Der Fall einer 84-Jährigen, die wegen eines Ladendiebstahls im Bagatellbereich ins Gefängnis muss, zeigt, dass sich das Strafrecht hinterfragen muss. Täter im Seniorenalter sind auch eine akademische Herausforderung, erklärt Sven Großmann.
Wegen eines Ladendiebstahls von Lebensmitteln im Wert von 70 Euro und 11 Cent wurde eine bereits mehrfach einschlägig vorbestrafte 84-Jährige Frau vom Landgericht (LG) Memmingen zu einer Haftstrafe von 90 Tagen ohne Bewährung verurteilt. Auch ihr "Gnadengesuch" an das bayerische Justizministerium blieb ohne Erfolg.
Man kann diese Geschichte als Provinzposse abtun. Als Einzelfall, der kurzfristige Erregung in Internetforen und den Kommentarspalten des Online-Boulevards garantiert und morgen vergessen sein wird. Dennoch werfen der Fall und die flüchtige, aber umso heftigere gesellschaftliche Empörung auch Fragen grundsätzlicher Natur auf.
Zunächst ist zu klären, wogegen sich die Empörung überhaupt richtet: Sofern sie den Bagatellcharakter der Tat betrifft, ist die Aufregung auf den ersten Blick nachvollziehbar. Es erscheint tatsächlich hart, jemanden für einen kleinen Ladendiebstahl von unter hundert Euro mit einer Haftstrafe zu belegen. Im Hinblick auf die aktuelle Gesetzeslage und die derzeitige Rechtsprechungspraxis wäre jedoch eine Verschonung der Dame nicht mit dem Prinzip der Strafgerechtigkeit zu vereinbaren gewesen. Die Tat, so nichtig sie erscheinen mag, kann eben nicht unabhängig von den Vorstrafen und dem Umstand, dass sie einen Bewährungsbruch darstellte, betrachtet werden. Das Gericht hätte sich fragen lassen müssen, wieso es gerade ihr einen Bonus gewährt.
Keine Frage für Gerichte, sondern für den Gesetzgeber
Das soll nicht heißen, dass nicht mit guten Argumenten vertreten werden kann, dass der Einsatz des Strafrechts in so banalen Fällen wie diesem die Grenze zum Unverhältnismäßigen erreicht. Jedoch sollte sich diese Kritik nicht an die Rechtsprechung, sondern an den Gesetzgeber richten. So könnte man z.B. darüber nachdenken, ob nicht ein privilegierender Tatbestand für einfache Ladendiebstähle unterhalb eines Schadens von hundert Euro geschaffen werden könnte. Allerdings werden bundesweit tagtäglich in ähnlichen Fällen von Bagatellkriminalität (man denke etwa an notorische Schwarzfahrer) Haftstrafen verhängt werden, ohne eine öffentliche Debatte auszulösen.
Der Kern der Empörung dürfte sich daher vorliegend auf das hohe Alter der Täterin beziehen, auf das Störgefühl, das entsteht, wenn man ihr Erscheinungsbild mit den gesellschaftlichen Stereotypen des Kriminellen vergleicht. Eine Oma als Inbegriff von Redlichkeit und Güte ist keine Straftäterin, erst recht keine, die zum Haftantritt geladen wird.
Die Statistik zeichnet indes ein anderes Bild. Nach Auswertungen der Zahlen des statistischen Bundesamtes zu Strafverfolgung und –vollzug stellt Seniorendelinquenz ein wachsendes Phänomen in unserer Gesellschaft dar: Während seit 2012 die Zahl aller verurteilten Straftäter von jährlich 773.901 auf 739.487 im Jahr 2016 zurückging, stieg die Zahl der davon über 70-Jährigen im selben Zeitraum von 13.688 auf 14.483 an. Gleiches zeigt sich bei der Zahl der erwachsenen Strafgefangenen, die sich im Zeitraum von 2012 bis 2016 insgesamt von 52.883 auf 47.892 verringerte. Die Anzahl der über 70-Jährigen Häftlinge wuchs entgegen dieses Trends leicht von 376 auf 417.
Es ist davon auszugehen, dass sich diese Entwicklung auch in Zukunft fortsetzten wird: Während die Gesamtbevölkerung Deutschlands zwischen 2002 und 2016 von 82.440.000 auf 82.176.000 etwas zurückging, stieg die Bevölkerungsgruppe der über 60-Jährigen von 19.871.000 auf 22.502.000. Immer mehr Menschen werden das 8. Lebensjahrzehnt in einem körperlich und geistig gesunden Zustand erreichen, womit auch die Zahl der Straffälligen unter ihnen weiter steigen dürfte.
2/2: Spezialprävention als Feigenblatt?
Eine Auseinandersetzung mit den Fragen nach Sinn und Zweck und Legitimität der Bestrafung von Personen weit fortgeschrittenen Alters ist daher dringend erforderlich. Es scheint, dass insbesondere der zentrale Strafzweck unseres rechts- und sozialstaatlichen Strafrechts, nämlich das spezialpräventive Einwirken auf den Täter durch aktive Resozialisierung, spätestens bei über 80-Jährigen zum Feigenblatt verkommt.
Wenn Senioren bislang als Straftäter in der öffentlichen Wahrnehmung auftauchten, dann allenfalls als NS-Verbrecher. Angesichts ihres weit fortgeschrittenen Alters war auch bei ihnen ein resozialisierendes Einwirken weder möglich noch zur Verhinderung ähnlicher Verbrechen auf Grund der komplett gewandelten gesellschaftlichen Umstände nötig. Dennoch war es im Sinne einer gesamtgesellschaftlichen Aufarbeitung und Erinnerung richtig und wichtig, dass diese Taten auch über ein halbes Jahrhundert nach ihrer Begehung noch verfolgt und bestraft werden konnten und sich die Täter am Ende ihres Lebens ihrer Verantwortung nicht länger entziehen konnten.
Die Legitimation ihrer Anklage und Verurteilung wurde damit letztlich angesichts der Monstrosität der vorgeworfenen Verbrechen zu Recht von der Gesellschaft nicht in Frage gestellt. Auch innerhalb der Strafjustiz dürften derartige Verfahren auf keine großen Bedenken gestoßen sein, ermöglichten sie doch eine zumindest symbolische Wiedergutmachung für die in den Nachkriegsjahren tausendfach aktiv verhinderte Verfolgung der damals noch frischen Taten und ihrer noch jungen Täter.
Es braucht eine neue Straftheorie
An der Aufklärung und Ahndung der Taten einer 84-jährigen Ladendiebin besteht sicherlich kein übergeordnetes nationales Interesse. Unterstellen wir der Täterin eine robuste Gesundheit und eine uneingeschränkte Vollzugsfähigkeit: Was macht es für die Gesellschaft so schwer erträglich, sie inhaftiert zu sehen? Ihren Vorstrafen nach zu urteilen, ließ sie sich offensichtlich nicht durch die bereits verhängten Geld- und Bewährungsstrafen beeindrucken.
Ist es die Gefahr, dass eine Haftstrafe von über 80-Jähriger faktisch "lebenslänglich" bedeuten kann? Ist ihre Kriminalität – analog zu der von Jugendlichen – eine Besonderheit des Alters, eine Art Schrulligkeit von der eine geringere Gefahr für das gesellschaftliche Miteinander ausgeht, so dass die staatliche Strafgewalt hier weniger regulierend eingreifen muss? Haben wir sie insgeheim schon aufgegeben?
Der Fall zeigt, wie schwer es unserer mitten im demographischen Wandel befindlichen Gesellschaft fällt, klassische Rollenbilder aufzugeben. Es wird einen komplizierten Balanceakt bedeuten, dem Phänomen der Alterskriminalität umfassend gerecht zu werden, ohne dabei weder straffälligen Senioren unverhältnismäßige Härten zuzumuten noch sie zu entmündigen und ihrer gesellschaftlichen Verantwortung zu entziehen. Im Interesse unseres ohnehin stark gefährdeten Generationenvertrags sollten wir uns diesem Thema intensiv widmen.
Dabei wird insbesondere zu klären sein, ob eine Bestrafung über 80-Jähriger allein dadurch legitimiert werden kann, dass die Straftat einen Normbruch darstellt, auf den reagiert werden muss. Da eine solche Reduzierung der Strafe auf den bloßen Normgeltungsanspruch dem Ansatz der liberalen Straftheorien widerspricht und der klassische Resozialisierungsansatz bei Senioren verfehlt wirkt, sollte ernsthaft darüber diskutiert werden, wie eine Straftheorie aussehen könnte, die sich (ähnlich wie der Erziehungsgedanke im Jugendstrafrecht) speziell an Ursachen und Folgen der Altersdelinquenz orientiert.
Die Frage, ob man wegen eines einfachen Ladendiebstahls von Waren im Wert von 70 € eine Gefängniszelle beziehen sollte, dürfte im Vergleich dazu deutlich leichter zu beantworten sein.
Dr. Sven Großmann ist Wiss. Mitarbeiter am Lehrstuhl von Prof. Dr. Dr. hc. Michael Kubiciel an der Universität Augsburg. Er forscht zu strafrechtlichen Grundsatzfragen und widmet sich dabei insbesondere der Frage, wie das liberal-rechtstaatliche Strafrecht klassischer Prägung der Komplexität der Moderne begegnen kann.
Dr. Sven Großmann, Strafrecht und hochbetagte Täter: Senioren hinter Gittern . In: Legal Tribune Online, 30.10.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/25313/ (abgerufen am: 25.04.2024 )
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