Es wird nicht mehr Verurteilungen geben, wenn das Sexualstrafrecht verschärft wird. Es geht, das zeigte eine Diskussion zwischen Politik und Justiz, vielmehr darum, was für eine Gesellschaft wir sind. Und sein wollen.
"Ein bisschen Vorsatz brauchen wir schon". Für diesen süffisanten Satz zu den aktuellen Reformplänen des Sexualstrafrechts erntete Prof. Dr. Thomas Fischer beim 67. Deutschen Anwaltstag mehr Zustimmung, als er derzeit aus der Politik wohl bekommen könnte.
Nach den Linken und den Grünen, die eigene Entwürfe zur Reform der §§ 177 ff. Strafgesetzbuch (StGB) vorgelegt haben, sprechen sich seit vergangenen Mittwoch auch SPD und Union dafür aus, den vorliegenden Gesetzentwurf aus dem Hause Maas noch weiterzuentwickeln. "Grüne und CSU überbieten sich in der Verschönerung der Istanbul-Konvention", obgleich diese "nicht im Sinne deutscher Grammatik zur Umsetzung ihrer Rigoros-Formel" verpflichte, so der Vorsitzende des 2. Strafsenats des Bundesgerichtshofs bei einer Podiumsdiskussion.
Art. 136 der Istanbul-Konvention verpflichtet die Unterzeichner-Staaten, nicht einverständliche sexuelle Handlungen mit einer Person für strafbar zu erklären. Unter Berufung darauf will das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV) mit dem im Sommer 2015 vorgelegten Papier Wertungswidersprüche und Schutzlücken im Bereich der sexuellen Nötigung und der Vergewaltigung beseitigen. Und das so dringend, erklärte Regierungsdirektorin Susanne Bumke, verantwortliche Vertreterin des BMJV, dass man nicht habe abwarten wollen, bis die ebenfalls im Jahr 2015 eingesetzte Expertenkommission für eine umfassende Reform der §§ 177 ff StGB ihre Vorschläge vorgelegt hat, was noch im Laufe dieses Jahres geschehen soll.
Der Entwurf bezieht Überraschungsfälle in die Strafbarkeit ein, in denen das Opfer nicht mit einem sexuellen Übergriff rechnet und daher die bisher für eine Verwirklichung des Tatbestandes der sexuellen Nötigung erforderlichen Mittel Gewalt oder Drohung mit Gewalt nicht zum Einsatz kommen können. Und er soll die sog. Klima-der-Gewalt-Fälle regeln, in denen das Opfer sich nicht wehrt, weil es seit Jahren in einer gewalttätigen Beziehung mit dem Täter lebt und Angst hat vor weiterer Gewalt, was der Täter weiß und für seine sexuelle Handlung ausnutzt. Die Tatbestände sollen daran anknüpfen, dass Handlungen gegen den erklärten, erkennbaren Willen des Opfers erfolgen, griffig zusammen gefasst unter dem Slogan "Nein heißt Nein".
Parteiübergreifend: Noch mehr Ja zu Nein heißt Nein
Das soll nicht genug sein. Auch das konkrete Befürchten eines empfindlichen Übels solle künftig ausreichen, berichtete Renate Künast (Bündnis 90/Die Grünen) von der jüngsten Anhörung im Rechtsausschuss. So sollten, darüber sei man sich parteiübergreifend einig gewesen, künftig drei typisierende Regelbeispiele dafür sorgen, dass sämtliche sexuellen Handlungen pönalisiert werden, die gegen den erklärten Willen einer Person erfolgen.
Eine kritische Debatte habe es über die Erheblichkeitsschwelle des § 184h StGB gegeben, deren Überschreitung de lege lata Voraussetzung einer Strafbarkeit ist. Man sei sich nicht darüber einig geworden, ob diese gänzlich gestrichen werden solle, so die Vorsitzende des Rechtsausschusses, die sich vehement für die vorgeschlagenen Änderungen aussprach.
Künast verteidigte auch die Diskussion darüber, Grundsätze der strafrechtlichen Teilnahme an Straftaten zu ändern, um sexuell motivierte Straftaten aus Gruppen heraus besser erfassen zu können. Konkret sei über Übertragungen aus dem Bereich des Landfriedensbruchs gesprochen worden. "Auch wenn man sich am Ende vielleicht dagegen entscheidet, muss man darüber sprechen dürfen," so die Grünen-Politikerin, die selbst Juristin ist. Befürchten muss man das aber wohl nicht, Susanne Bumke erklärte sofort, es bleibe dabei, dass nicht die Beteiligung an einer Gruppe, sondern an einer Tat nötig sei.
Die Anwälte, die der recht spontan anberaumten Diskussion folgten, standen den geplanten Änderungen offenbar überwiegend kritisch gegenüber. Auch der Strafrechtsausschuss des Deutschen Anwaltvereins zeigt sich bisher zurückhaltend. Und es waren, auch wenn Renate Künast versuchte, das anders darzustellen, auch viele weibliche Anwältinnen, die laut klatschen, als Kritiker Thomas Fischer sein Plädoyer gegen die Pläne aus Berlin mit den Worten beendete "Ich sehe keine Lücke. Und in Köln ist nichts passiert, was nicht strafbar wäre."
2/3: Was längst strafbar ist – u.a. Silvester in Köln
Aber es waren die Geschehnisse der Kölner Silvesternacht, welche das schon im vergangenen Sommer vorgelegte Reformpapier in den Fokus einer Öffentlichkeit rückten, die den "Mob" (Bildzeitung) arabischer Männer bestraft sehen will, die massenhaft deutsche Frauen sexuell belästigten und über Belästigungen in einigen Fällen weit hinausgegangen sein sollen.
Da geht es dann schon mal durcheinander bei der Frage, ob die mutmaßlichen Taten nicht schon vom geltenden Recht unter Strafe gestellt sind – und das nicht nur bei Laien. Bundesrichter Fischer beklagte, dass es auch aus dem BMJV zur Begründung der vorgeschlagenen Neuregelungen immer noch hße, der Bundesgerichtshof (BGH) hätte seit 1997, der letzten Reform des Sexualstrafrechts, noch immer keine praktischen Konsequenzen für die Fälle des Klimas der Gewalt gezogen oder es wäre immer noch nötig, dass Frauen sich wehrten, damit ihre Peiniger wegen Sexualdelikten verurteilt werden könnten.
Beides habe der BGH ganz im Gegenteil eindeutig klargestellt: Schon nach geltendem Recht reiche es aus, dass die Frau sich nicht wehre, weil sie in einem Klima der Gewalt Angst vor weiteren Attacken habe - sofern der Täter das wisse und ausnutze. "Ein bisschen Vorsatz brauchen wir schon", fasste der BGH-Richter süffisant die Bedenken gegen die Verschärfungen zusammen. Die Kritiker befürchten eine Kriminalisierung alltäglicher Verhaltensweisen, die mangelnde Erkennbarkeit und Beweisbarkeit von inneren Haltungen des vermeintlichen Opfers und die Umkehrung des Grundsatzes in dubio pro reo zu Lasten des Angeschuldigten.
Die von Renate Künast zitierten jungen Frauen, die auf dem Kölner Domplatz nicht mehr gewusst hätten, wer aus der um sie herum stehenden Gruppe junger Männer die Hand in ihrem Höschen gehabt habe, seien Opfer einer schweren Straftat geworden, stellte Fischer klar - und zwar nach geltendem Recht. "Das ist ein ganz klarer Fall von Vergewaltigung in Mittäterschaft in einem besonders schweren Fall, darauf stehen zwei bis 15 Jahre Freiheitsstrafe". Gesetz und Justiz könnten doch nichts dafür, wenn keine Polizei da sei, die einschreitet.
Des Beifalls der anwesenden Juristen, die sich in diesem Jahr passenderweise unter dem Motto versammelt hatten "Soll das Strafecht alles richten?", konnte der umstrittene Bundesrichter sich an dieser Stelle sicher sein.
"Es wird nicht mehr Verurteilungen geben"
Thomas Fischer ist nicht nur ein Gegner weiterer Reformen des Sexualstrafrechts, er war auch schon gegen die Verschärfungen im Jahr 1997, welche das Ausnutzen einer hilflosen Lage als Tatbestandsmerkmal der sexuellen Nötigung und Vergewaltigung einführte. Der alleinige Verfasser des wohl bekanntesten Kurz-Kommentars zum StGB ist auch Mitglied und heutiger Vorsitzender des 2. Strafsenats, der verantwortlich zeichnet für die Entwicklung der Rechtsprechung zum Sexualstrafrecht.
Eine Rechtsprechung, die man durchaus an manchen Stellen als restriktiv bezeichnen darf. Es ist Judikatur in einem Bereich, der geprägt ist von Beweisschwierigkeiten, die aus der üblichen Aussage-gegen-Aussage-Situation resultieren, und einem hohen Strafmaß vor allem des derzeitigen § 177 StGB, wenn es zu einer Verurteilung kommt.
An den Beweisschwierigkeiten wird sich, darin stimmten Künast und Fischer mit BMJV-Vertreterin Bumke überein, auch durch eine Reform nichts ändern. Egal, ob es nun die aktuell diskutierte Reform ist, mit der das BMJV nach eigenen Angaben nur Schutzlücken im Bereich der sexuellen Nötigung und Vergewaltigung schließen will, oder die noch für dieses Jahr angekündigte große Lösung, welche seit 2015 eine vom BMJV eingesetzte Expertenkommission erarbeitet: Bumke teilte Fischers Kritik, dass Erwartungen geweckt würden, die nicht erfüllt werden könnten: "Die Erwartungen, nicht nur der Öffentlichkeit, sondern auch von Frauenverbänden, kann eine solche Norm nicht halten. Es ist nicht zu erwarten, dass es mehr Verurteilungen geben wird, das wird nicht passieren. Die Beweislage bleibt schwierig, wird vielleicht sogar noch schwieriger."
3/3: Erhobenen Hauptes oder wie ein unmündiges Kind?
Laut Renate Künast geht es den Opfern von Sexualstraftaten, die sie recht pauschal stets als "Frauen" bezeichnete, obgleich viele Opfer sexuellen Missbrauchs - auch männliche - Kinder sowie nicht selten homosexuelle Männer sind, darum aber auch nicht. Situationen, in denen Aussage gegen Aussage stehe und Freisprüche in dubio pro reo, gebe es schließlich auch in anderen Bereichen.
Wichtig aber sei für die Frauen, die Opfer sexueller Gewalt werden, dass sie sich nicht ständig dafür erklären und rechtfertigen müssten, was sie selbst getan oder nicht getan hätten. "Das ist die zweite Erniedrigung. Wenn das Gericht aber nur sagt, dass es sich nicht entscheiden konnte, wem es mehr glauben soll, dann können Frauen erhobenen Hauptes den Saal verlassen und anders damit leben." Für die Grünen-Politikerin und zahlreiche Frauen-Verbände eine wichtige Grundbotschaft.
Für Thomas Fischer, der sich auf Künasts Diktion, stets die Frauen als Opfer anzusprechen, nur unter Protest einließ, würden dadurch "erwachsene, wehrhafte Frauen" vom Gesetzgeber mit paternalistischer Moral wie unmündige, gar behinderte Kinder behandelt. Die Sekretärin, die fürchtet, sonst ihre Probezeit nicht zu bestehen, und sich den sexuellen Wünschen ihres Chefs fügt, könne anders handeln, so der BGH-Richter. Es sei nicht strafwürdig, dass ein anderer mitmache, weil er ein Übel befürchtet, das nicht in Gewalt bestehe und nicht einmal angedroht wird. Der freie, mündige Mensch habe nicht nur ein Recht gegenüber dem Staat, frei und selbstbestimmt zu sein. Er habe auch die Pflicht, sich frei und selbstbestimmt zu verhalten. Es gebe keinen vernünftigen Grund dafür, das ausgerechnet und ausschließlich im Sexualbereich anders zu sehen.
Das einzige strukturelle Defizit der Frauen?
Es könnte aber, so sehr man - und vor allem frau - Thomas Fischer zustimmen möchte, möglicherweise genau dort einen Grund geben. Es gibt den sexuellen Missbrauch von - unstreitig höchstgradig schutzwürdigen - Kindern oder behinderten Personen jedweden Geschlechts, in der homosexuellen Szene sind Sexualstraftaten keine Seltenheit. Und dennoch ist die sexuelle Gewalt ein Teilbereich des menschlichen Lebens, der überwiegend Frauen betrifft. Und in dem Frauen evident strukturell unterlegen sind.
Dieses strukturelle Defizit liegt nicht nur an ihrer körperlichen Unterlegenheit, die eine Gegenwehr in aller Regel wenig erfolgversprechend erscheinen lässt. Es liegt zudem an der besonderen Erniedrigung, die mit der sexuellen Komponente der Gewalt einhergeht. Und es liegt nicht zuletzt an ihrer Sozialisation und Erziehung. Frauen lernen nicht, sich gegen Angriffe zur Wehr zu setzen, schon gar nicht mit körperlicher Gewalt. Frauen und Männer verhalten sich unterschiedlich, das steht heutzutage fest. Und dennoch: Soll das der Grund sein, den Abteilungsleiter für Jahre in Haft zu schicken, der von einvernehmlichem Gelegenheitssex mit der neuen Assistentin ausgeht? Wie konkret – und wie schlimm - müsste ein Übel sein, das er nicht einmal in Aussicht gestellt hat, sie aber dennoch befürchtet?
Es war Regierungsdirektorin Bumke, die zum Abschluss der Veranstaltung beim Deutschen Anwaltstag relativierte. Zwischen dem männlichen Verfechter des freien Willens der Frauen einerseits und der weiblichen Kämpferin für mehr Schutz von Frauen andererseits gab die Fachjuristin aus dem Ministerium zu bedenken, dass sie das von Fischer gezeichnete aufgeklärte Menschenbild zwar teile - aber es sei ein ideales.
Pia Lorenz, Reform des Sexualstrafrechts: Der freie Wille der Frauen . In: Legal Tribune Online, 06.06.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/19563/ (abgerufen am: 04.06.2023 )
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