Kurz vor der Sommerpause hatten sich Union und SPD auf weitere Möglichkeiten der Wiederaufnahme von Verfahren zu Ungunsten des Angeklagten geeinigt. Nun hofft eine Initiative, das Gesetz auf den letzten Metern verhindert zu können.
Mit einem offenen Brief hat die Initiative "#nichtzweimal" an Bundespräsidenten Frank Walter Steinmeier appelliert, das vom Bundestag und Bundesrat verabschiedete "Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit" nicht auszufertigen. Die Unterzeichner äußern darin erhebliche Zweifel an dessen Verfassungsmäßigkeit und wollen das Gesetz so auf den letzten Metern verhindern. "Bereits mit dem Moment der Ausfertigung dieses Gesetzes müsste jeder ehemals eines Mordes angeklagte Mensch, der freigesprochen oder bloß wegen eines anderen Delikts verurteilt wurde, sein Leben lang in Angst leben", heißt es in dem offenen Brief.
Das "Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit" schafft eine weitere Möglichkeit, Verfahren gegen Freigesprochene wiederaufzunehmen. In dem neu gefassten § 362 Nr. 5 StPO soll dies auch dann zulässig sein, wenn nach neuen Tatsachen oder Beweisen dringende Gründe für die Verurteilung eines wegen Mordes oder Tötungsverbrechen nach dem Völkerstrafgesetzbuch freigesprochenen Angeklagten sprechen. Zuvor war dies nur bei manipulierten Beweisen oder einem nachträglichen Geständnis des Freigesprochenen möglich.
Gegen den Protest von Verfassungsrechtlern, Strafrechtlerinnen, Anwaltsverbänden und sogar den Widerstand aus dem Bundesministerium für Justiz beschloss die Koalition aus Union und SPD die Neuregelung noch in einer Nachtsitzung kurz vor der Sommerpause Ende Juni, der Gesetzesentwurf passierte wenig später auch den Bundesrat.
"Im besten Fall Umdenken des Gesetzgebers"
Die Initiative, zu der auch der ehemalige Präsident des Deutschen Anwaltvereins, Ulrich Schellenberg, gehört und die unter anderem von der ehemaligen Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger und dem Bürgerrechtler Ulf Buermeyer unterstützt wird, will auf die Bedeutung des Doppelbestrafungsverbots aus Art. 103 Abs. 3 Grundgesetz (GG) aufmerksam machen. Danach dürfen Personen, die einmal Strafverfolgungsmaßnahmen ausgesetzt waren und nach einer gerichtlichen Hauptverhandlung freigesprochen worden sind, nicht wieder belangt werden.
Hieraus leitet die Initiative in ihrem offenen Brief die Verfassungswidrigkeit der geplanten StPO-Änderung ab. Diese betreffe nämlich nicht nur das einfache Recht, sondern den Kern des Art. 103 Abs. 3 GG und hätte als Verfassungsänderung mit der notwendigen Zweidrittelmehrheit durchgeführt werden müssen.
Aber auch unabhängig von dem Gesetzgebungsverfahren sei in dem Gesetzesvorhaben ein "Paradigmenwechsel" zu sehen, weil in diesen Fällen das Verfahren ohne eine Manipulation so durchgeführt worden sei, wie es die Gesetze verlangten. Freisprüche würden dadurch zu bloßen "Freisprüchen auf Widerruf". Auch sei die aktuelle Fassung zu weitreichend, weil sie nicht nur Wiederaufnahmen im Falle von angedachten technischer Neuerungen, sondern allgemein bei "neuen Beweismitteln" erfasse.
Darüber hinaus wird in dem offenen Brief auf noch bestehende Unklarheiten hingewiesen. So sei noch nicht geklärt, ob die neue Norm auch für rechtskräftig abgeschlossenen Strafverfahren gelte und sich daraus gegebenenfalls ein Verstoß gegen das aus dem Rechtsstaatsprinzip folgende Rückwirkungsverbot zu sehen sei.
Die Initiative appelliert deshalb an den Bundestagspräsidenten von seinem Ausfertigungsverweigerungsrecht Gebrauch zu machen: "Im besten Fall führte dies zu einem Umdenken beim Gesetzgeber, ansonsten wäre damit immerhin eine zügige Klärung der Verfassungsmäßigkeit der Regelung vor dem Bundesverfassungsgericht erreicht," heißt es in dem Schreiben.
mgö/LTO-Redaktion
Offener Brief an Steinmeier zu beschlossener StPO-Reform: . In: Legal Tribune Online, 12.10.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/46318 (abgerufen am: 10.12.2024 )
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