Das VG Schleswig hat nach Klage der Umwelthilfe vom Kraftfahrt-Bundesamt genehmigte VW-Abschalteinrichtungen als illegal eingestuft. Wird das Urteil rechtskräftig, könnten Millionen Dieselfahrzeuge nachgerüstet oder stillgelegt werden müssen.
Die Abschaltung der Abgasreinigung bei Außentemperaturen unter zehn Grad, wie sie bei Dieselfahrzeugen, die Volkswagen (VW) unter anderem in den Jahren 2008 und 2009 für typgenehmigte zwei-Liter-Motoren des VW Golf, VW Touran verwendet hat, ist rechtswidrig. Das gilt auch für weitere Abschalteinrichtungen, wie etwa die Taxi-Schaltung, welche nach 900 Sekunden im Stand die Abschalteinrichtung runterfährt. Das hat das Verwaltungsgericht (VG) Schleswig entschieden (Urt. v. 20.02.22, Az. 3 A 113/18).
Hintergrund des Urteils ist eine Klage der Deutschen Umwelthilfe (DUH) gegen das Kraftfahrt-Bundesamt (KBA). Das KBA hatte im Zuge des Dieselskandals von 2015 von VW verlangt, die Software zu aktualisieren und die skandalträchtige Abschalteinrichtung, eine Prüfstandserkennung, zu entfernen. Allerdings stufte das KBA in Freigabebescheiden weitere VW-Abschalteinrichtungen vom KBA als zulässig ein. Auch die sogenannten Thermofenster. Dabei handelt es sich um eine Software, die dafür sorgt, dass die Abgasreinigung bei in Europa völlig üblichen Temperaturen von unter 10 Grad heruntergeregelt wird, womit Grenzwerte für saubere Luft um ein Vielfaches überschritten werden, mit damit einhergehenden Gesundheitsgefährdungen für die Bevölkerung.
Die DUH griff die Freigabebescheide des KBA an und verlangte von der Behörde zudem, die Entfernung von Abschalteinrichtungen anzuordnen. Dem kam das KBA nicht nach, woraufhin die DUH Klage beim VG Schleswig einreichte. Nachdem es zunächst eine Klage der DUH für unzulässig erklärte, legte das Gericht in einem erneuten Verfahren dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) mehrere Fragen vor.
EuGH verlangt effektiven Umweltschutz
Der EuGH bejahte im Vorabentscheidungsverfahren einerseits die Klagebefugnis der DUH. Zudem stellte der EuGH wiederholt fest, dass die Vorschrift für eine ausnahmsweise Zulässigkeit von Abschalteinrichtungen (Art. 5 Abs. 2 EG-Verordnung 715/2007) aus Motorschutzgründen eng auszulegen sei, sich auf plötzlich auftretende Schäden am Motor selbst beschränke. Eine Notwendigkeit zur Abschaltung käme zudem nur in Betracht, wenn keine andere technische Lösung vorliege, die solche Motorschutzschäden abwenden könne. Zudem stellte der EuGH klar, dass die Ausnahme (Abschalten der Abgasreinigung) nicht häufiger auftreten dürfe als das Verbot. Daher wäre eine Abgasreinigung, die nicht während des überwiegenden Teils des Jahres funktioniere, auf jeden Fall rechtswidrig.
In der Verhandlung heute argumentierten die Prozessvertreter von VW und KBA weiterhin, dass das temperaturbedingte Abschalten aus Motorschutzgründen erforderlich sei. Dabei wurden Szenarien an die Wand gemalt, wonach das Fahrzeug andernfalls in Brand geraten könne. Die DUH argumentierte hingegen, dass es sich dabei um eine nicht belegbare Theorie handele. Auch würde ein solches Problem jedenfalls nicht bestehen, wenn die Fahrzeuge mit einem SCR-Kat ausgestattet worden wären. Dies sei weiterhin möglich.
VG Schleswig sieht illegale Abschalteinrichtung
Das VG Schleswig, besetzt mit drei Berufsrichtern und zwei Schöffen, folgte in seinem Urteil der engen Auslegung des EuGH und verneinte bereits die Frage, ob Abschalteinrichtungen notwendig seien, um Beschädigungen am Motor zu verhindern. Der EuGH erfasse mit "Motor" nur die Kraftmaschine. Andere Bauteile seien nur relevant, wenn von deren Beschädigung unmittelbare Risiken für den Motor in Form von Beschädigungen oder Unfällen ausgehen und dies dann auch noch eine unmittelbare Bedrohung für die Betriebssicherheit beinhalte. Ein solche Gefahr bestehe nicht, der Vortrag von VW und dem KBA hierzu betreffe Extremszenarien, bei denen sich das Schadensereignis schon vorher abzeichne, so der Vorsitzende Richter Uwe Karstens in der Urteilsbegründung.
Das VG ließ sowohl die Berufung als auch die Sprungrevision zum Bundesverwaltungsgericht zu. Wird die Entscheidung rechtskräftig, bedeutete dies, dass Millionen Dieselfahrzeuge illegal auf europäischen Straßen unterwegs sind. Nicht nur die im Verfahren streitgegenständlichen VW-Motoren sind betroffen. Vielmehr haben weitere VW-Modelle und auch die Modelle fast aller anderen Hersteller temperaturbedingte Abschalteinrichtungen verbaut.
Millionen Fahrzeuge sind betroffen, nicht nur von VW
Die DUH, für die das Verfahren ein Musterprozess ist, geht von bis zu zehn Millionen Pkw aus und kündigte bereits an, gegen alle weiteren "Betrugsdiesel" der Abgasstufen EURO 5 und 6a+b von BMW, Mercedes-Benz, Volkswagen, Audi, Porsche sowie der ausländischen Dieselhersteller vorzugehen. Es seien bereits Klagen gegen 118 Freigabebescheide von Autos diverser Hersteller anhängig.
„Dieses Urteil hat grundlegende Wirkung, denn es ist direkt übertragbar auf alle anderen Fahrzeuge mit temperaturgesteuerten Abschalteinrichtungen. Wir fordern das Kraftfahrt-Bundesamt deshalb auf, die betroffenen Pkw aller Hersteller zurückzurufen und nachrüsten zu lassen. Andernfalls werden wir in allen Fällen Klage erheben“, so Rechtsanwalt Remo Klinger, der die DUH in dem Verfahren vertritt.
VW beharrt auf Standpunkt
VW hatte unter dem Eindruck der mündlichen Verhandlung offenbar mit einem gerichtlichen Sieg gerechnet. In einer Pressemitteilung nach der Verhandlung heißt es, das Gericht habe in seiner vorläufigen Auffassung zu erkennen gegeben, dass es die Thermofenster für zulässig halte. Es drohten weder behördliche Stilllegungen von Fahrzeugen noch Hardware-Nachrüstungen. Keine zwei Stunden später heißt es in einer weiteren Pressemitteilung, dass "bis zur rechtskräftigen Klärung" keine Stilllegungen von Fahrzeugen oder Hardware-Nachrüstungen drohe. In der Sache bleibt VW beharrlich: "Die temperaturabhängige Abgasrückführung in den hier betroffenen Fahrzeugen schützt vor unmittelbaren Risiken für den Motor in Form von Beschädigungen oder Unfalll." (…) Aus Sicht von VW wäre es "unverantwortlich gewesen, Fahrzeuge mit solchen Risiken auf den Markt zu bringen."
Zu der Frage der Verantwortlichkeit des Konzerns für die Gesundheit der Bevölkerung aufgrund unzureichender Abgasreinigung, die dazu führt, dass gesetzliche Grenzwerte massiv überschritten werden und die Luft verschmutzt wird, verhält sich die Pressemitteilung nicht.
Nächste Instanz oder Einlenken der Politik?
Nach dem bisherigen Zeitspiel von Politik und VW ist trotz der klaren Vorgaben des EuGH zu erwarten, dass das KBA gegen die Entscheidung Berufung einlegt oder zumindest Sprungrevision zum Bundesverwaltungsgericht.
Die DUH fordert indes von Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP), es nicht so weit kommen zu lassen. Er soll das KBA im Wege der Fachaufsicht anweisen, das Urteil zu akzeptieren und amtliche Rückrufe aller betroffenen Dieselfahrzeuge und Anordnung einer Hardware-Nachrüstung oder Stilllegung mit Entschädigung der Kunden auf Kosten der Autobauer in die Wege zu leiten.
Zuletzt hatte das Verkehrsministerium indes das Vorgehen des KBA im Dieselskandal ausdrücklich gebilligt. Das KBA habe sich bisher bereits strikt an der Rechtsprechung des EuGH ausgerichtet, ließ das Ministerium LTO wissen, obwohl schon der EuGH im November recht eindeutig das Gegenteil entschieden hatte.
Dieselskandal Reloaded
Unterdessen dürfte für VW noch ein verwandtes Thema zum gigantischen Problem werden. Zivilrechtlich hat der Bundesgerichtshof (BGH) zwar zuletzt mehrfach entschieden, dass offen bleiben könne, ob Thermofenster zulässig seien. Denn jedenfalls läge keine sittenwidrige Schädigung vor. So gingen Kunden bei Schadensersatzklagen leer aus. Noch. Denn auch hier könnte Luxemburg deutsche Gerichte bald zum Umdenken bringen. In einem Verfahren sieht ein Generalanwalt bereits eine Verpflichtung zum Schadensersatz wegen Verletzung eines Schutzgesetzes nach § 823 Abs. 2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB). Folgt der EuGH dem, müssten Autohersteller nicht mehr vorsätzlich sittenwidrig gehandelt haben, sondern nur fahrlässig, um schadensersatzpflichtig zu werden. Es droht eine neue Klagewelle enormen Ausmaßes.
Dies gilt umso mehr, wenn das Urteil des VG Schleswig rechtskräftig wird und Millionen Dieselautos von der Straße müssen, um nachgerüstet oder stillgelegt zu werden. Der Dieselskandal geht in die Verlängerung. Diese könnte für VW, aber auch viele andere Hersteller, lang und teuer werden.
DUH siegt gegen KBA vor VG Schleswig: . In: Legal Tribune Online, 20.02.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/51109 (abgerufen am: 06.12.2024 )
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