Kaum eine andere Debatte bewegt aktuell die Briten so sehr, wie die Abstimmung zur Unabhängigkeit Schottlands am kommenden Donnerstag. Selbst die Queen sorgt sich über ein Auseinanderbrechen des Vereinigten Königreichs. Noch ist es vor allem ein lohnendes Geschäft für die Buchmacher. Aber auch die Anwaltschaft mischt bereits kräftig mit, erklärt André Niedostadek.
Queen Elisabeth II, bei politischen Themen in der Regel eher reserviert, bemerkte kürzlich in der Nähre ihres schottischen Sitzes Balmoral Castle, sie hoffe, die Menschen werden sehr sorgfältig über die Zukunft nachdenken. Angesprochen sind damit rund 4,3 Millionen Schotten und weitere Wahlberechtigte. Sie können am kommenden Donnerstag über die Unabhängigkeit ihres Landesteils abstimmen. Darauf hatten sich bereits im Oktober 2012 der schottische Regionalminister Alex Salmond und der britische Premier David Cameron verständigt. Die Abstimmung markiert den vorläufigen Höhepunkt zu mehr Eigenständigkeit. Zuletzt hatte Schottland 1997 im Rahmen einer Volksabstimmung unter anderem im Bereich der Justiz mehr Autonomie erhalten.
Unterschiedliche Rechtstraditionen
Rund 300 Jahre nach dem Zusammenschluss der beiden Königreiche von England und Schottland im Jahr 1707 könnte es mit dem Vereinigten Königreich von Großbritannien also bald passé sein. Ohnehin war die Verbindung seinerzeit mehr ein Zweckbündnis als eine Liebesheirat. Schottland lag damals quasi bankrott danieder. Ein paar Bestechungsgelder taten das Übrige, um das schottische Parlament zu bewegen, dem Zusammengehen zuzustimmen. Auf englischer Seite hatte man ganz andere Interessen. Man wollte vor allem der "Auld Alliance" zwischen Schottland und Frankreich, einem Jahrhunderte alten Defensivbündnis gegen England, einen Riegel vorschieben.
Unterschiede sind bis heute geblieben. So besitzen die einzelnen Länder – neben England und Schottland auch Wales und Nordirland – mehr oder weniger eigenständige Rechtssysteme. In England folgt man bekanntlich dem Common Law. Es kann auf eine bis in die Zeit nach der Einnahme Englands durch Wilhelm den Eroberer im Jahre 1066 reichende Tradition zurückblicken. Das darauf beruhende und maßgeblich durch Präzedenzfälle der Rechtsprechung geprägte Case Law gilt noch immer als zentrale Rechtsquelle, selbst wenn europäische Einflüsse zunehmend auch kodifiziertes Recht hervorgebracht haben.
Demgegenüber leistet sich Schottland seit jeher ein eigenes Rechtssystem als eine Mixtur aus verschiedenen Elementen. Die Wiederentdeckung des römischen Rechts auf dem Festland im 12. und 13. Jahrhundert war dabei mit prägend. Schottische Juristen, die ihre Ausbildung vor allem in Frankreich aber auch in den Niederlanden oder Deutschland genossen hatten, brachten entsprechende Einflüsse mit zurück. Daher steht das schottische Recht den Rechtssystemen Kontinentaleuropas heute noch immer nahe, auch wenn drei Jahrhunderte der politischen Union mit England manche Unterscheidung verwischt haben.
2/2 Klammern am Strohhalm
Viele Juristen in Schottland sehen das eigene Rechtssystem und die Gerichtsbarkeit durchaus als gut aufgestellt. Das mag auch ein Grund dafür sein, weshalb die Kampagne zur Unabhängigkeit von juristischer Seite verschiedentlich Unterstützung bekommt. Unter dem Label "Lawyers for Yes" haben sich beispielsweise Anwälte zusammengeschlossen, die auch Social Media-Angebote wie Twitter und LinkedIn für ihr Anliegen nutzen.
Die Unabhängigkeit, so die Hoffnung, soll vor allem dem lokalen Rechtsmarkt einen Schub bringen. Er ist weitestgehend regional ausgerichtet. Der eigentliche Kuchen wird im fernen London verteilt. Für den Norden bleiben allenfalls ein paar Krümel. Das soll sich durch die Unabhängigkeit und eine stärkere internationale Ausrichtung ändern: Neben dem grenzüberschreitender Handel im Allgemeinen setzt man vor allem auf Mandanten aus der für die Wirtschaft so wichtigen Öl- und Gasindustrie oder auch auf die Schiedsgerichtsbarkeit.
Andere sehen das Ganze etwas nüchterner. Zwar könnte eine Unabhängigkeit schon im Hinblick auf die Anpassung unzähliger Verträge kurzfristig durchaus viel juristisches Know-how erfordern. Auf der anderen Seite befürchtet man, dass aus der politischen Entwicklung ein Bumerang wird, wenn etwa Investitionen und damit auch die Nachfrage an juristischer Kompetenz ausbleiben. Nicht unbegründet scheint zudem die Sorge, schottische Unternehmen könnten nach England abwandern. Große Finanzdienstleister wie etwa die Royal Bank of Scotland, die während der Finanzkrise maßgeblich von England aus gestützt wurde, haben bereits entsprechende Überlegungen angekündigt.
Der Rechtsmarkt in Großbritannien ist aktuell ohnehin nicht eben rosig. Die britische Rolls Royce-Justiz trägt ihren Namen nicht ohne Grund. Sie ist sicher gut aber ohne das nötige Kleingeld auch nicht eben ein Schnäppchen. Zudem haben manche Kanzleien jüngste Einschnitte der Regierung im Bereich "Legal Aid" deutlich zu spüren bekommen. Insgesamt scheint die Nachfrage an Rechtsdienstleistungen eingeschränkt. Die großen Wirtschaftskanzleien sehen sich zudem einem ziemlichen Kostendruck ausgesetzt.
Viele offene Fragen
Wie auch immer das Referendum ausfallen wird, noch ist nicht aller Tage Abend. Sollten sich die Befürworter durchsetzen, wird Schottland keineswegs über Nacht unabhängig. Beide Regierungen haben sich verpflichtet, auch weiterhin konstruktiv zusammenzuarbeiten und zwar im besten Interesse der Bevölkerung in Schottland und dem Rest des Vereinigten Königreichs.
Schließlich wären eine Reihe von ganz grundlegenden Fragen zu klären, die juristischen Sachverstand erfordern. Wie soll eine Loslösung verfassungsrechtlich überhaupt aussehen? Und was gilt europarechtlich, wenn sich ein Landesteil von einem Mitgliedstaat der EU lossagt? In den europäischen Verträgen ist ein solcher Schritt, der bisher einmalig wäre, nicht vorgesehen. Sollte sich Schottland entschließen, ein eigenständiges Mitglied zu werden, wäre das wohl kurzfristig kaum möglich. Und wie steht es schließlich völkerrechtlich im Hinblick auf eine etwaige Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen?
Noch ist der Ausgang des Referendums völlig ungewiss. Beinahe täglich liegen Abspaltungsbefürworter- und -gegner abwechselnd vorne. Sollte man sich in Schottland für die Unabhängigkeit entscheiden, dann würden wohl noch im Herbst Verhandlungen über die künftigen politischen Beziehungen aufgenommen. Vor 2016, manche sagen auch 2017, würden aber sicher keine Fakten geschaffen. Das lässt vielleicht auch etwas Zeit zum Durchatmen. Immerhin feiert nächstes Jahr die wichtigste Quelle des englischen Verfassungsrechts ihren 800sten Geburtstag: Die Magna Charta von 1215.
Der Autor Prof. Dr. André Niedostadek, LL.M. lehrt Wirtschafts-, Arbeits- und Sozialrecht an der Hochschule Harz.
André Niedostadek, Referendum in Schottland: Arbeitsbeschaffung für Anwälte . In: Legal Tribune Online, 16.09.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/13197/ (abgerufen am: 01.06.2023 )
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