Unter dem Pseudonym Maximilian Jacta publizierte der Marburger Strafrechtsprofessor Erich Schwinge seit den 1960er-Jahren eine Reihe populärer Justizgeschichten. Für dieses Genre sind sie durchaus typisch und prägen den Blick auf die juristische Praxis vielleicht mehr als jede rechtswissenschaftliche Abhandlung.
"Ein Schriftsteller namens Adolf Brand, 32 Jahre alt, beruflich gescheitert, Winkeljournalist, wegen Beleidigung und Verbreitung unzüchtiger Schriften mehrfach vorbestraft", in dürren, aber bösen Worten beschreibt Erich Schwinge (1903-1994), Strafrechtsprofessor in Marburg, die Nebenfigur in einem der großen Justiz-Dramen des 20. Jahrhunderts, der sogenannten "Harden-Eulenburg-Affäre". Als vormaliger Kriegsgerichtsrat – Ankläger in einer Reihe von Prozessen gegen Wehrmachtsangehörige, die teils mit Todesurteilen endeten – mag Schwinge in dieser scharfen Personenbeschreibung geübt gewesen sein.
In den 1960er- und 1970er-Jahren wurden Schwinges Erzählungen zu den großen Justizereignissen der Vergangenheit und aus aller Herren Länder – die Prozesse gegen Al Capone oder Oscar Wilde zählen beispielsweise zu seinem Repertoire – in großer Auflage unters Volk gebracht. Stilistisch sauber und auch – soweit das unsere Stichprobe hergibt – inhaltlich nicht wirklich überholt, sind diese Justizerzählungen nach wie vor lesenswert. Umstritten war Professor Schwinge auf anderem Parkett.
Harden-Eulenberg-Affäre – Skandal des Unpolitischen
Philipp Fürst zu Eulenburg (1847-1921), vordem enger Freund und Vertrauter von Kaiser Wilhelm II. (1859-1941), kam über eine Pressekampagne zu Fall, die der Journalist Maximilian Harden (1861-1927) gegen ihn und weitere Angehörige eines Netzwerks rund um den preußisch-deutschen Monarchen vor allem mit den Mitteln der Gerichtsöffentlichkeit in Gang setzte. Zwei Vorgaben des Gesetzgebers machten die böse Justiz-Seifenoper, die sich über die Jahre 1906 bis 1909 hinzog, möglich: die Strafbarkeit auch konsensualer homosexueller Handlungen unter erwachsenen Männern und die strafprozessuale Regel, nahezu alle Zeugenaussagen vor Gericht beeiden zu lassen, selbst wenn sie das engere Erkenntnisinteresse des Verfahrens nicht betrafen.
Hardens Methode stützte sich auf diese Vorgaben. Hatte er adelige Offiziere und Beamte aus dem weiteren oder näheren Umfeld des Kaisers öffentlich homosexueller Umtriebe bezichtigt, konnte er – anwaltlich recht effektiv beraten – in den anschließenden Strafprozessen gegen seine Person höchst prominente Zeugen aus ebenjenem Netzwerk befragen lassen. Dazu bediente sich Harden in einem Fall seines Kollegen Adolf Brand, für den Schwinge die eingangs zitierten bösen Worte fand. Eulenburg machte in diesem Prozess den Fehler, sich selbst als Zeuge unter Eid von jeder sexuellen Verfehlung freizusprechen. Diese – nicht entscheidungserhebliche Aussage – konnte Harden für ein anschließendes Meineid-Verfahren gegen Eulenburg nutzen, entsprach sie doch nachweislich nicht der Wahrheit.
Vorteilhafte Verfremdungseffekte älterer "PC"
Der Fall aus dem Buch Maximilian Jacta/Erich Schwinge soll hier nicht nacherzählt werden. Bemerkenswert ist, dass er – in den 1960er-Jahren publiziert – in der juristischen Sache selbst sowie in der publizistischen Darstellung keine erkennbaren Abweichungen zu jüngeren Fallerzählungen der gleichen Angelegenheit aufweist. Einen Vorteil hat die ältere Erzählung dennoch: Die historisch-moralische Wertung ist dem heutigen Leser tendenziell fremd. Jacta/Schwinge lässt – trotz relativer Nüchternheit im Urteil – beispielsweise anklingen, dass Hardens äußerst unfeine Publizistik in der Summe ein Dienst am Vaterland gewesen sei, weil sie doch den Hofstaat Kaiser Wilhelms von zweifelhaften Personen befreit habe.
Diesem gnädigen Urteil von Jacta/Schwinge wird man heute nicht mehr folgen wollen: Die zentralen, politischen Figuren des Deutschen Reichs, einem aufstrebenden, modernen Staat, der vor wirtschaftlicher und militärischer Kraft strotzte, mussten sich mit einer sexualstrafrechtlichen Seifenoper auseinandersetzen, während es an kritischer Publizistik in eigentlich politischen Fragen fehlte. Gefehlt hat es jedenfalls, wie sich 1914 zeigte, am politischen, nicht am moralischen Hirnschmalz. Parallelen zur Gegenwart mag man ziehen. Und weil man heute so gern über sie schimpft: Bei Jacta/Schwinge kann man nachlesen, dass es zu Kaisers Zeiten auch schon so etwas wie Political Correctness gab. Nur war sie eben eher "rechts" statt "links".
2/2: Hauptmann von Köpenick ohne Rühmann/Juhnke-Kitsch
Ein ähnlicher Effekt geht von Schwinges Erzählung des Falls Friedrich Wilhelm Voigt (1849-1922) aus, bekannt als Hauptmann von Köpenick. Carl Zuckmayers Theaterstück von 1931 und die Verfilmungen mit Heinz Rühmann (1956) und Harald Juhnke (1997) haben den Fall von der menschlichen Seite bekannt gemacht: Ein als preußischer Hauptmann verkleideter ehemaliger Zuchthaus-Sträfling stellt einen Trupp Soldaten unter sein Kommando und nimmt mit Hilfe der naiven Befehlsempfänger die Stadtkasse von Cöpenick (damals bei Berlin) in Beschlag. Auch als Gegenstand der juristischen Didaktik wird der Fall gelegentlich wieder aufgegriffen (PDF).
Jacta/Schwinge erzählt, anders als die Dramatisierungen, vom anschließenden Strafprozess und würdigt beispielsweise die Vorstrafen, die Voigt vor der "Köpenickiade" abgesessen hatte. Mit 14 Jahren war Voigt erstmals wegen Bettelei für 14 Tage in Haft gekommen – nicht unwichtig hier der Hinweis auf die damals mit zwölf Jahren beginnende relative Strafmündigkeit. Bemerkenswert auch, dass Schwinge eine 15-jährige Zuchthausstrafe aus dem Vorstrafenregister des späteren "Hauptmanns" für schuldunangemessen und – trotz der engen Revisionsvoraussetzungen des Reichsgerichts – revisibel erklärt. Das erwartet man nicht von einem, gelinde gesagt, sehr konservativen Strafrechtsgelehrten.
Schwinge, ein nicht unumstrittener Strafrechtsprofessor
Denn als Strafrechtsprofessor in Marburg war Erich Schwinge umstritten. Konservative Juristen halten ihm zugute, dass er in der NS-Zeit gegen den Irrationalismus der "Kieler Schule" (PDF) gestritten habe. Weniger konservative vertreten die Ansicht, dass Schwinge als führender Kommentator des Militärstrafrechts und als Angehöriger der Militärgerichtsbarkeit reichlich Blut an den Händen habe. Als streitbarer Vertreter seiner persönlichen Ehre sowie als Strafverteidiger von Angehörigen der Waffen-SS und anderer Wehrmachtsverbände spielte er zudem lange nach dem Krieg noch eine geschichtspolitische Rolle bei der Beantwortung der Frage, wo beim Wort "Wehrmachts-Justiz" die distanzierenden Anführungszeichen zu setzen seien.
Als Erzähler von teils sehr gängigen Justiz-Geschichten – beispielsweise des "Hauptmanns von Köpenick", aber auch der Fälle Al Capone oder Oscar Wilde – ist sein Werk von unbestreitbarem Wert: Man schaue auf die kleinen Abweichungen vom heutigen historischen Kenntnisstand in der jeweiligen Rechtssache und auf die mitunter schon größeren Abweichungen in der moralischen Bewertung, denn: "Der große Kunstgriff, kleine Abweichungen von der Wahrheit für die Wahrheit selbst zu halten, worauf die ganze Differential-Rechnung gebaut ist, ist auch zugleich der Grund unsrer witzigen Gedanken, wo oft das Ganze hinfallen würde, wenn wir die Abweichungen in einer philosophischen Strenge nehmen würden." (Georg Christoph Lichtenberg)
Tipp: Wegen der hohen Auflagen in den 1960er-/1970er-Jahren sind die Justizgeschichten von "Maximilian Jacta" regelmäßig im gutsortierten Antiquariat verfügbar. Ein Teilnachdruck erschien in den 2000er-Jahren.
Martin Rath, Gerichtsjournalismus: Die Justizseifenoper . In: Legal Tribune Online, 02.02.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/10838/ (abgerufen am: 03.05.2024 )
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