Die JuMiKo setzt sich heute u. a. mit den Reformvorschlägen des "2. Strafkammertags" zur StPO auseinander. Björn Gercke, Matthias Jahn und Helmut Pollähne üben Kritik sowohl an den Inhalten als auch am Auftritt des neuen Gremiums.
Am 26. September 2017, unmittelbar nach der Bundestagswahl, fand in Würzburg der "2. Strafkammertag" statt. Noch am gleichen Nachmittag konnten die Veranstalter einen umfassenden Forderungskatalog vorlegen, der sich als Sammelsurium altbekannter Forderungen zur Gängelung von Strafverteidigung und vermeintlicher Verfahrensvereinfachung darstellt, die in vergangenen Legislaturperioden mit Recht keine Mehrheiten für ihre Umsetzung gewinnen konnten.
An diesem Donnerstag, 09. November 2017 wird sich die Justizministerkonferenz (JuMiKo) unter anderem mit diesen Vorschlägen befassen, die als Titelthema der aktuellen Ausgabe der Deutschen Richterzeitung im Vorfeld weitere Schützenhilfe bekommen haben.
Für die Einordnung der Vorschläge des "Strafkammertages" ist es zunächst wichtig zu sehen, dass es sich nicht um eine nach selbstgesetzten Regeln zusammengetretene Kommission von Vertretern bundesdeutscher Strafkammern handelt. Der Begriff lädt jedoch ein zu Assoziationen an basisdemokratische Zusammenschlüsse örtlicher Graswurzelinitiativen. Doch wird dem Gremium nichts weniger gerecht.
Keine lokale Graswurzelinitiative, sondern Kreation der OLG-Präsidenten
Anlässlich der Jahrestagung der OLG-Präsidenten im Juni 2015 wurde die Arbeitsgruppe "Zukunft des Strafprozesses" der Präsidentinnen und Präsidenten des Bundesgerichtshofs (BGH), der Oberlandesgerichte und des Kammergerichts unter Leitung des Bamberger OLG-Präsidenten gegründet. Damit sollte den damals erwarteten (vermeintlich einseitig) verteidigerfreundlichen Vorschlägen der vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz etwa ein Jahr zuvor einberufenen Expertenkommission zur StPO-Reform aus Justizsicht etwas entgegengesetzt werden.
Die damals (noch) im Vordergrund stehenden Reformleitgesichtspunkte Partizipation, Kommunikation und Dokumentation waren – und sind – bekanntlich nicht unbedingt Leib- und Magenthemen der landgerichtlichen Praxis in Strafsachen. Deshalb entschieden die OLG-Präsidenten, sich zukünftig stärker als Sprachrohr für die Praxis zu positionieren. Im Zuge dessen sollten Themen, die auch den Justizverwaltungen besonders am Herzen liegen, wie etwa Reformen im Recht der Befangenheit oder die Flexibilisierung des Richtereinsatzes im Interesse einer Verfahrensbeschleunigung auf die Agenda gesetzt und über Medien, Fachöffentlichkeit und politische Kanäle besser positioniert werden.
Nachdem das im August 2017 in Kraft getretene "Gesetz zur effektiveren und praxistauglicheren Gestaltung des Strafverfahrens" zwar einige dieser Wünsche aufgriff, aber Effektivität und Praxistauglichkeit auch nicht durchweg mit richterzentriert-stromlinienförmiger Prozessgestaltung verwechselte, wurde der 2. Strafkammertag an den Start geschickt. Die Teilnehmer konnten nicht, wie etwa beim Deutschen Juristentag, nach (gerichts-)öffentlicher Ankündigung und Interessensbekundung einfach mittun, sondern die Organisationsverantwortung lag bei den Oberlandesgerichten. Diesen Hintergrund, der zwar in der Pressemitteilung der beteiligten Gerichtsverwaltungen angesprochen, durch die Nomenklatur ("bundesweit", "die Anliegen der strafrechtlichen Praxis") aber mehr verdeckt als offengelegt wird, muss man bei der Bewertung der Einzelvorschläge im Hinterkopf behalten.
80 Richter und ein halber Arbeitstag: Genug Zeit für weitreichende Forderungen?
Ebenso sind die formalen Entstehungsbedingungen der Forderungen bemerkenswert. In sechs Arbeitsgruppen wurden von 80 Richterinnen und Richtern an einem Tag zwölf Kernvorschläge – jeweils unter der Anleitung eines OLG-Präsidenten – "erarbeitet", die dann im Plenum verabschiedet wurden.
Dem gingen noch diverse Grußworte voraus (ein im Internet verfügbares Manuskript ist zwölf Seiten lang) sowie ein ausführlicher rechtspolitischer Einleitungsvortrag. Jeder, der auch nur ein wenig Erfahrungen in Sachen Gremienarbeit gesammelt hat, kann sich ausrechnen, dass es angesichts dieser Rahmenbedingungen mit einer ergebnisoffenen und vertieften Diskussion nicht allzu weit her gewesen sein kann.
Das muss für ein rechtspolitisches Papier nicht zwingend ein Mangel sein. Es erweckt aber nicht gerade Vertrauen in die systematische Durchdringung einer schwierigen Rechtsmaterie und die Passgenauigkeit der Vorschläge zum geltenden Strafprozessrecht.
2/3: Befangenheitsanträge: Weiterverhandlung jetzt schon möglich
Nach Befangenheitsanträgen vor und während der Hauptverhandlung soll die Hauptverhandlung nach den Vorstellungen des "2. Strafkammertages" bis zum übernächsten Verhandlungstag, mindestens aber für zwei Wochen fortgesetzt werden können. Dies bedeutet, dass eine Hauptverhandlung bei theoretisch maximal straffer Terminierung an zehn (ggf. sogar zwölf) vollen Verhandlungstagen mit einem ggf. befangenen Richter fortgesetzt werden könnte.
Abgesehen davon, dass dies mit Blick auf die Bedeutung des unbefangenen gesetzlichen Richters der verfassungskräftigen Forderung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 Grundgesetz wohl kaum gerecht wird, liegt darin im Einzelfall auch kein Effizienzgewinn:
Wenn sich herausstellt, dass der Richter zu Recht abgelehnt wurde, ist die gesamte Hauptverhandlung mit einem unbefangenen Richter zu wiederholen. In der Praxis leider gelegentlich zu begegnenden Missbräuchen des Ablehnungsrechts des Beschuldigten kann durch § 26a StPO (Unzulässigkeit ersichtlich missbräuchlicher Gesuche) einerseits und durch die recht großzügige Auslegung des § 29 StPO durch die höchstrichterliche Rechtsprechung, die eine Fortsetzung der Hauptverhandlung bis zum übernächsten Tag ermöglicht, hinreichend begegnet werden. Ein Rechenbeispiel: War der letzte Verhandlungstag ein Freitag, kann nach § 229 Abs. 3 i.V.m. Abs. 4 StPO bis zu 45 Kalendertage nach Anbringung des Gesuchs weiterverhandelt werden.
Besetzungsrügen: Der BGH kaltgestellt, das BVerfG als "Superbeschwerdeinstanz"
Eine Entscheidung über Besetzungsrügen soll nach dem Papier des "Strafkammertages" im Rahmen eines Beschwerdeverfahrens geregelt werden, wobei die sofortige Beschwerde keine aufschiebende Wirkung entfalten und die vom Beschwerdegericht getroffene Entscheidung für das Revisionsverfahren bindend sein soll. Abgesehen davon, dass sich die Rechtsprechung gegen vermeintliche missbräuchliche Besetzungsrügen heute mit einer nicht zweifelsfreien analogen Anwendung von § 29 StPO behilft, damit am ersten Hauptverhandlungstag weiterverhandelt werden kann, zeugt auch dieser Vorschlag von erstaunlicher Praxisferne – und schon gar nicht führte er zu einer Entlastung der Justiz als Ganzes.
Ein solches Verfahren würde vielmehr bedeuten, dass die von der Verteidigung vor einer Großen Strafkammer erhobene Besetzungsrüge vom regional zuständigen Oberlandesgericht beschieden würde und dem BGH der Zugriff auf die rechtliche Beurteilung entzogen wäre – obwohl es sich um eine wesentliche Verfahrensfrage handelt. Mithin könnte es zu einer regional zersplitterten Rechtsauslegung durch die Oberlandesgerichte zu verfassungsrechtlich relevanten Rechtsfragen der Besetzung kommen – das Verfahren der Außendivergenz bei uneinheitlicher OLG-Judikatur (§ 121 Abs. 2 Gerichtsverfassungsgesetz) hilft da kaum.
Der BGH könnte entgegen seiner eigentlichen Zuständigkeit für alle Großen Strafkammern in Deutschland keine einheitliche Rechtsprechung mehr durchsetzen. Am Ende müssten die Fragen durch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) entschieden werden. Dieses würde geradezu zwingend zur bundesweiten "Superbeschwerdeinstanz" für Besetzungsfragen. Und worin läge angesichts der Belastung des Verfassungsgerichts dann der gewünschte Gewinn an Effizienz oder Beschleunigung?
3/3: Hauptverhandlung in Strafsachen: Die Praxis hat die Dinge längst im Griff
Unklar bleibt auch, wo das praktische Bedürfnis für eine "Unterbindung von 'ins Blaue hinein' gestellten Beweisanträgen durch erhöhte gesetzliche Anforderung an deren Begründung" herrühren soll. Dieses Problem hat der BGH bislang nicht nur in den Begriff bekommen, sondern, mit Billigung vom Karlsruher Schloßplatz, über Rechtsfortbildungen wie die "Konnexität" von Beweisanträgen sogar noch in die gegenteilige Richtung inhaltlich erweiterter Darlegungspflichten des Antragstellers getrieben.
Soweit vom "Strafkammertag" die erweiterte Verlesbarkeit von Urkunden in Fällen von Zeugenfragebögen bzw. Strafanzeigen in gleichgelagerten Massenverfahren gefordert wird, erachtet dies schon jetzt die Rechtsprechung teilweise als zulässig. Bei einer gesetzlichen Regelung stellte sich zudem die Frage, ab wann es sich um ein Massenverfahren handeln soll. Dies bedarf einer eindeutig bestimmten Regel, um missbräuchlicher Anwendung vorzubeugen. Und worin der Effektivitätsgewinn des angejährten Vorschlags liegt, Tatsachenfeststellungen und Schuldspruch im Strafverfahren sollten "eine Bindungswirkung in nachfolgenden Zivilverfahren entfalten", bleibt ebenfalls dunkel.
Ganz im Gegenteil müsste eine gewissenhafte Verteidigung dann im Strafprozess umso mehr um die Festschreibung des aus ihrer Sicht zutreffenden Sachverhalts kämpfen. Auch die geforderte Verlesung von Berichten der Jugendgerichts- und Bewährungshilfe statt der Vernehmung des jeweiligen Mitarbeiters erleichtert nicht die Suche nach der Wahrheit, sondern allenfalls, und auch dann nur auf den ersten Blick, die Arbeit für den Richter.
Es handelt sich bei diesen Berichten nicht um Petitessen in Formularform, denn es kann für den Angeklagten viel von ihnen abhängen: Anwendbarkeit des Jugendstrafrechts, Auswahl der Sanktionen, Aussetzung einer Freiheitsstrafe zur Bewährung, Auflagen und Weisungen etc. – diejenigen, die die jeweiligen Berichte verfasst haben, müssen deshalb, wie bisher, nicht nur wesentlichen Teilen der Hauptverhandlung beiwohnen, sondern insbesondere auch für Nachfragen zur Verfügung stehen.
Die begründungsbedürftige Sachrüge – Revolution nach fast 140 Jahren
Regelrecht abenteuerlich ist der Vorschlag, "Revisionen sollen nur noch dann zulässig sein, wenn sie durch einen Verteidiger begründet werden, der die Sachrüge in gleicher Weise wie die Verfahrensrüge auszuführen hat". Dieser an einem halben Würzburger Herbsttag ersonnene Gedanke war in der fast 140-jährigen Reformgeschichte der StPO bisher ohne populäre Fürsprecher geblieben. Aus gutem Grund: Er würde dem Revisionsrichter zumuten, sehenden Auges eine Entscheidung im Widerspruch zum Strafgesetzbuch treffen zu müssen, wenn ein sachlich-rechtlicher Mangel des tatrichterlichen Urteils nicht, nicht in der gehörigen Form oder nicht innerhalb der Fristen gerügt worden ist – denn eine prozessuale Sanktion müsste an die Nichterfüllung des Sachrüge-Begründungserfordernisses anknüpfen, widrigenfalls es zahnlos wäre.
Will man einem Revisionsgericht wirklich zumuten, einen Diebstahl in Gestalt der tatrichterlichen Verurteilung wegen Raubes nur deshalb nicht aufzuheben, weil der Verteidiger die Sachrüge nicht "gehörig" ausgeführt hat? Soll die als versuchter Mord ausgeurteilte gefährliche Körperverletzung allein deshalb rechtskräftig werden, weil der Verteidiger die Angriffsrichtung seiner Sachrüge nicht hinreichend verdeutlicht hat? Der Vorschlag berührt also Grundfragen der Stellung und Funktion des BGH und der Strafsenate der 24 Oberlandesgerichte in Deutschland. Wenigstens hat dieser verwegene Reformgedanke dem Vernehmen nach nur die denkbar knappste Mehrheit bekommen.
Weitere Empfehlungen zur Revision – gegen Entscheidungen der Kleinen Strafkammer soll sie der Zulassung bedürfen, die Sprungrevision soll abgeschafft werden – sind Griffe in die rechtspolitische Mottenkiste. Sie haben sich aus gutem Grund in sogenannten Rechtspflegeentlastungsgesetzen vergangenen Jahrzehnten nicht durchzusetzen vermocht. Überdies wird deutlich, dass sich unter der Flagge eines "Strafkammertages" einige Entscheidungsträger versammelt haben, die vor allem die Arbeitslast von OLG-Senaten durch eine weitere Zulassungshürde und Änderung des Instanzenzuges mindern wollen.
Auch das noch: Coaching und Supervision unabhängiger Strafrichter
Demgegenüber ist gegen den vom Strafkammertag geforderten "Anspruch auf und eine Pflicht zur aufgabenorientierten Fortbildung unter Berücksichtigung bei der Personalausstattung" an sich wenig einzuwenden. Ob jedoch alle von Verfassungs wegen unabhängigen Strafrichterinnen und Strafrichter mit der im gleichen Atemzug genannten "tätigkeitsbegleitenden Unterstützung durch Maßnahmen wie Coaching/Supervision" einverstanden sein werden, erscheint zweifelhaft.
Es wäre Aufgabe der drei großen berufsständischen Organisationen Deutscher Richterbund, Neue Richtervereinigung und der Fachgruppe Recht von ver.di, hier auf breiter Basis zunächst ein verlässliches Meinungsbild einzuholen. Sonst könnte eine letztlich von den OLG-Präsidenten initiierte Supervision den Beigeschmack einer aufgedrängten Rundumüberwachung mit Einflussnahmeoption auch bei erfahrenen, schon lange lebenszeiternannten Strafrichtern bekommen.
Insgesamt stellen sich die Forderungen des 2. Strafkammertages damit als zufällig und eklektisch wirkendes Sammelsurium von Vorschlägen dar, die zur massiven Einschränkung von Beschuldigtenrechten und kurzleiniger Gängelung der Verteidigung im Strafprozess führen würden. Dass sie darüber hinaus ihrem selbst gesteckten Anspruch, effizient und praxistauglich zu sein, bei näherer Betrachtung nicht standhalten, sollte für den neuen Bundestag den Ausschlag geben, den Forderungen nicht näher zu treten. Er wäre damit gut beraten.
Dr. Björn Gercke ist Strafverteidiger in Köln und Honorarprofessor an der dortigen Universität, Dr. Matthias Jahn ist Leiter der Forschungsstelle für Recht und Praxis der Strafverteidigung (RuPS) der Goethe-Universität Frankfurt und war 2014/15 Mitglied der BMJV-Expertenkommission zur StPO-Reform. Dr. Helmut Pollähne ist Strafverteidiger in Bremen sowie (habilitierter) Honorarprofessor der dortigen Universität. Die drei Autoren bilden die Redaktion der im 37. Jahrgang erscheinenden Fachzeitschrift Strafverteidiger im Verlag Carl Heymanns.
Prof. Dr. Björn Gercke, Prof. Dr. Matthias Jahn und Prof. Dr. Helmut Pollähne, Reformvorschläge des 2. Strafkammertags zur StPO: Revolution nach fast 140 Jahren . In: Legal Tribune Online, 09.11.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/25445/ (abgerufen am: 20.04.2024 )
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