Legal Tech ist in aller Munde – wieder einmal. Ein Blick zurück auf die Begeisterungswellen und die Fehlschläge der Rechtsinformatik in vergangenen Jahrzehnten. Und darauf, was sie uns für die Zukunft lehren können.
Wer über die Zukunft der Anwaltschaft sinniert, der kommt am Thema Technik nicht vorbei. Gewiss, es gibt auch andere, kurzfristig vielleicht sogar spürbarere Faktoren, die das Schicksal der Branche prägen: steigende Erwartungen und sinkende Budgets zahlreicher Mandanten, eine zusehends selbstbewusster eingeforderte Work-Life-Balance der Mitarbeiter oder die Liberalisierung des Beratungsmarktes.
Aber diese Entwicklungen stellen doch nur Veränderungen an der Oberfläche dar. Sie können Umstellungen in der Gewinnerwartung, den Arbeitsabläufen oder der Kanzleikultur erforderlich machen, aber kaum zu grundstürzenden Umbrüchen im gesamten Beratungsmarkt führen. Das Potenzial, die Branche fundamental zu verändern, hat allein der technische Fortschritt, was man als Drohung oder als Verheißung empfinden, aber schwerlich leugnen kann. Die ambivalente Gefühlslage in der Anwaltschaft fasst der Verwaltungsrechtler Hans Peter Bull in der Zeit denn auch wie folgt zusammen:
"Die Mehrzahl der deutschen Juristen stand bis vor kurzem solchen technischen Errungenschaften eher skeptisch gegenüber. Weithin herrschte die Furcht davor, dass der Mensch durch die Technik verdrängt werde. Inzwischen aber ist einiges geschehen, insbesondere im letzten Jahr. So haben die Fachverleger gemerkt, dass Jurisprudenz und Technik sich längst heimlich verlobt haben und ihre Ehe stabil sein wird."
Legal Tech: Die erste Welle
Klingt diese Bestandsaufnahme für Sie in etwa zeitgemäß? Dann kann es bis zur Disruption wohl noch ein Weilchen dauern. Denn Bulls Zitat ist über 46 Jahre alt. Für einen Text über Fortschritte in der Informatikbedeutet das (ebenso wie für manche Eheleute) praktisch eine Ewigkeit. Das Erscheinungsdatum (Zeit-Ausgabe vom 5. März 1971) fiel zusammen mit einer ersten Welle der Begeisterung in der (insbesondere deutschen) Rechtswissenschaft für die Möglichkeiten der Informationstechnologie und mit der Gründung mehrerer Lehrstühle für Rechtsinformatik.
Manche Erwartungen jener frühen Tage haben sich längst realisiert, etwa die Entwicklung von durchsuchbaren juristischen Datenbanken oder von Programmen zur leichteren Erstellung rechtlicher Schriftstücke. Das ambitionierteste Projekt der Rechtsinformatik war indes von Beginn an die Schaffung sog. "Expertensysteme": Künstlicher Intelligenzen, die einen gegebenen Sachverhalt weitgehend autonom seiner rechtlichen Lösung zuführen könnten. Der Misserfolg auf diesem Gebiet ist umfassend dokumentiert in Thomas Jandachs 1993 erschienenem Buch "Juristische Expertensysteme", einer wissenschaftlichen Untersuchung von 119 solcher Anwendungen, die nach dem Fazit des Verfassers "deutlich zeigt, dass der erreichte Leisstungsstand den Bedürfnissen juristischer Anwender nicht gerecht wird".
Waren die 90-er Jahre somit von einer gewissen Ernüchterung geprägt, folgte während des Dotcom-Booms um die Jahrtausendwende die zweite Hochphase juristischer IT, die diesmal weniger von Universitäten als von Unternehmen getragen wurde, und auf die viele der bis heute bedeutendsten Web-Dienste zurückgehen. So wurden (z.B. Beck online, Dejure und Janolaw sämtlich 2001 gegründet.
Ein wenig Gegenwart
Wenn "Legal Tech" derzeit in aller Munde ist, dann also nicht, weil es eine gänzlich neue Idee wäre. Vielmehr erweitern die Grenzen des technisch Machbaren sich steti und nun scheint der Moment gekommen, wo Programme allmählich beginnen, anwaltliche Arbeit nicht nur zu unterstützen, sondern zu ersetzen.
So ist der Traum von der immerhin weitgehend automatisierten Fallbearbeitung zumindest in einigen, allerdings eng umgrenzten Anwendungsfällen –wie der Geltendmachung von Fluggastrechten – inzwischen gängige Praxis. Und auch rechtliche Dokumente vom Mietvertrag bis zur Geschäftsführerkündigung schneidert der Computer dem Nutzer anhand von dessen Eingaben mehr oder weniger passend auf den Leib.
Wie schnell und wie tiefgreifend die allerorten aus dem Boden sprießenden Legal Tech Startups den Rechtsmarkt reformieren werden, ist Gegenstand lebhafter Debatten, an deren extremen Enden technikgläubige Futurologen einerseits und von der eigenen Unersetzlichkeit überzeugte Advokaten andererseits stehen. Wer Recht behält, kann nur die Zukunft zeigen, Ein Blick auf die reiche Vergangenheit gescheiterter Legal Tech-Anwendungen liefert aber einige Anhaltspunkte dafür, allzu hochgesteckte Erwartungen zu bremsen.
Große Erwartungen
Dabei geht es durchaus nicht nur um Fragen technischer Machbarkeit. Juristische Lernsoftware etwa, lange Zeit als vielversprechender Anwendungsfall von Legal Tech gepriesen, ist in dieser Hinsicht trivial, spielt im Jurastudium bzw. im Portfolio der großen Repetitorien aber dennoch keine Rolle.
Für Dr. Felix Gantner, der 1993 mit dem Verfassungsrechts-Lernprogramm "CONSTITUTOR" versucht hatte, den Stein ins Rollen zu bringen, liegt das schlicht am fehlenden Anreiz: Die Erstellung guter Lernsoftware sei um ein Vielfaches aufwendiger als die der klassischen juristischen Skripte, und daher für Verlage wirtschaftlich kaum interessant. An den Universitäten seien wirtschaftliche Erwägungen zwar nebensächlich, doch dort brächte die Veröffentlichung etwa eines Fachartikels dem Verfasser weit mehr wissenschaftliches Renommee ein als die Arbeit an einem Lernprogramm.
Aus ähnlichen Gründen ist auch die Entwicklung von LEXML, einer Markup-Sprache für Rechtstexte, gescheitert. 2001 von dem niederländischen Anwalt Murk Muller ersonnen, sollte sie die maschinelle Durchsuchbarkeit von Urteilen, Schriftsätzen, Verträgen usw. vereinfachen, indem markante Angaben wie beispielsweise die Parteien, der Gerichtsstand, das Datum oder die Vertragspflichten mit Tags versehen und so für den Computer erkennbar gemacht werden.
Trotz zahlreicher Unterstützer – LEXML hatte Ableger in vier europäischen Ländern und in den USA vollzog sich mit LegalXML eine ähnliche Entwicklung – konnte sich das Format nie durchsetzen. "Für die Gesamtheit der Rechtsanwender wäre es vorteilhaft gewesen, wenn man angefangen hätte, Dokumente mit XML-tags auszuzeichnen, um die Struktur für einen Computer und für den Datenaustausch ersichtlich zu machen. Aber für jeden Einzelnen hätte es zunächst einmal einige Umgewöhnung und Mehraufwand bedeutet", sagt Muller.
Keine Rechtsberatung à la Second Life
Trotz großer Erwartungen glücklos blieb auch das Kölner Startup "Advopolis", das im Jahr 2000 antrat, die Kanzleiräume deutscher Anwälte in den digitalen Raum zu verfrachten. Nutzer von Advopolis konnten, verkörpert durch einen Avatar, eine dreidimensionale virtuelle Welt à la Second Life navigieren, die dort zur Auswahl stehenden Kanzleien von auf der Plattform registrierten Anwälten betreten, und sich mit diesen per Chat über ihr Anliegen austauschen. Das Projekt wurde ob seines kreativen und aufwändig umgesetzten Konzepts mit etlichen Auszeichnungen prämiert. An der Insolvenz der Betreiber im Jahr 2001 änderte das aber nichts.
Die einerseits verspielte, andererseits unpersönliche Atmosphäre einer derart inszenierten Rechtsberatung harmonierte offenbar schlecht mit der eher ernsten Stimmungslage, aus der heraus Menschen üblicherweise einen Anwalt aufsuchen. Die Besprechung in einer Fachzeitschrift konstatierte: "Dass in derartigen virtuellen Räumen tatsächlich ernsthafte Rechtsberatung stattfinde, hat der Autor noch nicht erlebt und kann es sich auch nicht recht vorstellen. […] Das Verhältnis vom technischen Aufwand zum erzielten Ergebnis enttäuscht."
Das, immerhin, kann man auch in einem hoffnungsvollen Sinne deuten: Selbst wenn Computer eines Tages imstande sein sollten, die Anliegen von Mandanten autonom zu bearbeiten, werden diese den persönlichen Kontakt womöglich trotzdem vorziehen. Aber bis es so weit kommt, hat die Ehe zwischen Technik und Jurisprudenz wohl ohnehin noch einige Jubiläen vor sich.
Constantin Baron van Lijnden, Erfolge und Niederlagen der Rechtsinformatik: Tech to the future . In: Legal Tribune Online, 16.09.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/24561/ (abgerufen am: 29.03.2024 )
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