Nachdem sich die erste Aufregung um die Fünfer-Runde der deutschen Autohersteller gelegt hat, ist noch nichts von einem Totalschaden für die Branche zu sehen. Das bleibt auch erst einmal so, erläutert Rupprecht Podszun die Hintergründe.
Wenn Kartellrechtler zu ihren berüchtigten Compliance-Schulungen in Unternehmen antreten, arbeiten sie gern mit dem Ampelmodell, wenn es etwa darum geht, die Zusammenarbeit mit Wettbewerbern zu bewerten. Sobald es über Small Talk hinaus ins Kommerzielle geht, sollen die Unternehmensvertreter, die die Kollegen der Konkurrenz bei Verbandssitzungen, auf Messen oder in einem Sterne-Restaurant treffen, an die Ampel denken. Grün: Weiterfahren. Gelb: Vorsicht! Rot: Sofort aussteigen und so rasch wie möglich das Weite suchen!
Ob Deutschlands Autokonzerne nun bei Rot über die Ampel gebrettert sind oder ob es eher eine lange Gelbphase war, ist für den Autofall, der vor knapp einer Woche für helle Aufregung sorgte, noch nicht ausgemacht. Bislang ist in der Öffentlichkeit vor allem bekannt geworden, dass Daimler nach Aufdeckung des LKW-Kartells (Geldbuße von 1,09 Milliarden Euro) umfassende kartellrechtliche Compliance-Maßnahmen unternommen hat und einen sog. Kronzeugen-Antrag bei der Europäischen Kommission als Wettbewerbsbehörde gestellt hat, möglicherweise auch beim Bundeskartellamt. VW scheint einige Zeit später das Gleiche getan zu haben. BMW tat offenbar nichts und die anderen beiden verrieten den Münchnern offenbar auch nicht, dass sie angehalten hatten. Damit kamen sie einer Auflage aus der Kronzeugenregelung nach.
Die Kronzeugenregelung ist das erfolgreichste Instrument der jüngeren Kartellrechtsgeschichte: Ein Unternehmen, das wettbewerbsbeschränkende Absprachen verpfeift, bleibt ohne Geldbuße. Dabei gilt ein strenges zeitliches Vorrangprinzip. Wer sich zuerst meldet, erhält den vollen Geldbußenerlass. Wer auch nur ein paar Minuten später dran ist (ein Phänomen, das häufig vorkommt, wenn Unternehmen anlässlich von Durchsuchungen ihre Bereitschaft zur Mitarbeit signalisieren), kann zwar noch profitieren, aber nur noch in deutlich geringerem Maße.
Die Kronzeugenregelung hat das Vertrauen in Kartelle nachhaltig untergraben, da der heimliche Ausstieg eines Mittäters strategisch eingesetzt werden kann. Das Kartell geht dann möglicherweise in einem für den Antragsteller wirtschaftlich günstigen Moment krachen – und die Wettbewerber werden mit hohen Geldbußen belegt, die Investitionen erschweren. Kein Wunder, dass Kartellbehörden, die früher in aufwändiger Puzzlearbeit Kartelle selbst ermitteln mussten, das Instrument lieben. So sehr übrigens, dass die EU-Kommission viel Wert darauf legte, in der Richtlinie zum Kartellschadensersatz den Kronzeugen vor Inanspruchnahme durch Geschädigte etwas zu schützen.
Besonderheiten der Kronzeugenanträge im Autofall
Im Fall der deutschen Autohersteller sind zwei Aspekte interessant, die die bisherige Berichterstattung noch nicht in den Blick genommen hat: Erstens werden solche Kronzeugenanträge in der Regel mündlich gestellt. Den Beamten der Generaldirektion Wettbewerb wird auf Band gesprochen, was man auf dem Herzen hat. Es wäre erstaunlich, wenn Daimler und VW dies anders gehandhabt hätten. Durch die mündliche Abgabe des Antrags entstehen erst gar keine Dokumente, die geleakt werden könnten. Die Brüsseler Beamten beginnen ihren Leitfaden zur Abgabe mündlicher Anträge übrigens mit dem Hinweis auf die Mittagspause von 13 bis 14 Uhr – first things first.
Zweitens ist es möglich, solche Kronzeugenanträge hilfsweise zu stellen, quasi für den Fall, dass unklar ist, ob überhaupt ein Kartell vorliegt. Mancher Konjunktiv in der Berichterstattung deutet darauf hin. Haben die Autokonzerne sicherheitshalber Verhaltensweisen gemeldet, bei denen noch Gelb auf der Ampel gezeigt wurde?
Demgegenüber steht allerdings das Risiko eines Kronzeugenantrags: Es droht allemal ein Reputationsverlust, die Reaktion der Wettbewerbsbehörde, die im Kartellrecht mit Aufgreifermessen und vielen unbestimmten Rechtsbegriffen hantiert, ist unberechenbar. Zudem haben dem Vernehmen nach einige der besten Kartellrechtsanwälte in dieser Sache beraten. Eine grundlos überzogene Selbstbezichtigung dürfte insofern auch bei einem Unternehmen nicht vorliegen, das durch eine Milliardengeldbuße aufgescheucht wurde.
Im Verfahren folgt einem Kronzeugenantrag oft ein "dawn raid" bei den angezeigten Mittätern, also extrem kurzfristige Durchsuchungen. Von einem solchen war in den Medien aber bislang nichts zu lesen. Berichtet wurde lediglich von einer Durchsuchung bei VW. Die soll aber einem Stahlkartell gegolten haben, bei dessen Prüfung es einen Zufallsfund gab, der wiederum zu den Arbeitskreisen der Automobilisten geführt haben soll.
2/2: Gesetzliche Grundlagen – welches Recht verbietet was?
Die Fundstücke aus solchen Durchsuchungen sind an Art. 101 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) und § 1 Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) zu messen. Europäisches und deutsches Kartellrecht sind im Bereich wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen parallel anwendbar. Das europäische Recht ist auf jeden Fall anzuwenden, soweit der zwischenstaatliche Handel spürbar berührt ist – diese ohnehin großzügig bejahte Voraussetzung ist im vorliegenden Fall unproblematisch gegeben.
Dem Vernehmen nach liegt der Fall bei der Europäischen Kommission. Das hätte auch anders ausgehen können. In einem internen Fallverteilungsmechanismus ("European Competition Network") machen die Europäische Kommission und die nationalen Behörden aus, wer zuständig wird. Wenn das Bundeskartellamt tätig würde, würde es europäisches Recht direkt anwenden.
Im Wesentlichen geht es um die Frage, ob die in vielen Branchen üblichen Arbeitskreise die Grenzen des Kartellrechts einhalten. Art. 101 AEUV ist eine zentrale Schutznorm der Marktwirtschaft: Unternehmen müssen sich im Wettbewerb messen, statt ihr Marktverhalten zu koordinieren. Art. 101 Abs. 1 AEUV sieht daher ein schnittiges Verbot aller wettbewerbsbeschränkenden Absprachen vor. Rechtsfolge bei Verstoß: Nichtigkeit, Untersagung, Geldbußen, Schadensersatzansprüche. Der dritte Absatz regelt aber wortreich eine Ausnahme. Die Absprache ist freigestellt, wenn sie unerlässlich ist zur Schaffung von Effizienzgewinnen, die den Verbrauchern zugutekommen. Die Unternehmen sind dafür nachweispflichtig. Sich auf diese Ausnahme (und die ergänzenden Gruppenfreistellungen) zu berufen, ist aber in etwa so erfolgversprechend wie der Versuch, auf der A3 zwischen Oberhausen und Köln einmal zügig durchzukommen.
Innovationswirkung rechtlich schwierig greifbar
Für den aktuellen Fall spielt dabei eine Rolle, dass die kartellrechtliche Praxis in den vergangenen Jahren zu wenig auf Innovationswirkungen von Absprachen geachtet hat. Mit Preiserhöhungsrunden oder den hier ebenfalls im Raum stehenden Nachfragekartellen gegenüber Zulieferern können Kartellrechtler umgehen. Aber was gilt, wenn sich Hersteller über technische Lösungen unterhalten? Wo verläuft die Grenze zwischen einem noch unbedenklichen Know-How-Austausch und einer verbotenen Abstimmung zur Innovationsverhinderung?
Die Anforderungen an Standardisierungs-, Forschungs- und Entwicklungskooperationen sind eher streng. Fälle dazu, die praktische Orientierung bieten, sind aber Mangelware. Der Autofall passt in den Zeitgeist, denn die Verhinderung von Innovationsblockaden ist derzeit ein angesagtes Thema des Kartellrechts: Die EU-Kommission hat im Chemie-Fusionsfall Dow/Dupont in diesem Jahr nach eigenen Angaben eine Schadenstheorie ("theory of harm") entwickelt, die sich um Innovationen dreht. Auf die Veröffentlichung der Entscheidung wird gespannt gewartet.
Warum sich erst einmal wenig tun wird
Es dauert alles. Hersteller MAN hatte beispielsweise im September 2010 einen Kronzeugenantrag wegen des LKW-Kartells gestellt, im Januar 2011 stellte die Kommission Durchsuchungen an. Erst 2014 versendete sie die Mitteilung mit ihren Vorwürfen an die Unternehmen, 2016 erging die Entscheidung. Auch der Fall der Fünfer-Runde um Daimler, BMW, VW, Audi und Porsche wird noch einige Zeit verschlingen. Ob am Ende dann die saftigste Geldbuße aller Zeiten steht - die Trophäe hängt derzeit bei Google für eine Rekordstrafe von 2,42 Milliarden Euro - oder ob eine eher moderat bebußte Entscheidung ergeht, in der das Feld für technische Arbeitskreise und Innovationsbeschränkungen vermessen wird, ist noch nicht absehbar.
Solange bleibt auch offen, welche Möglichkeiten sich aus dem Fall für Geschädigte ergeben. Denn die werden mit Schadensersatzklagen vor allem erfolgreich sein, wenn sie diese als "follow-on"-Klagen geltend machen: Nach § 33b GWB ist das Gericht an die Feststellungen einer kartellbehördlichen Entscheidung gebunden. Schadensersatzklagen wurden im deutschen Recht zudem gerade durch großzügige Auskunftsregeln in § 33g GWB erleichtert. Der Nachweis des individuellen Schadens bleibt aber ein großes Problem, gerade in Innovationsfällen.
Komplexe Fälle lassen sich eben oft nicht mit sympathischen Ampelmännchen in drei Farben lösen. So wird der Fall, der natürlich auch in seiner industriepolitischen Dimension nicht unterschätzt werden darf, zu einem rechtspolitischen Impuls: Die Diskussionen über Sammelklagen, behördlichen Verbraucherschutz und die Kriminalisierung von Kartellrechtsverstößen im deutschen Recht hat bereits Fahrt aufgenommen.
Der Autor Prof. Dr. Rupprecht Podszun ist Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, deutsches und europäisches Wettbewerbsrecht an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und dort Direktor des Instituts für Kartellrecht.
Prof. Dr. Rupprecht Podszun, Deutsche Autohersteller unter Kartellverdacht: Zwischen Freifahrtschein und Totalschaden . In: Legal Tribune Online, 27.07.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/23665/ (abgerufen am: 29.03.2024 )
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