des deutschen Binnenlandes den britischen Geschäftsleuten entgegenstreckt, sollten diese ihre Geschäfte aus Brexitanien nach Frankfurt am Main und Umland verlagern wollen.
In Artikel 41 der Hessischen Verfassung heißt es u.a.: "(1) Mit Inkrafttreten dieser Verfassung werden
1. in Gemeineigentum überführt: der Bergbau (Kohlen, Kali, Erze), die Betriebe der Eisen- und Stahlerzeugung, die Betriebe der Energiewirtschaft und das an Schienen oder Oberleitungen gebundene Verkehrswesen;
2. vom Staat beaufsichtigt oder verwaltet: die Großbanken und Versicherungsunternehmen und diejenigen in Ziffer 1 genannten Betriebe, deren Sitz nicht in Hessen liegt. […]".
Auf Antrag der FDP-Fraktion im Hessischen Landtag befand der Staatsgerichtshof des Landes Hessen mit Urteil vom 20. Juli 1951 darüber, ob diese Vorschrift rechtmäßig in die Landesverfassung gekommen war.
Das Urteil dokumentiert die wilde Vorgeschichte der Norm, über die das hessische Volk – nach Anweisung der amerikanischen Besatzungsmacht – gesondert hatte abstimmen müssen. Im Ergebnis entschied der Staatsgerichtshof, dass der hessische Sozialisations-Artikel "auf einem vorkonstitutionell geregelten Verfahren [beruht], das rechtswirksam durchgeführt worden ist. Demgemäß steht seine Rechtsgültigkeit außer Zweifel."
Etwas merkwürdig, dass das hessische Volk am 28. Oktober 2018 darüber abstimmt, die antiquierte Vorschrift zur Todesstrafe aus der hessischen Landesverfassung zu streichen, die von parteipolitischer Seite nie ernsthaft operationalisierte Vorgabe, das Großkapital zu vergesellschaften, aber unberührt und ungerührt Verfassungstext bleibt.
Staatsgerichtshof des Landes Hessen, Urteil vom 20.07.1951, Az. P.St. 76.
Nationalsozialismus ist keine Meinung
Mit der Frage, wie es um den Rechtsschutz in Entnazifizierungsverfahren bestellt sei, insbesondere ob die unter amerikanischer Aufsicht entstandene Hessische Verfassung hierzu etwas hergebe, war der Staatsgerichtshof des Landes Hessen wiederholt angerufen worden.
Diesen Affären sah sich das Gericht jedoch meist weitgehend entzogen: Das Gesetz Nr. 104 zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus, das die Einstufung von NS-Verstrickten in fünf Kategorien vorsah – von I. Hauptschuldige bis V. Entlastete – und entsprechend sanktionierte, war zwar am 5. März 1946 von den Ministerpräsidenten der Länder der US-Besatzungszone unterzeichnet und dann jeweils verkündet worden. Es galt damit aber als Recht, das abseits der Landesverfassung kraft eigener Ermächtigung durch die Besatzungsmacht entstanden war.
Soweit eigene deutsche bzw. hessische Staatsgewalt ehemals nationalsozialistisch Verstrickte in ihren Freiheiten beschränkte, kam die Verfassung dann aber doch ins Spiel.
So begehrte ein Rechtsanwalt und Notar, der bereits seit 1922 Mitglied der NSDAP gewesen war und ihr auch nach Aufhebung ihres Verbots 1929 wieder angehörte, und der dann seit 1930 die juristische Schulung seiner SA-Standarte betreut und u.a. als Ehren-SA-Sturmführer reüssiert hatte, vom Staatsgerichtshof die Feststellung, die vom Hessischen Minister der Justiz verweigerte Wiederzulassung zur Anwaltschaft bzw. zum Notariat verletze ihn u.a. in seinem Recht auf Gleichheit (Artikel 1) und Überzeugungsfreiheit (Artikel 9 der Hessischen Verfassung).
Der Staatsgerichtshof entschied gegen ihn. U.a. mit dem Argument, sein Ausschluss als NS-Mitläufer beruhe nicht auf seiner schützenswerten Überzeugung, sondern auf einer politischen Handlungsweise.
Staatsgerichtshof des Landes Hessen, Beschluss vom 15.02.1952, Az. P.St. 72.
Das Grundgesetz interessiert den Staatsgerichtshof nicht
Dass die Verfassung des Landes Hessen keinen Schutz vor Entscheidungen des Bundesgerichtshofs bietet, stellte der Staatsgerichtshof mit Beschluss vom 9. November 1962 fest.
Der Antragsteller hatte sich an den Staatsgerichtshof gewendet, nachdem er vor einem hessischen Landgericht als sogenannter gefährlicher Gewohnheitsverbrecher u.a. wegen gemeinschaftlichen fortgesetzten Diebstahls zu einer Zuchthausstrafe von drei Jahren sechs Monaten sowie Sicherheitsverwahrung verurteilt worden war. Mit Letzterer war man seinerzeit leichter zur Hand als jemals danach: Konkret war es nur um eine Serie nächtlicher Automateneinbrüche gegangen.
Der Häftling trug vor, die Kriminalpolizei habe ihn unter Verletzung von § 136a Strafprozessordnung und Artikel 20 Hessische Verfassung verhört. Letztgenannter erlaubt es u.a., sich in Strafverfahren, "jederzeit durch einen Rechtsbeistand verteidigen zu lassen". Wegen eines Fluchtversuchs sei er zudem vor der Hauptverhandlung zudem neun Tage lang in einer Zelle von 2 × 3 Metern Größe festgehalten worden, was ihn körperlich und geistig erschöpft so habe, dass er dem Strafverfahren nicht mehr folgen konnte.
Soweit er eine Verletzung von Artikel 1 und 25 Grundgesetz rügte, erklärte ihm der Staatsgerichtshof, müsse er sich an das Bundesverfassungsgericht wenden. Eine Verletzung von Grundrechten der Hessischen Verfassung könne der Staatsgerichtshof nicht prüfen, da das höchste zuständige Gericht, der Bundesgerichtshof, hier kein hessisches war.
Staatsgerichtshof des Landes Hessen, Beschluss vom 09.11.1962, Az. P.St. 364.
Von der Widerstandspflicht bei Verfassungsbruch
Die Tätigkeit der alliierten Besatzungsmächte und der zunächst von ihnen legitimierten deutschen staatlichen Institutionen hinterließ eine lange Spur an Rechtsproblemen – und die Verfassung des Landes Hessen bot merkwürdige Möglichkeiten, die Gerichte zu beschäftigen.
So ging 1963 der Sohn eines Mannes gegen das Urteil eines hessischen Landgerichts vor: Der Vater war 1950 zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt worden, das Oberlandesgericht Frankfurt am Main hatte die Revision des Vaters acht Monate später verworfen.
Vor dem Staatsgerichtshof des Landes Hessen rügte der Sohn, dass das Schwurgericht im Jahr 1950 statt nach § 81 Gerichtsverfassungsgesetz mit drei Richtern und sechs Geschworenen tatsächlich nur mit zwei Richtern und sieben Geschworenen besetzt gewesen sei. Diese Besetzung beruhte auf einer Anordnung des Hessischen Ministers der Justiz aus dem Jahr 1947.
Der Ansatzpunkt des Sohnes, gegen die Besetzung des Gerichts kraft dieser Anordnung vorzugehen, ergab sich aus Artikel 147 Absatz 2 Hessische Verfassung:
"Wer von einem Verfassungsbruch oder einem auf Verfassungsbruch gerichteten Unternehmen Kenntnis erhält, hat die Pflicht, die Strafverfolgung des Schuldigen durch Anrufung des Staatsgerichtshofs zu erzwingen. Näheres bestimmt das Gesetz."
Der Staatsgerichtshof erklärte die vom Gerichtsverfassungsgesetz abweichende Besetzung jedoch in einer hübsch verwickelten Argumentation zum reichs-, besatzungs- und bundesrechtlichen Rechtsstand für gültig und befand darüber hinaus, dass für die Anwendung der pathetischen Widerstandspflicht nunmehr kein Raum mehr sei.
Staatsgerichtshof des Landes Hessen, Beschluss vom 30.04.1963, Az. P.St. 359.
Doch kein Schulgeld für Langzeitstudenten
Die hessische Verfassungspflicht, Schulen und Universitäten gebührenfrei vorzuhalten, wurde in Westdeutschland oft als vorbildlich diskutiert. Artikel 59 Absatz 1 Satz 1 Hessische Verfassung: "In allen öffentlichen Grund-, Mittel-, höheren und Hochschulen ist der Unterricht unentgeltlich."
Für Kinder und Jugendliche der allgemeinen Schulen war und ist diese Vorschrift durch einen natürlichen Umstand limitiert: Sie wachsen meist aus dem Alter heraus, in dem ein Schulbesuch angebracht ist. Später an ihrem Unverstand zu verzweifeln, ist allgemeines Lebensrisiko.
Weniger haltbar, als das verfassunggebende hessische Volk 1946 vermutlich hatte absehen können, blieb aber die Limitation der bereits vermittelten höheren geistigen Reife, die bis dahin nur eine mit humanistischer Bildung durchtrainierte 5-Prozent-Minderheit zum Besuch einer Hochschule berechtigt hatte: Seit den 1960-er Jahren stieg die Zahl der Studenten dank größerer Abiturientenkohorten stark an.
Mit Urteil vom 1. Dezember 1976 stellte der Staatsgerichtshof des Landes Hessen fest, dass die Hessische Verfassung jedenfalls solchen Studenten keine Unterrichtsgeldfreiheit gewährleiste, die den Abschluss ihres Studiums "unangemessen hinauszögern" bzw. ohne hinreichenden Grund ein Zweitstudium in Angriff nehmen.
Grund: Als "Teilhaberecht" stehe dieses soziale Grundrecht der Hessischen Verfassung unter dem "Vorbehalt des Möglichen im Sinne dessen, was der einzelne vernünftigerweise von der Gesellschaft beanspruchen kann".
Die Ablehnung von bloßer Verfassungsprogrammatik klang hier noch nicht einmal mehr markig nach. Statt unerwünschte Studenten über die Noten auszusondern, wurde die Frage monetarisiert betrachtet.
Staatsgerichtshof des Landes Hessen, Urteil vom 01.12.1976, Az. P.St. 812.
Gefängnispraxis kraft Bundesrecht
Gilt heute, dass in Deutschland keine spektakuläre Straftat geschehen kann, ohne dass sich eine Meute von Fachleuten für Fragen der sogenannten inneren Sicherheit um eine Erhöhung des Strafrahmens, eine Schwächung strafprozessualer Schutzrechte oder sonstige Härten im Kampf gegen das Böse bemüht, wehte durch die Diskurse der 1970-er Jahre kurz ein anderer Zeitgeist.
So hatte das Bundesverfassungsgericht 1972 entschieden, dass auch die Grundrechte von Strafgegangenen nur durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes eingeschränkt werden dürfen. Bis dahin waren die Regelungen des Strafvollzugs durch das sogenannte besondere Gewaltverhältnis begründet worden. Im konkreten Fall war es darum gegangen, dass dem Leiter der Justizvollzugsanstalt Celle die Rechtsgrundlage dafür verloren ging, die Post der Inhaftierten zu kontrollieren.
Entsprechend wurde 1976 über das Strafvollzugsgesetz beraten, das zum 1. Januar 1977 in Kraft trat und dessen Gegenstand erst seit 2006 wieder wettbewerbsföderal den Ländern überlassen wurde.
Als der Staatsgerichtshof des Landes Hessen sich im Beschluss vom 3. September 1980 mit der Beschwerde eines Häftlings befasste, der sich durch eine zögerliche, seine Rechte zunichtemachende Praxis der Anstaltsleitung in seinen Rechten aus Artikel 1 Hessische Landesverfassung verletzt sah ("Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich, ohne Unterschied des Geschlechts, der Rasse, der Herkunft, der religiösen und der politischen Überzeugung."), konnte das Gericht unter anderem darauf verweisen, dass das Strafvollzugsgesetz Bundesrecht sei – und erklärte sich für unzuständig. Heute wäre dies wohl wieder eine rein hessische (Verfassungs-) Sache.
Staatsgerichtshof des Landes Hessen, Beschluss vom 03.09.1980, Az. P.St. 902.
Let's talk about Sex
Nachdem in den 1970er Jahren in vielen Bundesländern damit begonnen worden war, menschliche Sexualität im Unterricht erstens überhaupt und zweitens über die bloß biologische Mechanik hinaus zu thematisieren, sahen sich manche Eltern in ihrem Recht angegriffen, ihre Kinder erstens nach jeweils eigenen Vorstellungen oder zweitens überhaupt nicht mit dem heiklen Thema zu konfrontieren.-Die Hessische Verfassung hielt dazu insbesondere folgende Prüfungsmaßstäbe bereit:
"Die Erziehung der Jugend zu Gemeinsinn und zu leiblicher, geistiger und seelischer Tüchtigkeit ist Recht und Pflicht der Eltern" (Art. 55 Satz 1).
"Grundsatz eines jeden Unterrichts muß die Duldsamkeit sein. Der Lehrer hat in jedem Fach auf die religiösen und weltanschaulichen Empfindungen aller Schüler Rücksicht zu nehmen und die religiösen und weltanschaulichen Auffassungen sachlich darzulegen" (Art. 56 Abs. 3).
"Ziel der Erziehung ist, den jungen Menschen zur sittlichen Persönlichkeit zu bilden, seine berufliche Tüchtigkeit und die politische Verantwortung vorzubereiten zum selbständigen und verantwortlichen Dienst am Volk und der Menschheit durch Ehrfurcht und Nächstenliebe, Achtung und Duldsamkeit, Rechtlichkeit und Wahrhaftigkeit" (Art. 56 Abs. 4).
Der Staatsgerichtshof gestand Eltern, die dagegen geklagt hatten, dass ihre Kinder dem Sexualkunde-Unterricht nicht entrinnen konnten, zwar zu, dass "die geschlechtliche Erziehung in erster Linie Angelegenheit des Elternhauses ist, weil die notwendigen Gespräche und Erörterungen über die die Sexualität betreffenden Fragen und Probleme am besten und natürlichsten in der geschützten und geborgenen Sphäre des Elternhauses und der Familie geführt werden können". Doch sah er die schulgesetzlichen Vorgaben für den Sexualkundeunterricht als hinreichend an.
Trotz starker Verfassungsprosa blieb die Hessische Landesverfassung hier juristisches Nebenkriegsgebiet. In der Hauptsache wurde der Kampf bundesrechtlich ausgetragen.
Staatsgerichtshof des Landes Hessen, Beschluss vom 28.02.1985, Az. P.St. 1005.
1978: Arbeitskampfrecht auf Hessenart
Es ist nachvollziehbar, dass es den Juristen (m/w/d) etwas Nerven kostet, wenn die breite Öffentlichkeit bzw. mehr oder weniger rechtskundige Possenreißer beim Schlagwort "antiquierte Vorschriften der Hessischen Verfassung" immer nur an die Todesstrafe denken.
Größere Aufmerksamkeit verdiente tatsächlich wohl eher Artikel 29 Absatz 5 Hessische Verfassung: "Die Aussperrung ist rechtswidrig."
Mit Urteil vom 27. September 1978 entschied das Arbeitsgericht Frankfurt am Main über den Lohnanspruch eines Gewerkschaftsmitglieds gegen seinen Arbeitnehmer für die Zeit vom 14. März (7 Uhr) bis 20. März 1978 (12 Uhr). Über diesen Zeitraum war der Arbeitnehmer im Zuge eines Arbeitskampfes ausgesperrt worden. Die Gewerkschaft machte die an sie abgetretenen, der Höhe nach unstrittigen Lohnansprüche geltend.
Bundesgesetzlich sind Arbeitskämpfe nicht geregelt, obwohl sie doch eine zentrale Veranstaltung zur Regelung wirtschaftlicher und sozialer Verhältnisse zwischen Arbeitskräften und Kapitaleignern sind oder es doch sein sollen. Man könnte sich parlamentarisch sogar darüber streiten, ob man nicht wieder etwas mehr wohlgeordneten Klassenkampf gebrauchen könnte – mit Blick auf das Stabilitätsgesetz oder damit die Leute nicht aus dümmeren Gründen in den Fußgängerzonen herumdemonstrieren.
In seiner Würdigung des inhaltsarmen Artikels 9 Absatz 3 Grundgesetz befand das Arbeitsgericht Frankfurt 1978 jedenfalls, dass die Aussperrung als Kampfmittel der Arbeitgeberseite nicht durch die Bundesverfassung garantiert sei. Selbst wenn weitere Gewichtungen der Arbeitskampfmittel im Urteil mehr Raum einnahmen: Auch über die Wertung des hessischen Verfassungsgebers wollte sich das Arbeitsgericht nicht hinwegsetzen.
Diese Entscheidung aus dem Jahr 1978 elektrisierte die deutsche Arbeitsrechtswissenschaft. Zehn Jahre danach sollte das Bundesarbeitsgericht jedoch in einer anderen Sache erklären, dass Aussperrungen bundesrechtlich erlaubt sein können.
Seither ist die Aufmerksamkeit für das hessische Aussperrungsverbot stark abgekühlt, obwohl es doch als Stachel im Fleisch wahrgenommen werden sollte – dass das Arbeitskampfrecht nicht umfassend gesetzlich geregelt ist, bleibt ein für den modernen Verfassungsstaat fragwürdiger Zustand.
Arbeitsgericht Frankfurt am Main, Urteil vom 27.09.1978, Az. 5 Ca 199/78.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 26.04.1988, Az. 2 AZR 399/86.
2018 – Was man am Wahlabend singen könnte
Ob je ein berufener Jurist (m/w/d) Artikel 66 der Hessischen Verfassung ähnlich umfassend kommentiert hat, wie es Artikel 22 Grundgesetz zuteil wurde, ist hier leider nicht bekannt.
In seiner Kommentierung zu Artikel 22 Abs. 2 Grundgesetz brachte etwa Roman Herzog (1934–2017) Erklärungen auch zum verfassungsrechtlichen Status des Deutschlandlieds unter. Das gab nicht nur mit Blick auf den Wortlaut ("Die Bundesflagge ist schwarz-rot-gold.") das äußerst seltene Beispiel einer synästhetischen Verfassungshermeneutik, sondern bot auch umfassend Sicherheit zum Recht der Staatssysmbole im Bund. Vermutlich harrt aber Artikel 66 Hessische Verfassung ("Die Landesfarben sind rot-weiß.") einer entsprechenden, die menschlichen Sinnesleistungen transzendierenden Interpretation.
Ob und wie weit die Auskünfte eines bekannten Online-Nachschlagewerks tragfähig sind, wonach § 90a Absatz 1 Nr. 2 Strafgesetzbuch eine Verunglimpfung auch des "Hessenlieds" als Staatssymbol mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bedroht, muss hier daher offen bleiben.
Das ist bedauerlich, denn die vierte Strophe scheint wie für Juristen (Fristenbuch!) und Wahlkämpfer (Land als seliges Pfand!) gemacht:
"Mag unsere Frist auch im Traume verweh’n / und stürzen, was wir dir gegeben, / wirst du doch den Morgen der Ewigkeit seh’n, / wirst Mutter sein strahlendem Leben, / denn stolz loht im Herzen der Enkel der Brand, / den einst uns’re Ahnen besessen: / Gott grüße dich, Heimat, der Seligkeit Pfand: / unsterbliches Vaterland Hessen!"
Abstimmung über die Landesverfassung: "Heimat, der Seligkeit Pfand: unsterbliches Vaterland Hessen!" . In: Legal Tribune Online, 28.10.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/31739/ (abgerufen am: 03.05.2024 )
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