Der Richter im NS-Prozess gegen den SS-Sanitäter Hubert Zafke am LG Neubrandenburg widersetzt sich wiederholt dem OLG Rostock. Nun hat er einen Befangenheitsantrag und eine Anzeige wegen Rechtsbeugung am Hals.
In dem Prozess vor der Schwurgerichtskammer des Landgerichts (LG) Neubrandenburg gegen den ehemaligen SS-Mann Hubert Zafke (96) geht es um Beihilfe zum Mord in über 3.000 Fällen. Doch das Verhalten der Kammer unter Vorsitz von Richter Klaus Kabisch lässt diesen monströsen Fall langsam in den Hintergrund treten. Der Richter hat Entscheidungen des OLG Rostock in der Sache zweimal links liegen lassen.
Jetzt hat Thomas Walther, der Anwalt eines Nebenklägers, deshalb Anzeige wegen Rechtsbeugung erstattet. Die Staatsanwaltschaft Stralsund prüft die Aufnahme von Ermittlungen. Zudem hat auch die im Zafke-Verfahren anklagende Staatsanwaltschaft Schwerin Befangenheitsanträge gegen die Richter gestellt. Da ist es fast eine Petitesse, dass Kabisch von Prof. Cornelius Nestler, dem Anwalt des zweiten Nebenklägers, auch noch wegen Beleidigung angezeigt worden ist.
Neubrandenburger Springprozession
Der ehemalige SS-Sanitäter Hubert Zafke steht seit 2015 vor Gericht, weil ihm Beihilfe zum Mord in mindestens 3.681 Fällen in Auschwitz zur Last gelegt wird. Als Sanitäter habe er den arbeitsteiligen Vernichtungsprozess in dem KZ vom 15. August bis 14. September 1944 unterstützt, so die anklageführende Staatsanwaltschaft Schwerin.
Nebenkläger im Verfahren sind die Brüder Walter und William Plywaski aus Boulder in Colorado/USA. Gemeinsam mit ihrer Mutter, Regina Plywaski, und dem Vater waren sie nach Auschwitz deportiert worden. Noch am Tag der Ankunft, dem 15. August 1944, war die Mutter ermordet worden. Dieser 15. August ist der erste Tag des Tatzeitraums in der Anklage gegen Hubert Zafke.
Die Berechtigung zur Nebenklage von Walter Plywaski hat das Oberlandesgericht (OLG) Rostock insgesamt dreimal festgestellt: Zum ersten Mal im Anfangsjahr des Prozesses 2015. Doch dann widerriefen Richter Kabisch und Kollegen die Nebenklageberechtigung Anfang 2016, worauf prompt nach einer anwaltlichen Beschwerde die Aufhebung des Widerrufs durch das OLG erfolgte.
Daraufhin ließ das Landgericht auch den Bruder William Plywaski als Nebenkläger zu. Anfang 2017 kam es dann zur Wiederholung der Neubrandenburger Springprozession, nun bezogen auf beide Brüder: Die Richter widerriefen die Berechtigung beider zur Nebenklage.
Richter: Tatvorwurf nicht in der Anklage
Richter Kabisch argumentiert in dem Beschluss, mit dem die Nebenklageberechtigung Mitte Februar dieses Jahres widerrufen worden ist und der LTO vorliegt, sinngemäß wie folgt: die Anklageschrift umfasse keinen Tatvorwurf, der im Zusammenhang mit der Ermordung von Regina Plywaski stehe. Sie sei nicht in einem der in der Anklageschrift benannten Deportationstransporte gewesen.
Auch gebe der Schriftsatz keine Konkretisierungen für den Tag der Ermordung, den 15. August 1944. Die bloße Einbeziehung dieses Zeitraumes reiche nicht aus. Deshalb deutet für Kabisch außer dem Datum nichts konkret "auf einen Verfolgungswillen der Anklage" hin.
Mit der ablehnenden Begründung indes hat sich die Kammer Mühe gegeben: Auf über fünf Seiten führt sie u.a. aus, wie die Entscheidung des Bundesgerichtshofs im Fall Oskar Gröning auszulegen sei (BGH, Beschl. v. 20.09.2016, Az. 3 StR 49/16) und warum der Mord an Regina Plywaski und damit das Recht ihrer Söhne zur Nebenklage anders zu bewerten sei.
Keine Angst vor Vorwurf der Rechtsbeugung
Am Ende des LG-Beschlusses findet sich der Grund für die Anzeige wegen Beleidigung gegen Kabisch, die Prof. Nestler bei der Staatsanwaltschaft Stralsund erstattet hat. Nestler hatte im Januar die Beschlussankündigung des Gerichts mit einer Gegenargumentation beantwortet. Er warnte dabei vor möglicher Rechtsbeugung, falls der Beschluss verabschiedet würde. Kabisch bezeichnete nun diese Ansicht als "narzisstisch dominierte Dummheit". Hierzu - wie auch zu den anderen Vorwürfen - wollte Kabisch auf LTO-Anfrage keine Stellung nehmen.
Nebenklageanwalt Walther teilt Nestlers Ansicht. Kabischs Argumentation überzeugt ihn nicht: "Auch ohne die ausdrückliche Nennung des Transportes, mit dem die Mutter der Nebenkläger nach Auschwitz deportiert wurde, sind die Nebenkläger zu Recht im Prozess vertreten. Denn die in der Anklageschrift genannte Tat, die Beihilfe zum Mord, bezieht sich ausdrücklich auf einen Zeitraum, nicht auf einzelne Transporte."
Deshalb habe auch das OLG die Brüder Walter und William Plywaski als Nebenkläger zugelassen und in der ersten Aufhebung des Widerrufs der Nebenklageberechtigung für seinen Mandanten im Februar 2016 die Gründe dafür ausdrücklich genannt. "Auf der Basis, dass der angeklagte Zeitraum entscheidend ist, erfolgten auch die Urteile in NS-Prozessen in Lüneburg und Detmold", sagt Walther. Am LG Detmold war Reinhold Hanning wegen Beihilfe zum Mord in mindestens 170.000 Fällen zu fünf Jahren Haft verurteilt worden (Urt. v. 17.6.2017, Az. 4 Ks 45 Js 3/13-9/15). Am LG Lüneburg hatte der Prozess gegen Oskar Gröning stattgefunden (Urt. v. 15.07.2015, Az. 27 Ks 9/14, 27 Ks 1191 Js 98402/13 (9/14)).
2/2: Befangenheitsanträge auch von der Staatsanwaltschaft
Die Generalstaatsanwaltschaft Rostock teilt wesentliche Argumente der Nebenkläger in ihrer an das OLG gerichteten Stellungnahme von Ende Februar, die LTO vorliegt. Ihr leitender Oberstaatsanwalt Dr. Jürgen Garbe bezieht darin klar Stellung. Der Kammerbeschluss, der der OLG-Entscheidung nicht folgt, sei "gerade in einem Verfahren von einer derartigen rechtlichen und geschichtlichen Bedeutung nur schwer erträglich".
Für Garbe belegt außerdem die "Hartnäckigkeit, mit der die Kammer berechtigte Belange der Nebenkläger und ihrer Vertreter negiert", dass diese "nicht bereit oder in der Lage ist, den angeklagten Sachverhalt in richterlicher Unbefangenheit zu verhandeln". So hat denn auch Anfang April die anklageführende Staatsanwaltschaft Schwerin Befangenheitsanträge gegen die drei Richter der Kammer gestellt. Neben Kabisch sind das Richterin am LG Urte Brinkmann und Richter am LG Reinhard Elfers.
Auch das OLG Rostock teilt entscheidende Argumente Nestlers, wie aus dem Beschluss vom 28. Februar 2017 (Az. 120 Ws 69/17) hervor geht: Das OLG hebt auf die Beschwerde der beiden Nebenklägeranwälte den Beschluss des LG Neubrandenburg vom Februar auf. Das OLG führt dazu auch noch aus, im Fall von Walter Plywaski habe es keine Sachverhaltsänderung gegenüber dem Beschluss vom Februar 2016 gegeben, die evtl. zu einer Neubeurteilung der Berechtigung geführt haben könnte. Die alte Entscheidung für die Zulassung der Nebenklage habe demnach allein deshalb noch Gültigkeit.
"Der Gegenauffassung der Kammer, die die Beschwerdeentscheidungen des Senats offenbar für unbeachtlich hält, weil es sie aus Rechtsgründen für falsch erachtet, ist nicht zu folgen, weil sie letztlich zur Bedeutungslosigkeit des Rechtsmittelverfahrens führen würde", so das Gericht in seinem Beschluss.
Es sind wohl auch Äußerungen die diese, die Anwalt Walther zu dem Schluss kommen lassen: „Die Schriftsätze des Generalstaatsanwalts und des OLG Rostock lesen sich wie eine Aufforderung, dass jemand ein Rechtsbeugungsverfahren anstrengen möge.“
StA Stralsund prüft Einleitung des Verfahrens
Das hat Walther nun getan. Die Sache liegt bei der Staatsanwaltschaft Stralsund. Ein Sprecher teilte gegenüber LTO mit: „Wir prüfen, ob wir ein formelles Verfahren einleiten. Entgegen anders lautenden Medieninformationen ist dies also noch gar nicht geschehen." Die entsprechende Entscheidung wird nach Aussage des Sprechers erst in einigen Wochen gefällt.
Die Rechtslage sei kompliziert. Es gehe in der Anzeige um den Vorwurf, dass in Kenntnis der Gefahr der Rechtsbeugung vorsätzlich eine bindende Entscheidung getroffen worden sei, was ein eklatanter Verstoß gegen die Rechtsordnung wäre, so der Sprecher. Was die Sache auch noch erschwere, sei, dass die Anzeige sich gegen jeden der drei Richter individuell richte.
Es muss also untersucht werden, inwieweit jeder einzelne Richter Verantwortung trägt. Dazu muss man aber wissen, wie das Gremium z.B. abgestimmt hat. „Richter sind grundsätzlich aber nicht befugt, das Beratungsgeheimnis zu brechen“, so der Sprecher. Es gebe ein Spannungsverhältnis zwischen einem OLG und einem LG. Juristisch sei die Lage nicht ganz klar definiert. Berührt sei zudem der Aspekt der richterlichen Unabhängigkeit.
Das hohe Gut der richterlichen Unabhängigkeit
Die Einschätzung der richterlichen Unabhängigkeit als hohes Gut teilt Walther, der früher selbst Richter war. Aber er betont, dass es umso wichtiger sei, dass diese sachliche Unabhängigkeit auch Grenzen habe. "Dieser Umstand sichert, dass es nach Recht und Gesetz zugeht. Dem dient die Funktion des OLG gegenüber nachgeordneten Gerichten. Es geht nicht nach Lust und Laune eines Richters."
Für Walther geht es um "die Bindungswirkung, die OLG-Beschlüsse für ein Landgericht haben. Dazu gibt es keine zwei Meinungen". Sollte die Staatsanwaltschaft Stralsund dies auch so sehen, könnten sich die Kabisch und Kollegen bald auf der Anklagebank wiederfinden.
Eine erste Hauptverhandlung gegen Hubert Zafke gab es bislang an wenigen Tagen. Über die Frage der Verhandlungsfähigkeit des 96-Jährigen ging sie bisher nicht hinaus.
Till Mattes, NS-Prozess gegen Hubert Zafke: Im falschen Zug? . In: Legal Tribune Online, 14.04.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/22661/ (abgerufen am: 23.04.2024 )
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